Wahlen in Ungarn: Was steht auf dem Spiel?
Am Sonntag wählt Ungarn ein neues Parlament. Oppositionsführer Péter Márki-Zay tritt gegen den seit 2010 regierenden Premier Viktor Orbán an. Dieser galt bis zum Krieg als enger Verbündeter Putins. Den Sanktionen gegen Russland stimmte er zwar zu, blockierte aber Waffenlieferungen über die ungarische Grenze an die Ukraine. Europas Presse malt sich ganz unterschiedliche Zukunftsszenarien aus.
Orbáns Staatskonstrukt ist kaum beizukommen
Ohne Zwei-Drittel-Mehrheit der Opposition würde viel vom System Orbán trotz Wahlniederlage bleiben, erklärt der Historiker Péter Techet in einem Gastkommentar in der Wiener Zeitung:
„Korrupte Länder gibt es viele. In Ungarn konnte sich aber ein Clan der staatlichen Institutionen derart bemächtigen, dass die Korruption rein juristisch gesehen sogar gesetzeskonform verläuft, weil die Gesetze vorher dem politisch-kriminellen Willen angepasst werden und die Kontrollinstitutionen, wie die Staatsanwaltschaft, ihren Aufgaben nicht nachgehen. Sollte Fidesz tatsächlich die Wahl verlieren, könnte dies im besten Fall das System erodieren lassen. Andernfalls stünde eine neue Regierung hilf- und mittellos einem Orbán'schen 'deep state' gegenüber, der das Land weiterhin fest im Griff hätte.“
Fidesz' Modell darf keine Nachahmer finden
Orbán zeigt Spaniens Rechtspopulisten von Vox, wie man eine Demokratie demontiert. Das findet El Mundo beunruhigend:
„Nachdem er 2002 die Macht verloren hatte, kandidierte Orbán 2010 in der Überzeugung, dass er nur ein einziges Mal gewinnen müsse, aber das mit Erfolg. ... Von da an hat er die Institutionen friedlich und legal aufgelöst, um zu verhindern, dass eine andere Partei ihn besiegen kann. Reformen folgten in rascher Folge, bis die Verfassung zu einem wertlosen Fetzen geworden war. ... Um diesem Stillstand zu entkommen, gibt es zum ersten Mal eine einzige, übergreifende Kandidatur, die dem Land die Demokratie zurückgeben will. ... Gelingt dies nicht, werden sich populistische Parteien wie Vox noch stärker auf das ungarische Modell stützen.“
Das Land steht an der Wegscheide
Setzt Orbán seine Spaltungspolitik fort, könnte dies sogar einen EU-Austritt einleiten, befürchtet Hospodářské noviny:
„Drei von vier Visegrád-Mitgliedern unterstützen massiv den Kampf der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Das prorussische Trojanische Pferd in EU und Nato, Viktor Orbán, gibt vor, dass der Krieg Ungarn nichts angehe und dass man für das Land den Frieden sichern müsse. ... In einer vierten Amtszeit könnte er aber wegen der Kriegsfolgen nicht mehr wie ein großer Freund Russlands dastehen. Zumindest wenn er mit westlichen Demokratien zusammenarbeiten will. In Ungarn spekulieren einige Analysten, dass Budapest entweder demütig näher an die EU und die Nato heranrücken wird oder dass der Prozess des Austritts Ungarns aus der EU beginnt.“
EU muss sich auf Veto vorbereiten
Die EU muss sich gegen die Fidesz-Politik wehren, fordert der Politologe Péter Krekó in România liberă:
„Wenn Orbán nach den Wahlen vom 3. April an der Macht bleibt, wird er den Westen damit bedrohen, dass er die Einigkeit der Sanktionen durchbricht und sie als Druckmittel bei künftigen Entscheidungen des Europäischen Rates einsetzt und seine sogenannten Verbündeten mit einem Veto erpresst. … Das Wichtigste ist daher jetzt, dass die EU diese Bedrohung erkennt und gegen sie vorgeht. Zwei Schritte wären sofort nötig: Verhängung von Sanktionen gegen Ungarn und die Bekämpfung staatlich geförderter, pro-russischer Desinformation, ... die versucht, die Einheit der Allianz zu unterwandern.“
