Wahlen in der Türkei: Kontinuität oder Aufbruch?
Kurz vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei am 14. Mai zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab: Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu hat mit seinem Oppositionsbündnis realistische Chancen, den seit Langem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP zu schlagen. Auch Kommentatoren verfolgen den Zweikampf mit Spannung.
Herausforderer lassen sich nicht provozieren
In der Türkei mehren sich Angriffe auf die Opposition und ihre Anhänger. Doch die bleiben zum Glück ruhig, beobachtet Yetkin Report:
„Das Gebäude der İYİ-Partei in Istanbul wurde beschossen; man sagte, der Wachmann einer Baustelle hätte einen Dieb vertrieben. Marodeure bewarfen Ekrem İmamoğlu und seine Anhänger in Erzurum mit Steinen, es gab 17 Verletzte. In Mersin wurde ein Wahlkampfbus der Yeşil Sol Partei angegriffen, 5 Verletzte. ... Doch schlechte Nachrichten für [den Präsidentenpalast in] Beştepe: Die Opposition ist sich der Provokation bewusst und geht nicht darauf ein. ... İmamoğlu redet davon, 'diejenigen, die Steine werfen, mit Rosen zu bewerfen'.“
Erdoğan sollte zur Ruhe aufrufen
Viele Türken diskutieren derzeit so heftig wie nie darüber, ob die Wahlen fair und sicher ablaufen, bemerkt Hürriyet:
„Seien wir ehrlich, dieses Thema ist durch Äußerungen einiger Politiker des Regierungsflügels in den letzten Wochen in den Vordergrund gerückt. ... Das haben wir bei früheren Wahlen so nicht erlebt. Man kann sogar sagen: Abgesehen von Militärputschen und Interventionen waren in den 73 Jahren nach 1950 die durch Wahlergebnisse entstandenen Regierungswechsel allgemein kein Grund zur Diskussion. ... Damit diese Wahl in einer friedlichen Atmosphäre stattfinden kann, wäre es sehr vorteilhaft, wenn Staatspräsident Erdoğan in der zweiten Hälfte dieser Woche bei Beendigung seines Wahlkampfes die Botschaft 'Lasst den politischen Wettbewerb nicht in Feindschaft umschlagen' stark betonen würde.“
Neue Chancen für EU
Ein Sieg der Opposition würde einige Türen öffnen, analysiert Le Monde:
„Die EU könnte die schon lang existierende Zollunion mit der Türkei modernisieren und auf Dienstleistungen ausweiten. Sie könnte sogar eine völlige Visafreiheit einführen und die Türkei an Energieprojekten im Mittelmeerraum beteiligen, um den Streitigkeiten mit Griechenland entgegenzuwirken. Und nicht zu vergessen wäre eine Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft möglich.“
Europa darf Türken nicht hängen lassen
Ein Sieg von Kemal Kılıçdaroğlu wäre ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht mehr, mahnt NRC-Kolumnistin Aylin Bilic:
„Es ist für die EU von großem Interesse, dass sich das Nachbarland Türkei zu einer stabilen Demokratie entwickelt, mit einer zuverlässigen Innen- und Außenpolitik und wieder gesunden Wirtschaft. ... Europa hat keine Wahl. Wenn es die Türkei hängen lässt, ist die Gefahr, dass Erdoğan zurückkehrt, um ein Vielfaches größer - wodurch Wirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie noch weiter abdriften würden und ein noch größerer Exodus von der Türkei nach Europa in Gang käme, als es jetzt schon der Fall ist.“
Europa eines Besseren belehren
Westliche Beobachter trauen den Türken keinen Wandel zu, analysiert T24:
