Wird Antisemitismus wieder salonfähig?
Hetzplakate auf Demonstrationen, ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs, ein Angriff auf eine Synagoge in Berlin, antijüdische Krawalle in der russischen Teilrepublik Dagestan: Immer wieder kommt es seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel und dem darauffolgenden Krieg in Gaza zu antisemitischen Vorfällen. Kommentatoren diskutieren angemessene Reaktionen von Politik und Gesellschaft.
Auf Grundwerte besinnen
Le Monde appelliert an die französische Gesellschaft:
„Frankreich beherbergt die größte jüdische Gemeinde Europas und - nach Israel und den USA - die drittgrößte der Welt. Juden sind Teil der französischen Identität und Geschichte. Es ist unzulässig, dass ein Teil der französischen Nation, egal welcher Herkunft oder Religion, Opfer regelmäßiger Hasskampagnen wird und in Angst leben muss. Mit ungefähr 500 Festnahmen seit dem 7. Oktober haben die Behörden gezeigt, dass sie stark gegen die neue Welle antisemitischer Handlungen vorgehen. Nun sollte sich auch die gesamte französische Gesellschaft wieder auf ihre Grundwerte besinnen und insbesondere über das Mittel der Bildung immer wieder daran erinnern, dass Antisemitismus ebenso wie Rassismus inakzeptabel sind.“
Unantastbare Würde des Menschen
Angesichts des immer stärker werdenden Antisemitismus auch in Dänemark fordert der Nordschleswiger:
„Wir [sollten] nie vergessen, was uns der Populismus von rechts und links vergessen lassen will: Auch und gerade in einer freien Gesellschaft muss es Tabus geben! Wenn wir Meinungs- und Redefreiheit schützen, müssen wir aufpassen, dass dies nicht dazu ausgenutzt wird, um unseren Grundsatz der unantastbaren Würde und Freiheit aller zu untergraben. Anders gesagt: Nur weil du glaubst, im Recht zu sein, gibt dir das kein Recht, deine Wut über Unrecht an unschuldigen Menschen auszulassen. ... Wer Angehörige von Minderheiten einschüchtert, greift uns alle an.“
Ansagen ohne Bedeutung
Deutschland muss den großen Worten Taten folgen lassen, fordert die Neue Zürcher Zeitung:
„Mit einer 'Nulltoleranz-Strategie' werde man künftig dem 'abscheulichen und menschenverachtenden Antisemitismus auf deutschen Strassen' begegnen, sagt der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz. ... Selten haben Worte so wenig bedeutet wie in diesen Tagen. In Essen, Düsseldorf, Münster, Bremen, Stuttgart, Berlin und anderswo gab es am Wochenende antiisraelische Kundgebungen mit insgesamt Zehntausenden Teilnehmern. Vorfeldorganisationen der verbotenen islamistischen Hizb-ut-Tahrir-Bewegung forderten die Errichtung eines 'Kalifats' auf deutschem Boden.“
Gefährlicher Aufschwung im Netz
Dagens Nyheter beleuchtet die Rolle der sozialen Medien:
„Der antisemitische Aufschwung der letzten Wochen ist auch Teil eines längeren Trends: So ist seit der Übernahme der Plattform durch Elon Musk ein dramatischer Anstieg des offenen Judenhasses auf X, ehemals Twitter, zu beobachten. Anfang Herbst dieses Jahres eskalierte der Antisemitismus in diesem Dienst weiter, nachdem Musk direkt dazu ermutigt hatte. ... Gleichzeitig zeigt eine neue politikwissenschaftliche Studie, dass Hass auf Juden und Hass auf Muslime in alternativen sozialen Medien in den gleichen rechten und rechtsextremen Umfeldern verbreitet werden.“
Virulenter Judenhass
Der im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs verübte Brandanschlag ist der Auswuchs verbreiteter Einstellungen in Österreich, meint Der Standard:
„Der Anschlag und viele andere Vorkommnisse der letzten Zeit beweisen, dass für Antisemitismus bei uns sehr wohl Platz in den Hirnen recht vieler Leute ist. ... Die Tat signalisiert eindeutig Judenhass, und zwar einen ziemlich virulenten. Eine große Studie im Auftrag des österreichischen Parlaments ergab 2022, dass über 30 Prozent befinden, die Juden hätten zu viel Einfluss in der internationalen Geschäftswelt oder sie würden Nutzen aus dem Holocaust ziehen.“
Zwiespältige Sympathien wie in der Sowjetzeit
Politologe Alexej Makarkin sieht in einem von Echo übernommenen Telegram-Post das Stimmungsbild in Russland in ein altes Muster zurückfallen:
„Pro-israelische Sympathien sind hauptsächlich Gefühle des westorientierten Teils der Großstadtbevölkerung. Viele von ihnen betrachten Israel als ein von autoritären Regimen umgebenes modernes, hoch entwickeltes demokratisches Land. ... Mit den Palästinensern sympathisierten von Anfang an die Muslime. Doch dann begannen sich schnell ältere anti-westliche Russen, die in den Sowjetjahren den 'israelischen Militarismus' aufrichtig verurteilt hatten, in die Reihen der Sympathisanten einzureihen. Für sie ist Israel Teil des feindlich gesinnten Westens - und die Palästinenser potenzielle Verbündete.“
Ein gefährliches Sammelbecken
Der aktuelle Antisemitismus speist sich aus vielen Quellen, mahnt La Stampa:
„Die unter der Asche schwelende Glut ist bereit, neu entfacht zu werden. Nicht nur metaphorisch. ... Zum Antisemitismus christlichen Ursprungs gesellt sich seit dem 7. Oktober ein importierter Antisemitismus arabisch-muslimischen Ursprungs, der sich wiederum zu einem rechten politischen Antisemitismus gesellt, der seit der Pandemie mit ihren Verschwörungsausläufern (siehe QAnon und seine Anhänger) mit neuer Nahrung versorgt wird - verstärkt durch das Echo in sozialen Netzwerken der zusammengewürfelten Impfgegner-Galaxie. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, kommt jetzt noch Israels extrem harte Reaktion auf die Angriffe der Hamas hinzu. Et voilà, das Feuer lodert.“
Die Irrungen der Progressiven
Auf Teile der akademischen Linken blickt der Tages-Anzeiger:
„In den Siebzigerjahren war es … Ulrike Meinhof, die dem studentischen Milieu die argumentativen Figuren lieferte, um den RAF-Terror als legitime Gegengewalt zu zeichnen. Heute liefert [Judith] Butler das Argumentarium für einen neuen Antisemitismus, in dessen Namen abscheulichste Verbrechen nicht nur legitimiert, sondern auch verteidigt werden. … Derweil werden die Muslime kurzerhand als die 'neuen Juden' interpretiert, bedroht von einem weitverbreiteten 'Islamhass'. Da Israel zudem als westlich imperialistischer Brückenkopf im Nahen Osten gesehen wird, gilt Gewalt gegen Juden immer als Reaktion auf diesen politischen Zustand.“
Friedensbewegte in der schlechtesten Gesellschaft
Man sollte darauf achten, mit wem man gemeinsam demonstriert, gibt Corriere della Sera zu bedenken:
„Es ist wahr, dass nicht alle Pro-Palästina-Demonstranten Antisemiten sind. Es ist aber auch wahr, dass heute alle Antisemiten für Palästina sind: Dies ist ihre Chance. Diejenigen, die die Straßen italienischer und europäischer Städte mit einem aufrichtigen Wunsch nach Gerechtigkeit und Frieden bevölkert haben, sollten dies berücksichtigen. Nicht so sehr wegen der schlechten Gesellschaft, in der sie sich befanden. ... Sondern vor allem, um sich darüber im Klaren zu sein, in welche Richtung die Nähe zu denen führt, die diesen Wunsch dazu missbrauchen wollen, die Welt in die dunkelsten Jahre des 20. Jahrhunderts zurückzuziehen.“