Brasiliens Präsident: Warum so Moskau-freundlich?

Brasilien versucht sich wie China als Vermittler im Ukraine-Krieg. Seine Vorschläge: keine Waffenlieferungen, Verzicht Kyjiws auf die Krim und eine "Friedens-G20" für Verhandlungen. Von USA und EU forderte Präsident Lula, sie müssten "aufhören, den Krieg zu fördern und anfangen, über Frieden zu reden". Russlands Außenminister Lawrow zeigte sich bei seinem Brasilien-Besuch erfreut.

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Financial Times (GB) /

Eine Frage der Wirtschaft

Lulas Nähe zu China und seine Russland-freundlichen Worte überraschen Financial Times nicht:

„Lula hat mit Xi übereinstimmende Standpunkte in Sachen globale Politik gefunden: die Verringerung der Dominanz des Dollars, die Verschiebung ökonomischer Macht zu Gruppen wie BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und die Kritik an den USA für die Förderung des Krieges in der Ukraine. ... Chinas geopolitische Rivalen in Washington und Brüssel – und Paris – sollten sich aber mehr Sorgen über die direkte Hilfe machen, die Brasilien von chinesischen Unternehmen angeboten wird. Viele Schwellenmärkte befinden sich in einer ähnlichen Position wie Brasilien. Ihre Loyalität wird genauso oder noch mehr von Investitionen und Jobs abhängen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Lula bringt sein Land wieder aufs globale Tapet

Brasilien fährt traditionell zweigleisig, versichert die Neue Zürcher Zeitung:

„Es geht nicht darum, Lulas Position gutzuheissen, sondern sie zu verstehen. Brasilien pflegt eine lange Tradition der Neutralität zwischen den grossen weltpolitischen Blöcken. ... Nach dem Mauerblümchendasein Brasiliens unter seinem Vorgänger sucht Lula wieder eine wichtige weltpolitische Rolle für sein Land. Er glaubt, das Maximum ... herauszuholen, wenn er zwischen dem Westen und China laviert und so grösstmögliche Handlungsfähigkeit erhält. ... Man sollte sich von der jüngsten Charmeoffensive Lulas gegenüber Peking und Moskau nicht blenden lassen. Der Brasilianer ist ein zu gewiefter Geopolitiker, als dass man befürchten müsste, er würde sich einseitig an die autoritären Grossmächte binden.“

Gordonua.com (UA) /

Damit müssen wir leben

Die Ukraine muss mit der Tatsache, dass sich Länder wie Brasilien nicht mehr von den USA gängeln lassen wollen, klug umgehen, meint der frühere ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin auf gordonua.com:

„In der nicht-westlichen Welt gibt es eine tief verwurzelte Abneigung gegen den Westen im Allgemeinen und gegen die Vereinigten Staaten im Besonderen. Im Moment haben sie das Gefühl, dass sie die Chance haben, sich von der 'Vormundschaft' der Vereinigten Staaten und des Westens zu befreien. ... Das bedeutet nicht, dass es nicht notwendig ist, mit den Chinesen oder Brasilianern zu sprechen. Ganz im Gegenteil. Aber wir sollten keine 'Vermittlungsgruppen' mit unklarem Mandat schaffen, die eine eigene Agenda haben, die sich grundlegend von der unseren unterscheidet.“

Visão (PT) /

Entfremdung von Europa

Visão wirft dem brasilianischen Präsidenten Anbiederung an Russland vor:

„Lula da Silva sollte Selenskyj bitten, Bachmut oder Butscha und so viele andere Orte des Todes und der totalen Zerstörung besuchen zu können. Statt russische Soldaten zu ehren, sollte der brasilianische Präsident vor den Massengräbern knien, in denen massakrierte unschuldige Zivilisten, Alte, junge Leute und Kinder liegen. Es ist bekannt, dass Lateinamerika nichts mit den Ereignissen in Osteuropa zu tun hat und auch nicht mit der ständigen Bedrohung durch eine Atommacht lebt, aber diese Entfremdung wird die Kluft zwischen den beiden Kontinenten nur noch größer machen.“

Krytyka Polityczna (PL) /

Auf demselben Irrweg wie der Papst

Auch Krytyka Polityczna bringt kein Verständnis für Lula auf:

„Man kann in Anbetracht seiner Biografie und der Geschichte der lateinamerikanischen Linken sogar verstehen, dass Brasiliens Präsident gegenüber der US-Führung skeptisch bleibt und dass er mit der düsteren Realität des russischen Imperialismus vielleicht einfach nicht vertraut ist. ... Lulas völlige Blindheit gegenüber der Frage, wer einmarschiert ist und wer überfallen wurde, sein Unvermögen zu erkennen, dass die Ukraine einen gerechten Verteidigungskrieg führt, ist aber selbst angesichts dieses Kontextes erstaunlich. In dieser Hinsicht ähnelt Lula einem anderen charismatischen Führer aus Lateinamerika, Papst Franziskus. Beide zeichnen sich durch dieselbe gedankenlose Gleichsetzung, einen naiven Pazifismus und Ignoranz gegenüber den Realitäten in unserer Region aus.“

taz, die tageszeitung (DE) /

Auf der Seite des Aggressors

Für einen Linken ist Lulas Positionierung moralisch und politisch eine Bankrotterklärung, empört sich die taz:

„Antiimperialistische Solidarität mit einem überfallenen Land? Pustekuchen. Lula behauptet, er wolle unter keinen Umständen Teil eines neuen Kalten Krieges werden. Aber seine anbiedernde Kritiklosigkeit gegenüber seinem russischen Gast macht ihn genau dazu. Lulas Gerede vom 'Friedensclub' für die Ukraine, den er gründen wolle, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich de facto auf die Seite des Aggressors geschlagen hat. Putin wird es freuen.“

NRC (NL) /

Anti-West-Kurs kommt nicht von ungefähr

Ein gewisses Verständnis für Lula zeigt der Politologe Luuk van Middelaar in seiner Kolumne in NRC:

„Das Verhältnis [Brasiliens] mit Moskau und Peking beruht nicht nur auf wirtschaftlichem Interesse. Daraus spricht auch der Wunsch nach Autonomie. Zu oft vergessen wir in Westeuropa, wie sehr Lateinamerikas jüngste Geschichte gezeichnet ist von der Unterstützung der US-amerikanischen CIA für eine ganze Serie von Machtergreifungen, Junta-Regimen und Diktatoren in den Jahren 1960 bis 1980. … Solche bitteren Erinnerungen nehmen Bidens Demokratie-Diskurs den Glanz und sind der Ansatz für eine kühle Abwägung der Interessen.“