Immer mehr Flüchtlinge, immer weniger Solidarität?
Die Zahl der Flüchtlinge weltweit ist im Jahr 2022 laut UNHCR um 19 Millionen Menschen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen, 11,6 Millionen davon sind Ukrainer. Die EU hat gerade das Asylrecht verschärft, während die Öffentlichkeit das jüngste Bootsunglück im Mittelmeer diskutiert, bei dem wahrscheinlich Hunderte Migranten ums Leben gekommen sind. Kommentatoren fragen sich, ob die Debatte überhaupt richtig geführt wird.
Gute Einwanderer, schlechte Einwanderer
Im polnischen Wahlkampf geraten im Streit um Migration gewohnte Positionen durcheinander, beobachtet Krytyka Polityczna:
„Die Rollen in dieser 'Debatte' sind so verdreht, dass es schwierig ist zu verstehen, wer wo steht. Die Regierung wirbt in Scharen Arbeiter aus der ganzen Welt an, während sie gleichzeitig die Öffentlichkeit mit Einwanderern verängstigt, die uns von Brüssel 'aufgehalst' werden sollen. Offenbar zählt sie darauf, dass ihre glühendsten Anhänger in der Lage sind, auf einen Blick den Inder im Uber als den 'guten Einwanderer von Kaczyński' zu erkennen und höflich zu ihm zu sein, im Gegensatz zum bösen Einwanderer von Ursula von der Leyen.“
Von aussichtsloser Reise abhalten
Die Eindämmung von Migration muss früher ansetzen als bei der Bekämpfung von Schleppern, merkt Der Standard an:
„Die Abschiebe-Rhetorik konservativer und rechtsextremer Politiker ist echter 'Volksbetrug'. Die Herkunftsstaaten nehmen sie einfach nicht zurück. Die Bekämpfung der Schlepper und eine Eindämmung der Migration muss schon viel früher beginnen. Es verlangt die intellektuelle Redlichkeit, auch als humanitär denkender Kritiker der jetzigen Migrationspolitik, zu sagen: Ein großer Teil derer, die da übers Mittelmeer oder die angeblich geschlossene Balkanroute kommen, hat in Europa keine oder geringe Chancen auf Arbeit, Eingliederung, Aufstieg. Es müssen Wege gefunden werden, sie von einer aussichtslosen Reise (oft in den Tod) abzuhalten.“
Abschreckungspolitik beenden
Juan Matías Gil, Einsatzleiter bei Ärzte ohne Grenzen (MSF) im zentralen Mittelmeer, wirft Europa in El País Heuchelei vor:
„Ärzte ohne Grenzen fordert die Mitgliedstaaten auf, einen europäischen, ausdrücklich auf Rettung von Menschenleben ausgerichteten Such- und Rettungsmechanismus einzurichten. ... Die EU muss die Abschreckungspolitik beenden und sofort jegliche Unterstützung für die libysche Küstenwache oder andere Akteure einstellen, die Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts zulassen. ... Solange sich das nicht radikal ändert, werden wir weiterhin vermeidbare Todesfälle beklagen und uns über die politische Heuchelei der EU empören, die im Widerspruch zu ihren Grundwerten steht.“
Kaum Verbesserungen in Sicht
Der Historiker Iván T. Berend zeichnet in Népszava ein düsteres Bild:
„Die Welt ist in einer erschreckenden Bewegung. Aus Asien und Afrika kommen die Flüchtlinge massenhaft nach Europa und Amerika. Es ist offensichtlich unmöglich geworden, sie alle aufzunehmen. ... Es scheint einstweilen hoffnungslos, die Ursachen der Migrationsbewegungen zu lösen. Bei der Verbesserung der Lage in den Ländern, aus denen sich Dutzende Millionen von Migranten auf den Weg machen, gibt es keine oder nur langsame Fortschritte. Die reichen Länder stoßen an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität. Die Welt wird Zeuge zahlreicher menschlicher Tragödien.“
Halboffene Grenzen ergeben keinen Sinn
Phileleftheros beschreibt die Stimmung gegenüber den Einwanderern wie folgt:
„Die Gesellschaften sind viel verschlossener und misstrauischer gegenüber Ausländern geworden. Auch hier gibt es eine große Debatte. Sind die Migranten selbst daran schuld, dass sie sich nicht integrieren und sich oft gegen die Länder wenden, die sie aufgenommen haben? Es ist kein Zufall, dass bei vielen tödlichen Terroranschlägen die Täter Einwanderer der zweiten Generation waren. Liegt es daran, dass die extreme Rechte diese Ängste ausgenutzt und verstärkt hat, was zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geführt hat? Wie dem auch sei, es handelt sich um zwei völlig gegensätzliche Haltungen, die nicht so recht zusammenpassen. Hier offene, da geschlossene Grenzen. Halboffene Grenzen ergeben keinen Sinn.“
Politischer Mut ist möglich und notwendig
Die EU sollte sich in der Flüchtlingspolitik an ihrem Umgang mit den Fliehenden aus der Ukraine orientieren, drängt Joke Dillen von Caritas International in La Libre Belgique:
„Die neue Einigung zementiert Vorgehensweisen, deren Folgen humanitär dramatisch sind, wie wir wissen. … Die europäischen Regierungen müssen sich beim Thema internationales Recht für Flüchtlinge ihrer Verantwortung stellen. ... Dies erfordert sowohl Zeit als auch politischen Mut. Genau den politischen Mut, der den temporären Schutz möglich gemacht hat, der den Ukrainerinnen und Ukrainern geboten wurde. Lasst uns auf dieser Solidarität die Grundlagen eines europäischen Aufnahmemodells errichten, das die Grundrechte und den Schutz aller Personen ungeachtet ihres Herkunftslands garantiert.“
