Was heißt das Ja zu Kyjiw für die EU-Erweiterung?
Die Empfehlung der EU-Kommission, trotz des laufenden Krieges in der Ukraine Beitrittsgespräche mit Kyjiw zu beginnen, beschäftigt Europas Presse weiter. Die vielen Reformen, die die Ukraine für den EU-Beitritt noch abschließen muss, werden dabei nicht als die einzige Hürde gesehen. Thema ist zudem der Status anderer Beitrittskandidaten.
Keine Sonderkonditionen
Reformen sind für die Ukraine existenziell, erklärt der ehemalige Vizepremier und Minister für europäische Integration Oleh Rybatschuk bei NV:
„Ohne die großangelegte russische Invasion hätte die Ukraine nicht einmal den EU-Kandidatenstatus bekommen können. Das war eine politische Entscheidung. … Doch dass wir dank dem heldenhaften Kampf unserer Soldaten nun die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft haben, bedeutet nicht, dass wir einen 'Rabatt' auf den Beitritt bekommen. Wir müssen trotzdem die sieben von der EU-Kommission festgelegten Bedingungen erfüllen. Das beinhaltet Reformen in mehr als 30 Bereichen. Davon, wie wir diese Reformen umsetzen, hängt die Existenz der Ukraine als solche ab.“
Der Traum vom Maidan wird wahr
Onet erinnert an die Ereignisse von 2013/14:
„Der friedliche Aufstand, an den sich die Ukrainer heute als 'Revolution der Würde' erinnern, breitete sich im ganzen Land aus und versammelte jeden Sonntag Millionen von Menschen auf dem Maidan, die 'Die Ukraine ist Europa' skandierten. ... Blaue EU-Flaggen wehten auf den Barrikaden des Maidan. Zum ersten Mal in der Geschichte starben Menschen unter diesen Fahnen, deren größter Traum - neben der Absetzung eines Diktators - der Beitritt zu Europa war. [Der damalige Präsident] Janukowitsch floh an Bord eines von Moskau geschickten Hubschraubers nach Russland, und was der Maidan forderte, begann nur einen Monat später in Erfüllung zu gehen, als Kyjiw das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnete.“
Der Balkan muss weiter schmoren
Lost in EUrope kritisiert doppelte Standards in der EU-Erweiterungspolitik:
„[W]ährend die Ukraine, Moldau und Georgien je ein Feld vorrücken – Beitrittsverhandlungen für die ersten beiden, Kandidatenstatus für Nummer drei – muss der Westbalkan weiter warten. Nur Bosnien-Herzegowina darf vielleicht auf Beitrittsgespräche hoffen – wenn es die Bedingungen aus Brüssel umsetzt. Alle anderen Kandidaten müssen weiter im Wartesaal schmoren. Dabei mühen sie sich bereits seit 20 Jahren. Und schlechter als in Moldau sind die Bedingungen in Albanien oder Kosovo auch nicht. Eher im Gegenteil! Doch die Balkanesen stehen nicht im geopolitischen Fokus.“
Besser langsame Öffnung
Delo warnt vor Eile bei der Erweiterung:
„Der Beitritt eines großen und armen Landes, wie es die Ukraine ist, wäre für die Union ein zu großer Brocken. Außerdem kann man sich nur schlecht vorstellen, wie die EU handeln und entscheiden könnte, wenn sie ein halbes Dutzend weitere Länder aufnehmen würde. Realistischer ist es, dass sich die EU langsam den Kandidatenländern öffnet, zum Beispiel durch eine graduelle Aufnahme in den Binnenmarkt. Auf diese Weise wäre der Nutzen einer zukünftigen Mitgliedschaft für sie noch greifbarer und als solche eine Motivation für eine Transformation zu Hause. Eine zu große Hast beim Beitrittsprozess würde nur zu einem Scheitern der Erweiterung führen.“
Mehr Hindernisse als bei jedem anderen Land
Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin findet auf Facebook, die Ukraine habe sich die EU-Perspektive redlich verdient:
„Die Ukrainer drängen seit dem ersten Tag ihrer 1991 neu gewonnenen Unabhängigkeit in die EU. Sie haben immer für Politiker gestimmt, die versprachen, den EU-Beitritt anzustreben. ... Die Ukrainer müssen auf ihrem Weg in die EU mehr Hindernisse überwinden als andere Länder. Kein heutiges EU-Mitglied wurde von einem Nachbarland angegriffen, um einen Beitritt zu verhindern. ... Umso wichtiger ist die mit konkreten Schritten ablaufende europäische Integration. Es sind diese konkreten Schritte - und das Recht, sie zu gehen -, die an der Front verteidigt werden.“
