Polen: Was hieße ein Regierungswechsel für Europa?
Die rechtskonservative PiS ist bei der Parlamentswahl in Polen stärkste Kraft geworden, verfehlt aber die nötige Mehrheit zum Weiterregieren. Eine Koalition könnten hingegen drei pro-europäische Oppositionsparteien bilden: die liberale Bürgerkoalition KO von Donald Tusk, die politisch mittige, öko-konservative Trzecia Droga und die linke Lewica. Europäische Medien ziehen ihre Schlüsse für die EU und Europa aus dem Wahlergebnis.
Europa als Gegengift zum Populismus
Der Sieg von Donald Tusk ist ein klares Zeichen dafür, dass sich Menschen noch für Europa begeistern, meint Correio da Manhã:
„Die Zukunft Polens wird mit schweren Geburtswehen verbunden sein. Der Machtwechsel selbst wird schwierig und riskant, denn die populistische Exekutive hat sich mit willfährigen Institutionen umgeben, die alles tun werden, um den Wandel zu erschweren. Doch Europa, alt und müde, bleibt eine demokratische Utopie von Frieden und Wohlstand, die die Menschen auf oft unerwartete Weise anzieht. Der Traum von der europäischen Integration ist das beste Gegengift gegen den Populismus.“
Eurokratismus zähmen
Wenn die EU nicht aufhört, sich in polnische Angelegenheiten einzumischen, werden die nationalkonservativen Kräfte wiedererstarken, glaubt The Daily Telegraph:
„Ihre Einmischung in die Innenpolitik Polens war einer der Gründe dafür, dass es für die PiS acht Jahre lang so gut lief. Die EU-Kommission warf Warschau in diesem Zeitraum immer wieder vor, die von Brüssel definierte 'Rechtsstaatlichkeit' nicht einzuhalten. Aus Sicht der PiS war das Thema eine innerstaatliche Angelegenheit. Wird Donald Tusk seine eurokratischen Instinkte zügeln, um diese anhaltenden Einmischungen in die Souveränität seines Landes zu stoppen? Wenn nicht, könnte seine Amtszeit eine sehr kurze werden.“
Washington hat hohe Erwartungen
Ein Regierungswechsel wäre im Sinne der USA, glaubt Rzeczpospolita:
„Es war ein sehr unangenehmer Spagat. Einerseits musste das Weiße Haus gute Beziehungen zur PiS-Regierung unterhalten, da Polens strategische Bedeutung seit dem Ausbruch des Krieges im Osten enorm zugenommen hatte. Andererseits verfolgte man in Washington, wo man einen weltweiten Kreuzzug zur Verteidigung der Freiheit gegen die chinesische und russische Tyrannei ausgerufen hatte, mit Abscheu, wie an der Weichsel Schritt für Schritt Elemente eines autoritären Staatswesens gestärkt wurden. ... Die Amerikaner erwarten von der neuen polnischen Regierung nicht nur, dass sie die Beziehungen zu Kyjiw, Berlin und Brüssel verbessert, sondern auch, dass sie den klaren Kurs gegenüber Amerika beibehält.“
Neue europäische Großmacht
Mit einem EU-freundlichen Kurs kann Polen der Union wichtige Signale geben, betont Jyllands-Posten:
„Unter Tusk ist ein Polen mit weiterhin großem nationalen Selbstbewusstsein zu erwarten. Nichtsdestotrotz würde es weitaus stärker als bisher eine tonangebende Rolle als aufstrebende europäische Großmacht spielen können. ... Polens ökonomische Entwicklung ist imponierend, und [kein Land] hat so überzeugend dem Willen Ausdruck verliehen, Russlands imperialen Aggressionen Paroli zu bieten. Polen schickt sich an, vier Prozent seines BIP für die Verteidigung bereitzustellen - das platziert das Land an der Spitze der Nato. ... Nun kann es seinen Einfluss auf weiteren Ebenen geltend machen. Ein guter Grund, Polen zu gratulieren - und uns ebenso.“
Beobachten und lernen
Unter Tusk wird Polen zu einem Labor für die Reparatur stotternder Demokratien, bemerkt Hospodářské noviny:
„Für alle demokratischen Politiker in Europa wird es aufschlussreich sein, zu beobachten, wie Polen mit dem Erbe des Illiberalismus in den Institutionen umgeht. Es handelt sich um eine historische Neuheit. Europa versteht sich darauf, liberale Institutionen von Grund auf aufzubauen, wie sich am Beispiel Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt. Doch der Wiederaufbau nach mehreren Jahren in einer polarisierten Gesellschaft, die von digitalen sozialen Netzwerken dominiert wird, die die liberale Demokratie zerstören, ist eine ganz neue Disziplin.“