Jeder braucht einen sicheren Hafen
Zum Weltflüchtlingstag mahnt auch The Times of Malta zu mehr Empathie:
„Wir alle verstehen auf die eine oder andere Weise und in unterschiedlichem Ausmaß, was Verlust bedeutet. Auf die eine oder andere Weise und in unterschiedlichem Ausmaß wissen wir alle, was es bedeutet, wenn die Grundfeste des Lebens erschüttert werden. Vielleicht haben wir das Glück, nicht verstehen zu müssen, was es bedeutet, aus unserem Land zu fliehen. ... Vielleicht haben wir das Glück, nicht verstehen zu müssen, was es bedeutet, sich in einem neuen, fremden Land zu bewegen, während das Etikett 'Flüchtling' wie eine Regenwolke über unseren Köpfen hängt. ... Aber wir alle würden uns für unsere Kinder und uns selbst einen sicheren Hafen - also internationalen Schutz - wünschen, sollten wir ihn brauchen.“
Moskau lässt Krise in Europa auflodern
Warum gerade jetzt wieder viele Migranten über das Mittelmeer nach Europa aufbrechen, erklärt Le Point:
„Flüchtlinge sind zu einer geopolitischen Waffe geworden, und das nicht nur für die Türkei. Die in Ägypten gestartete [kürzlich vor Griechenland gesunkene] Adriana hat ihre Passagiere in Tobruk an Bord gehen lassen, das im von der russischen Wagner-Miliz kontrollierten Teil Libyens liegt. Viele Migranten kommen mit dem Flugzeug aus dem ebenfalls weitgehend von Russland kontrollierten Syrien nach Tobruk. Die Anzahl der dort illegal ablegenden Boote Richtung Italien hat in den letzten Monaten deutlich zugenommen. Alles ereignet sich so, als halte es der Kreml für opportun, die Flüchtlingskrise neu anzufachen, um den Extremisten in die Hände zu spielen und die Spannungen in Europa vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs zu verstärken.“
Trennung von Zuwanderung und Asyl
Europa muss die Grenzen komplett dichtmachen, fordert die Kleine Zeitung:
„Europa hat fraglos Verantwortung. Wo immer es geht, müssen wir menschenwürdige Zustände in Aufnahmezentren herstellen und bezahlen. Doch für die Vermeidung von Toten führt kein Weg vorbei an der strikten Trennung von Zuwanderung und Asyl. Und um diese Trennung zu vollziehen, müssen wir die Grenzen nicht öffnen, sondern rigoros abdichten. ... Wer aus wirtschaftlichen Gründen in die EU will, darf nicht einfach kommen, sondern muss sich einem legalen, formalen, sicheren Verfahren im Rahmen von verkraftbaren Quoten unterziehen. Andernfalls: keine Chance. Wer hingegen tatsächlich Asyl sucht, soll so nah wie möglich am Herkunftsland Schutz finden.“
Problem wird nur verlagert
Der Deutschlandfunk kritisiert den neuen Asylkompromiss zusammen mit den geplanten Migrationsabkommen mit Drittstaaten wie Marokko, Tunesien oder Ruanda:
„Das Vorhaben stellt moralische Werte, die Europa und insbesondere Deutschland so gern vor sich hertragen, dauerhaft infrage. Die Drecksarbeit, Menschen in Not von Europa fernzuhalten, wird gegen viel Geld an Regime outgesourct, die schon mit ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern wenig zimperlich umgehen, von Menschen auf der Flucht ganz zu schweigen. Das kann man so machen, sollte es dann aber auch ganz klar benennen ... . [D]ie Strategie der Abschottung um jeden Preis verlagert das Problem bestenfalls, löst jedoch nichts. Auch das gehört zur Wahrheit.“
Chance auf Glück näher an Herkunftsländern bieten
Die Katastrophe mit dem Migrantenboot vor Griechenland beweist, dass Abschreckung keine Lösung ist, meint De Morgen:
„Abgrenzung ist nur die Hälfte der Politik. Die andere ist Zusammenarbeit und Handel mit Ländern und Regionen, aus denen Migranten flüchten, auf der Suche nach einem besseren Leben. Wir müssen diese 'Glückssuchenden' nicht abschrecken oder zu einem Tod auf See verurteilen, wir sollten ihnen eine Chance auf Glück näher bei ihrem Zuhause bieten. ... Entwicklungszusammenarbeit könnte ein Pfeiler von Geopolitik und Handelspolitik sein. Aber wer wagt es, das heute seinen Wählern zu erzählen.“
Ursachen irregulärer Migration beseitigen
Europa trägt auch eine Verantwortung für die Zustände in den Herkunftsländern der Flüchtlinge und Migranten, betont auch The Observer:
„Europäische Länder, unter ihnen Großbritannien, haben es versäumt, einen humanen, schlüssigen und wirksamen Ansatz für die Herausforderungen zu entwickeln, die irreguläre Migration mit sich bringt. ... Es besteht die dringende Notwendigkeit, die grundlegenden Ursachen von Migration anzuerkennen und an der Wurzel zu packen. Das bedeutet eine erweiterte, systematische Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern. ... Es bedeutet mehr (nicht weniger) Entwicklungshilfe und Unterstützung. Es bedeutet auch anzuerkennen, dass Ernährungskrisen, Ungleichheit, Konflikte und Klimakrise die Hauptursachen für irreguläre Migration sind – Probleme, die der Westen mit verursacht hat.“