Die geeinte Opposition könnte es schaffen
Für Tygodnik Powszechny ist der Wahlsieg Orbáns keine ausgemachte Sache:
„Er wird von einem Bündnis fast aller Oppositionsparteien herausgefordert, von der Rechten über die Liberalen und die Grünen bis zur Linken. Heute überrascht es niemanden mehr, dass die Fahnen der ehemals rechtsextremen Jobbik und der postkommunistischen Ungarischen Sozialistischen Partei bei Demonstrationen nebeneinander wehen. Vor einem Jahrzehnt waren sie noch erbitterte Gegner, heute sind sie vereint gegen Fidesz. Was sie eint, ist weniger ein Programm als vielmehr die politische Notwendigkeit: Einzeln wäre keine dieser Parteien in der Lage, die über Jahre aufgebaute Hegemonie Orbáns zu gefährden.“
Das Volk wird sich für Europa entscheiden
Wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion steht Ungarn nun erneut vor der Wahl zwischen dem Osten oder dem Westen, analysiert der Publizist Károly Herényi in Népszava:
„Die ungarische Bevölkerung ist nicht dumm. Sie wird nicht auf der Grundlage von Fake News, sondern auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen entscheiden. Die Entscheidung der Ungarn wird Orbán schmerzen. Vor 32 Jahren hat sich das ungarische Volk für Europa entschieden. Orbán will uns zu dem Punkt zurückwerfen, den wir vor drei Jahrzehnten verlassen haben. Am 3. April werden die Ungarn wieder Europa wählen.“
Nicht unser Krieg
Magyar Hírlap veröffentlicht einen Kommentar von Ervin Nagy, einem Analytiker des regierungsnahen Forschungsinstituts XXI. Század Intézet:
„Man hätte es vermeiden können, aber die Opposition hat sich destruktiv verhalten und den Krieg zum Wahlthema gemacht. Unsere Vergangenheit, unsere Geschichte lehrt uns, dass wir uns aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten müssen. ... Es steht viel auf dem Spiel. ... Wer will Frieden, und wer würde das Land eher in einen Krieg hineinziehen? Das ist hier die Frage!“
Der x-te Gesinnungswandel
Die Wählerschaft des Fidesz ist gespalten, beobachtet Népszava:
„Die russische Agression hat in der bisher einheitlichen [Fidesz-]Wählerschaft zu Verwirrung geführt. Als Premier des Nato-Mitglieds Ungarn musste sich Viktor Orbán notgedrungen den Stellungnahmen anschließen, in denen Moskau verurteilt wurde. ... Nach zwölf Jahren russlandfreundlicher Propaganda wissen nicht mal die Anhänger Orbáns, wie sie diesen x-ten Gesinnungswandel ihres vergötterten Führers behandeln sollen.“
Die Stunde der alten Hasen
Orbáns Erfahrung kann ihm jetzt erst recht Vorteile gegenüber seinem Konkurrenten verschaffen, glaubt die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet:
„Ausgerechnet jetzt will der Bürgermeister einer Kleinstadt, der erst seit ein paar Jahren in der Politik ist, Premier werden. ... 1999 hat die Nato Serbien nur wenige Wochen nach dem Beitritt Ungarns bombardiert. Für Orbán, der damals mit 36 Jahren ein Neuling als Premier war, war dies bestimmt ein für alle Zeiten prägendes Erlebnis. ... Jetzt wird nach fast einem Vierteljahrhundert zum zweiten Mal auf die Hauptstadt eines Nachbarlandes geschossen. Wir erleben Zeiten, in denen der Vorteil bei denjenigen liegt, die - wenn auch nur symbolisch - schon einmal Kanonenpulver gerochen haben.“