Rückkehr zu einem anständigen europäischen Staat
Deník N atmet auf:
„Polen kehrt zur Demokratie zurück. Richter werden nicht mehr wegen ihrer Weigerung, über politische Anordnungen zu entscheiden, verfolgt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird keine Propaganda mehr für eine Partei betreiben, Frauen werden hoffentlich bald legal eine Abtreibung durchführen können und keine Angst mehr vor einer Schwangerschaft haben. Politische Entscheidungen werden nicht von einem alten Mann aus seinem Parteibüro getroffen, sondern von der Regierung und dem Parlament. LGBT-Personen werden nicht mehr von höchster Stelle als degeneriert bezeichnet, und Schüler werden keine Noten in Religion bekommen. Und Filmemacher, die einen kritischen Film machen, werden nicht von Premier und Regierung gelyncht, wie es kürzlich bei der Regisseurin Agnieszka Holland der Fall war.“
DePiSierung ist eine Mammutaufgabe
Die langwierige Herausforderung, die Vereinnahmung des Staates durch die PiS zurückzudrehen, beschreibt Historiker Timothy Garton Ash in La Repubblica:
„Ich habe gerade ein neues polnisches Wort gelernt: depisyzacja, das heißt DePiSisierung, in Analogie zur Dekommunisierung. Aber die PiS aus dem polnischen Staat zu entfernen, wird eine schwierige Aufgabe sein. Es bedeutet, die Unabhängigkeit der Gerichte wiederherzustellen, die staatlichen Medien in echte öffentlich-rechtliche Medien umzuwandeln, die tiefe politische Durchdringung des öffentlichen Dienstes und staatlicher Unternehmen rückgängig zu machen, die Wahlkreisgrenzen neu zu ziehen, damit sie die Bevölkerungsentwicklung widerspiegeln, und vieles mehr. Und das alles, während [der PiS-nahe Präsident] Duda immer noch über umfangreiche Vetorechte verfügt.“
An sich selbst gescheitert
Dass die PiS keine Partner für eine Regierungsmehrheit findet, hat nur sie zu verantworten, meint Der Standard:
„Erfolgreiche Politik setzt in Demokratien doch ein Mindestmaß an Kommunikation mit Andersdenkenden voraus. Genau dazu aber war die PiS in den vergangenen Jahren immer weniger fähig. Vor allem durch den Umbau der Justiz und die Umfunktionierung der öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandasprachrohren der Regierung beschnitt sie wichtige Korrektive, die letztlich auch für die Stabilität des Staatsganzen sorgen. Damit kann man nicht nur Wählerinnen und Wähler vergraulen, sondern – sollte es mit der absoluten Mehrheit mal nicht klappen – auch potenzielle Regierungspartner.“
Rekordbeteiligung setzt ein Zeichen
Den hohen Andrang an die Urnen betont LRT:
„Ersten Zahlen zufolge haben sich fast 73 Prozent der polnischen Wähler an diesen Wahlen beteiligt und damit bewiesen, dass es ihnen nicht gleichgültig ist, wie die aktuelle geopolitische Lage und die Einstellung der Regierung zur Demokratie ist. Es ist bezeichnend, dass die vier Referenden, die in Verbindung mit den Wahlen abgehalten wurden und die von der Regierungspartei initiiert worden waren, keine ausreichende Wahlbeteiligung erreichten, um ihre Entscheidungen verbindlich und nicht nur beratend zu machen. Die Wähler der Oppositionskräfte weigerten sich einfach, ihre Stimme dafür abzugeben.“
Fiasko für Ungarns Regierung
Um Viktor Orbán wird es nun einsam in der EU, prognostiziert Népszava:
„Nicht nur die PiS hat verloren, auch für die ungarische Regierungspartei ist dies eine enorme Schlappe. ... Mit dem voraussichtlichen Regierungswechsel in Warschau wird Ungarn seinen letzten EU-feindlichen populistischen Verbündeten verlieren. Wir werden bei den Abstimmungen in der EU alleine bleiben, wir werden die einzigen sein, die die EU erpressen, und wenn die heimische Gesellschaft nicht aufwacht, wofür man nicht viele Zeichen sieht, könnten wir uns bald außerhalb der EU wiederfinden.“
Die tiefen Gräben bleiben
Die Wunden des Wahlkampfs werden so schnell nicht verheilen, befürchtet Chefredakteur von Observator Cultural, Matei Martin:
„Abgesehen vom Wahlausgang und der politischen Neuausrichtung, die bald stattfinden wird, bleibt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Nach einem turbulenten Wahlkampf wird Polen wahrscheinlich noch für lange Zeit eine zutiefst gespaltene Gesellschaft bleiben. Die politische Polarisierung wird nicht gelöst werden können, zumal die neue Regierung sich sputen wird, die versprochenen Reformen umzusetzen. Somit wird die soziale Spaltung weiter bleiben oder sich sogar weiter vertiefen.“
Keine Koalitionsoptionen für PiS
Dem Regierungsbündnis fehlen Koalitionsoptionen, kommentiert das PiS-nahe Onlineportal wPolityce.pl:
„Die Vereinigte Rechte [Wahlbündnis der PiS] hat die Parlamentswahlen gewonnen. ... Aber natürlich war das Ziel ein anderes, nämlich eine eigene parlamentarische Mehrheit. Die erscheint heute - auch unabhängig vom Endergebnis - unrealistisch. Das dramatisch schlechte Ergebnis der [rechtsnationalistischen] Konfederacja macht auch die Suche nach einem Koalitionspartner zu einer ungeheuer schwierigen Angelegenheit. Der einzige potenzielle Partner scheint die [Bauernpartei] PSL zu sein, aber bei der derzeitigen Stimmung in den Reihen der Opposition ist auch dies eine Mission mit wenig Aussicht auf Erfolg.“
Präsidiale Blockade nicht opportun
Eine Blockadehaltung Andrzej Dudas gegenüber der neuen Regierung käme nicht gut an, glaubt Interia:
„Natürlich kann die PiS ihre Amtszeit noch etwas verlängern. Präsident Andrzej Duda kann den Auftrag zur Bildung eines neuen Kabinetts dem formalen Gewinner erteilen, die Verfahren können sich hinziehen, aber am Ende wird derjenige, der erfolgreich eine Koalitionsregierung bildet, die Regierung übernehmen, und dazu ist die Opposition in der Lage. Wird der Präsident alle Reformen der neuen Regierung für die nächsten zwei Jahre blockieren? Langfristig wird sich das für ihn nicht auszahlen, und vielleicht träumt er ja davon, ein neues politisches Zentrum auf der Rechten zu schaffen. Sich von der PiS zu lösen, wäre für ihn von Vorteil.“
Polen stemmt sich gegen Trend
Die ersten Hochrechnungen dürften in weiten Teilen der EU einen Seufzer der Erleichterung auslösen, glaubt BBC:
„Brüssel war angesichts des Wahlausgangs in Polen sehr besorgt. In der Öffentlichkeit wurde darüber kaum gesprochen, denn EU-Vertreter wollten nicht, dass ihre Aussagen als Einmischung in eine nationale Abstimmung angesehen werden. Hinter verschlossen Türen aber herrschte angespannte Nervosität. ... Bislang gibt es nur die Ergebnisse der Wahltagsbefragung, aber Brüssel ist über das zu erwartende Ergebnis hoch erfreut, weil es sich offensichtlich dem gefürchteten Trend der Renaissance der euroskeptischen Rechten in weiten Teilen des Blocks widersetzt.“
Rückschlag für die Visegrád-Hardliner
Corriere della Sera freut sich:
„Heute beginnen die Verhandlungen und damit auch die Versuche, neu gewählte Abgeordnete abzuwerben - eine Kunst, in der der alte Kaczyński als Meister gilt. Es wird Tage dauern, bis man sich Klarheit verschaffen kann. Auch die Auszählung der Stimmen im Ausland, die historisch gesehen den Gemäßigten zugute kommen und bei denen doppelt so viele Stimmen abgegeben wurden wie 2019, wird eine große Rolle spielen. Aber wie auch immer es ausgeht, seit gestern hat Polen keinen euroskeptischen Oberherrn mehr. Zumindest für eine Nacht scheinen die Burg von Visegrád und das ideologische Bündnis mit Orbáns Ungarn in weite Ferne gerückt.“
Rückkehr zu guten Beziehungen
Jurij Pantschenko von der Ukrajinska Prawda schreibt:
„Zunächst einmal ist die Tatsache, dass die Wahlen bei unseren Nachbarn vorbei sind, für die Ukraine positiv. Dies bedeutet, dass der Wahlkampf die Beziehungen zwischen Kyjiw und Warschau nicht mehr beeinflussen wird. Unabhängig davon, wer die Wahlen gewinnt, können wir auf einen Kompromiss im Getreidestreit hoffen - die polnische Regierung hat die Kompromissvorschläge Kyjiws bereits als gut bezeichnet, eine endgültige Entscheidung war vor den Wahlen jedoch nicht möglich.“