„Weil sie die Türkei sowohl als östlich als auch als muslimisch betrachten, können sie sie nicht mit Demokratie in Verbindung bringen. Erdoğans Türkei war in gewisser Weise der Beweis ihrer Ansichten. Während sich die Türkei von der Demokratie entfernte, schuf das für sie eine Komfortzone, da sie nicht mehr über den Platz der Türkei in Europa nachdenken mussten. Deswegen haben sie jetzt Schwierigkeiten, diese Komfortzone zu verlassen. ... Käme es am 14. Mai zu einem Regierungswechsel, wäre es ein wichtiger Beweis, dass ein Ein-Mann-Regime mit Wahlen gestürzt und eine überwiegend muslimische Gesellschaft demokratische Reflexe zeigen kann.“
Erdoğans Niederlage könnte Schweden nützen
Das Wahlergebnis könnte Auswirkungen auf Schwedens Nato-Beitritt haben, den die Türkei bisher blockiert, glaubt Göteborgs-Posten:
„Sollte die Opposition die Wahl gewinnen, ist es möglich, dass Schwedens Antrag noch vor dem Nato-Gipfel im Juli vom türkischen Parlament genehmigt wird. ... Wird Erdoğan im Falle einer Niederlage freiwillig auf die Macht verzichten? Erdoğan hat Erfahrung mit Wahlbetrug. Aber die Türkei ist schließlich eine Demokratie – wenn auch eine mit Mängeln. ... Damit Erdoğan ein regulärer Staatsstreich gelingt, bräuchte er auch starke Unterstützung durch das Militär, die ihm aber fehlt. Sollten Erdoğan und seine Partei am Sonntag die Wahl verlieren, wäre das der Beginn eines neuen Kapitels für die Türkei. Und vielleicht auch für Schweden.“
Nur begrenzte Parallelen zu Putin
Wirtschaftsprofessor Wladislaw Inosemzew vergleicht auf Facebook die Präsidenten Russlands und der Türkei:
„Erdoğan gewann lange allerlei Wahlen, schrieb die Verfassung um, wechselte von einem wichtigen Posten auf einen anderen, stärkte traditionelle Werte und gab sich auf Kosten der nationalen Wirtschaft geopolitischen Experimenten und dem Aufbau einer 'türkischen Welt' hin. ... Doch zu deutliche Parallelen zwischen der Türkei und Russland sollte man nicht ziehen, zum einen, weil die Institutionen Wahlen und unabhängige Justiz bei unseren südlichen Nachbarn nie völlig zerstört wurden, zum anderen, weil die Türkei nach wie vor ein erfolgreiches Industrieland ist. ... Erdoğan gelang es nicht, das politische Feld vollständig zu säubern.“
Die schweigende Mehrheit entscheidet
Die Wähler lassen dieses Mal nicht durchblicken, wem sie ihre Stimme geben werden, beobachtet Journalist Muharrem Sarıkaya in Habertürk:
„Bei dieser Wahl wird die 'schweigende Mehrheit' entscheidend sein. … An jedem Ort, den ich in der letzten Woche besucht habe, haben alle Kandidaten aller Parteien dasselbe gesagt. ... Die Politik kann das Wahlverhalten der Masse nicht mehr lesen. ... Von Parteibannern oder Plakaten an Balkonen oder Fenstern, die auch dazu dienen, die politische Haltung der Straße oder des Stadtteils abzulesen, fehlt jede Spur. Wir sind durch so viele Straßen gelaufen, doch außer um die Wahlbüros der Parteien herum konnten wir niemanden finden, der freiwillig Parteifahnen oder Wahlplakate aufhängte.“
Abwahl verspricht keine rasche Besserung
Für viele Wählerinnen und Wähler wird es eine schwierige Entscheidung, meint die NZZ am Sonntag:
„Erdogans Herrschaft dauert seit 2002, seinen Staat und dessen Institutionen hat er umgebaut. Wirtschaft, Medien, Beamtenschaft - alles tanzt nach seiner Pfeife. Die Wählerinnen und Wähler in der Türkei werden den Nutzen abwägen: weiter mit Erdogan, der so mächtig ist, dass er vieles mit einer Handbewegung entscheidet - Verdopplung des Mindestlohns, Abschaffung des Rentenalters, ein Monat gratis Gas für alle Haushalte? Oder einer neuen Mannschaft vertrauen? Einem Sechs-Parteien-Bündnis? Einem neuen Präsidenten, der die Rückkehr zur vollen Demokratie verspricht, aber kaum eine rasche Besserung der Wirtschaftslage erreichen wird.“
Mal wieder sind es die ausländischen Mächte