Für den Kreml droht eine Katastrophe
Auch Postimees freut sich:
„Dem Kreml ist gewiss nicht mehr zum Lachen zumute. Im April 2022 erklärte ein russischer General offen, dass die Kontrolle der südlichen Ukraine notwendig sei, um eine Landverbindung mit Transnistrien herzustellen. Der am 24. Februar begonnene Krieg richtete sich also nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen Moldau. Anderthalb Jahre später muss das Kreml-Kabinett zugeben, dass genau das geschieht, was sein Krieg verhindern sollte. ... Der Beitritt der Ukraine und Moldaus zur EU wäre für Putin ein Verlust in der gleichen Größenordnung wie der Verlust der Krim.“
Der Weg ist noch weit und mühsam
Deník N dämpft zu große Vorfreude:
„Die Ukraine und Moldau haben noch einen langen Weg vor sich. Die Ukraine befindet sich im Krieg, und weder sie noch Moldau erfüllen bisher die erforderlichen Kriterien und müssen weiter an Gesetzesänderungen arbeiten, die sie näher an die Union bringen. Im Fall der Ukraine sind es beispielsweise Gesetze zur Einschränkung der Macht von Oligarchen, der Korruption oder ein stärkerer Schutz nationaler Minderheiten. Aber die Hand, die die Union reicht, ist für das Land sehr wichtig. Es ist ein Signal dafür, dass die 27 EU-Staaten hinter dem Land stehen, das der beispiellosen Aggression mutig Widerstand leistet. Gleiches gilt für Moldau, ein Land, das Russland schon seit Längerem in seinen Einflussbereich zu holen versucht.“
Stolperstein Ungarn
Budapest von Kyjiws Beitritt zu überzeugen wird nicht einfach, betont La Repubblica:
„Viktor Orbáns Ungarn hat bereits verlauten lassen, dass es definitiv nicht dafür ist. Schließlich ist der ungarische Premier seit langem der russische Rammbock in der EU. ... Zunächst muss also mit Budapest verhandelt werden, das sicherlich eine Gegenleistung einfordern wird. ... Im Übrigen war es gerade der Bericht der Kommission, der Orbán eine Waffe in die Hand gab. Zu den unerlässlichen Reformen, die noch nicht umgesetzt wurden, gehören die hohe Korruptionsrate, die Rolle der Oligarchen und der Schutz von Minderheiten. Und zufälligerweise lebt eine ungarische Minderheit in der Ukraine.“
Gute Gründe, Erweiterung an Reform zu knüpfen
Polen fiele ein Abschied vom Einstimmigkeitsprinzip schwer, kommentiert Rzeczpospolita:
„Deutschland, Frankreich und andere Länder machen die Reform der EU zu einer Bedingung für die Erweiterung. Dabei geht es insbesondere darum, das Vetorecht bei außen- und finanzpolitischen Entscheidungen des EU-Rates einzuschränken und die Instrumente zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Die Argumente dafür sind schwer von der Hand zu weisen: Ein Block von 35 Staaten wird in der Welt nichts gelten, wenn selbst sein kleinster Mitgliedstaat (vielleicht unter dem Einfluss ausländischer Mächte) strategische Lösungen blockieren kann. ... Für Polen ist dies jedoch schwer zu akzeptieren. ... Wird es im Namen der geopolitischen Revolution, die die Aufnahme der Ukraine in die EU bedeuten würde, seine tief sitzenden Ängste überwinden können?“
Alle anderen müssten zahlen
Angesichts der riesigen Landwirtschaftsflächen der Ukraine befürchtet tagesschau.de zähe Verteilungskämpfe:
„Die Ukraine als EU-Mitglied würde alle landwirtschaftlichen Subventionen aus Brüssel quasi aufsaugen ... - jedenfalls dann, wenn man Finanzierung und Umverteilung der Gelder in der Europäischen Union nicht grundlegend neu organisieren würde. Genau das müsste man aber tun, um zu verhindern, dass es in einer solchen EU wahrscheinlich nur noch Nettozahler geben würde und nur noch einen Netto-Empfänger: die Ukraine nämlich. Für ein Europa, in dem sich die Staats- und Regierungschefs schon heute über die Finanzen streiten wie die Kesselflicker, eine ungeheure Herausforderung. Und von einem Wiederaufbau des Landes ist dabei noch gar keine Rede.“