Ukraine-Krieg: Wie geht es weiter für Europa?
Seit dem 24. Februar versucht Russland, die Ukraine einzunehmen - bisher ohne Erfolg und mit katastrophalen humanitären Folgen. Während Russland und die Ukraine in Istanbul über einen möglichen Waffenstillstand verhandeln, zeichnet die europäische Presse unterschiedliche Szenarien für die Zeit nach dem Krieg.
Nicht vom Kurs abkommen
Eesti Päevaleht plädiert für weitere Entschlossenheit im Kampf gegen Putin:
„Nachdem US-Präsident Joe Biden am Samstag in Warschau über Wladimir Putin sagte 'Um Gottes Willen, dieser Mann sollte nicht an der Macht bleiben', ging eine peinliche Entschuldigungs- und Kritikwelle unter den Politikern in den USA und Europa los. Vor einem Monat haben wir uns gefreut, dass Politiker in West-Europa endlich verstanden haben, dass sie sich in Putins Russland geirrt haben und dass das Baltikum und Polen Recht hatten mit ihren Warnungen. Wir haben uns zu früh gefreut - die Erklärungsarbeit muss weiter gehen. Biden hat eine richtige moralische Bewertung an Putin gegeben. Die einzige 'Ausfahrt' für Putin muss direkt vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag führen.“
Noch hat Putin nicht verloren
Die Anpassung der Kriegsziele an die Realitäten könnte dem Kremlchef das politische Überleben sichern, meint das Handelsblatt:
„Wenn Putin einen Waffenstillstand erreicht, mit dem er faktisch einen mehr oder weniger großen Teil aus der Ukraine herauslöst, wenn er zudem durchsetzt, dass Kiew wie bereits angeboten das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft aufgibt - dann hätte er mit seinem Angriffskrieg zwei Etappenziele seiner Großmachtträume erreicht, die ihm auch innenpolitisch beim Überleben helfen werden. Dass er für dieses Ziel Tausende von Menschenleben geopfert und die Wirtschaft seines Landes ruiniert hat, mag uns im Westen als aberwitzig hoher Preis erscheinen. In der Logik eines Wladimir Putin ist das nicht zwangsläufig so.“
Ein Marshall-Plan für Russlands Europafreunde
Bernard Guetta, Journalist und EU-Parlamentarier der liberalen Fraktion Renew Europe, fordert in einem Gastbeitrag in La Repubblica die Union auf, schon jetzt an die Zeit nach dem Krieg zu denken:
„Die EU wäre auch in der Lage, die Entwicklung ihres russischen Nachbarn zu beeinflussen, indem sie dessen neuen städtischen Mittelschichten und jenem großen Teil der herrschenden Kräfte, die im nordkoreanischen Modell oder in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit China keine Zukunft mehr sehen, nie dagewesene und greifbare Perspektiven eröffnet. Die Union muss den Russen eine gemeinsame Zukunft vorschlagen und sie schon heute skizzieren, um ihnen einen anderen Horizont zu eröffnen als den langen Abstieg in die Hölle, in die sie die Niederlage Putins nun führen wird.“
Das Erstarken der Türkei
Die Türkei profitiert politisch vom Krieg in Europa, kommentiert die regierungstreue Star:
„Der Beitrag der Türkei zur Stabilität des Kaukasus und des Balkans wird noch deutlicher werden. Die Vorfälle, die sich heute bei unseren nördlichen Nachbarn ereignen, werden Folgen für unsere Innenpolitik haben. Die öffentliche Meinung in der Türkei nimmt wahr, dass das Land in einer mehrachsigen Welt eine bedeutende Rolle übernommen hat und eine regionale Macht geworden ist. Das Risiko, dass zu dem Chaos in unserer Region auch noch ein innenpolitisches Chaos kommen könnte, würde sogar den patriotischen Gruppen in unserer Opposition missfallen. Die starke, entschlossene und auf das globale Gleichgewicht Einfluss nehmende Haltung der Türkei während dieses Übergangs wird als eine unverzichtbare Chance begriffen./zitat>
Wir stecken im Sumpf
Naftemporiki schreibt:
„Einen Monat nach dem Angriff von Wladimir Putin auf die Ukraine sind vor allem die Völker Europas angesichts der Schrecken des Krieges in einem Sumpf versunken. Und was noch schlimmer ist: Wir wissen, dass ein Waffenstillstand nicht wahrscheinlich ist. Zumindest nicht sofort. Der russische Präsident weigert sich, das Scheitern seiner Pläne zuzugeben. Trotz der schweren Verluste bereitet er den nächsten Angriff vor, mit neuem Material und neuen Soldaten. Der lange Zermürbungskrieg wird wahrscheinlich weitergehen. ... Zumindest so lange, bis Moskau entschieden hat, welche Mittel für die neue Offensive eingesetzt werden sollen und wie die Erfolgsaussichten sind. ... Zugleich überlegt der Westen, wie weit die Nato gehen kann, ohne einen Weltkrieg zu riskieren.“
So oder so kommen harte Zeiten
Unabhängig vom Ausgang künftiger Verhandlungen wird Europa viel verlieren, meint Primorske novice:
„Die Hauptfragen der Verhandlungsführer werden sein, was die Ukrainer bereit sind, den Russen zu überlassen, zu welchen Wiedergutmachungen Putin für seine Verbrechen bereit ist, damit er nicht vor ein internationales Gericht gestellt wird, und wie Russland für den (rein) materiellen Schaden aufkommen wird, den es der Ukraine zugefügt hat. Unabhängig vom Ausgang wird Europa der große Verlierer dieser Krise sein. Neben der Flüchtlingslast wird es die Last der Wirtschaftssanktionen und teurerer Energie tragen. Den höchsten Preis wird Europa mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben tragen, und wir leben mit dem Bewusstsein, dass wir nicht weit entfernt einen verwundeten Bären haben.“
Putin wird die Ukraine nicht reichen
Die rumänische Wochenzeitung Observatorul Cultural glaubt, dass der Kremlchef auch andere Länder einnehmen will:
„Putin betrachtet die Ukraine als Teil des russischen Raumes, und in diesem Raum zählen Opfer nicht, es zählt nur das Endziel: die Zerstörung der Ukraine als Staat. Putin wird hier nicht stoppen, er wird denken, dass auch andere Territorien 'die seinen sind' und die Russlands. ... Es kann vielleicht die Republik Moldau treffen, vielleicht die baltischen Staaten. Das Signal dazu hat er bei seinem Auftritt [vorigen Freitag] im Moskauer Stadion gegeben. ... Die Situation ist beängstigend: Wir sind Zeugen der Sprengung aller Nachkriegsabkommen.“
UN-Vetorecht endlich reformieren!
Kofi Annan hatte 2006 vorgeschlagen, das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat bei UN-Einsätzen in Konflikten mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuheben, was die fünf ständigen Mitglieder ablehnten. Das rächt sich nun, klagt der frühere UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler in Le Courrier:
„Aufgrund des russischen Vetos gibt es in der Ukraine keinen einzigen Blauhelm auf einer ausgehandelten Waffenstillstandslinie, keine humanitären Korridore unter internationaler Kontrolle, kein Flugverbot für Militärmaschinen über Wohngebieten. Keines der zahlreichen Instrumente zur Sicherung der kollektiven Sicherheit kann von der internationalen Gemeinschaft eingesetzt werden. … Wo ist die Hoffnung? Sie liegt im Aufstand der Gewissen der Völker der Vereinten Nationen, in ihrem Willen, die radikale Reform des Sicherheitsrats endlich einzufordern.“