Kılıçdaroğlu hat der internationalen Presse in den letzten Wochen zahlreiche Interviews gegeben. Zudem haben wichtige Nachrichtenmagazine eine mögliche Abwahl Erdoğans zum Titelthema erkoren. Erdoğan reagierte darauf sehr harsch, beobachtet Yetkin Report:
„Laut [dem türkischen Präsidentenpalast in] Beştepe sind wieder die ausländischen Mächte aktiv. Sie wollen die Wahlen in der Türkei beeinflussen - als ob die AKP-Wählerschaft ständig The Economist oder Der Spiegel lesen und von diesen Artikeln beeinflusst würde. ... Dabei ist es Präsident Erdoğan selbst, der die Wahl am 14. Mai eine 'Schicksalswahl' nennt. ... Aber wenn die ausländische Presse mit dem Rivalen spricht, ja sogar kommentiert, dass dieser gewinnen könnte, hört der Spaß auf.“
Zeit für einen Wandel
Dass Erdoğan einen Wahlkampfauftritt wegen gesundheitlicher Probleme abbrechen musste, ist für The Observer ein Signal:
„Erdoğan, 69, übt seine Macht als Premier und Präsident seit 20 Jahren rücksichtslos aus. Sein sorgfältig gepflegtes Image ist das eines harten, unverwüstlichen Anführers. Und plötzlich wirkt er gebrechlich. Die Minister betonen, dass seine Erkrankung nichts Schlimmeres sei als ein Magen-Darm-Infekt, allerdings wurde er zuvor am Darm operiert. ... Was auch immer die Wahrheit ist: Die jüngste Episode trägt zu dem wachsenden Gefühl bei, dass eine autoritäre Gestalt, die nahezu jeden Aspekt des türkischen Lebens dominierte, vor der Abrechnung steht und dass die Zeit reif für einen Wandel ist.“
Amtsinhaber noch nicht abschreiben
Für Erdoğan ist trotz der zunehmenden Unterstützung für seinen Herausforderer noch nichts verloren, glaubt Le Temps:
„Seine immer deutlichere Rückkehr zu einem politisch entschlossenen und exklusiven Islam, seine exzentrischen Kehrtwenden, die Repression, die in den vergangenen Jahren auf Intellektuelle, Oppositionelle, Medien und alle ihn eventuell in den Schatten stellenden Personen niedergegangen ist, können seiner sehr großen Beliebtheit nichts anhaben. In weiten Teilen der Bevölkerung ist sie unbeschädigt. Selbst zusammen mit den äußerst schlechten Wirtschaftsergebnissen, die die türkische Regierung so lange wie möglich zu kaschieren versucht hat, könnten diese Hindernisse, so zahlreich sie auch sein mögen, nicht ausreichen.“
Einschüchterung mit Putschrhetorik
Dass der türkische Innenminister Soylu die Wahlen als politischen Putschversuch bezeichnet hat, versetzt Yetkin Report in Sorge:
„Wahlen, die legitimste Grundlage einer Demokratie, als Putsch zu bezeichnen, stellt eine neue Dimension dar. Denn mit so einer extrem antidemokratischen Sichtweise ist es möglich, jeden, der bei der Wahl nicht für Präsident Tayyip Erdoğan arbeitet, also mindestens die Hälfte der Bevölkerung, als Putschisten zu zählen. ... Ist das zwei Wochen vor der Wahl eine Botschaft des Innenministers an die Oppositionswähler: 'Auch wenn wir mit euren Stimmen die Macht verlieren, werden wir sie nicht aufgeben'?“
Erfolge nur in der Außenpolitik
Die nächste Regierung wird vor allem die Wirtschaftskrise in der Türkei bewältigen müssen, meint der Historiker Mihály Dobrovits in Élet és Irodalom:
„Der zweite Karabach-Krieg, der russisch-ukrainische Konflikt und der Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato haben Ankara immer bessere Karten in die Hand gegeben. Dass die innenpolitischen und wirtschaftspolitischen Versäumnisse und die Katastrophe des Erdbebens im Februar zu diesen Erfolgen nicht beitragen, ist eine andere Frage. ... Wer auch immer die Wahl gewinnt, wird ein Land übernehmen müssen, das sich in einer vielversprechenden außenpolitischen Situation und in einer tiefen wirtschaftlichen Krise befindet.“