Taurus-Abhöraffäre: Was macht sie brisant?
In Berlin schlägt ein Abhörskandal seit Tagen hohe Wellen: In russischen Medien wurde am Freitag ein 38-minütiger Mitschnitt einer Schaltkonferenz hoher Bundeswehroffiziere veröffentlicht. In dem Gespräch diskutieren sie über theoretische Möglichkeiten eines Einsatzes deutscher Taurus-Marschflugkörper durch die Ukraine. Bundeskanzler Scholz hat jedoch mehrfach sein Nein zu einer Taurus-Lieferung an die Ukraine betont.
Putins Plan geht auf
Diese Einladung zur Demütigung hat Moskau gern angenommen, analysiert La Libre Belgique:
„Diese Leaks von Verteidigungsgeheimnissen sollen die Europäer spalten, den deutschen Kanzler diskreditieren und seine Armee demütigen, die unfähig ist, ihre strategische und operative Kommunikation abzusichern. ... Moskau schüchtert so Olaf Scholz direkt ein, damit dieser bei seiner Weigerung bleibt, Taurus-Marschflugkörper an Kyjiw zu liefern, was deutsche Soldaten vor Ort erfordern würde. Diese Mischung aus Amateurhaftigkeit und Naivität befeuert Kritik an der Bundesregierung und beschert Wladimir Putin ein beispielloses Druckmittel. Welch ein Versagen und welch schmerzhafte Erkenntnis in der heißen Phase des Wahlkampfs in Europa und in den USA!“
Waffenlieferung wäre die beste Wiedergutmachung
Nun hilft Deutschland nur die Flucht nach vorne, findet The Daily Telegraph:
„Die Russen wussten wahrscheinlich durch ihr Spionagenetzwerk schon das meiste, aber dass es auf diese Art und Weise herausposaunt wurde, war ein Geschenk für seine Propagandisten. Russlands Außenministerium verwies auch gleich auf den 'Mangel an Demokratie' in Deutschland – eine atemberaubende Heuchelei. Viel wichtiger ist, was hinter der Diskussion steckt, nämlich der Druck der Ukraine auf den Westen, mehr Ausrüstung zu liefern, bevor Russland eine Frühjahrsoffensive startet. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kann das Debakel wieder gutmachen, indem er der Ukraine die dringend benötigten Taurus-Langstreckenraketen liefert.“
Nato sollte Eskalation vermeiden
The Guardian stellt sich gegen Taurus-Lieferungen:
„Die Ukraine wird immer mehr zu einem Nato-Söldner für westliche Generäle, die ihre Budgets aufbessern und das Spiel vom Kalten Krieg ihrer Jugendzeit wieder aufleben lassen wollen. Den Preis dafür zahlen die Steuerzahler und die jungen Ukrainer. Westeuropa kann kein Interesse an einer Eskalation des Ukraine-Krieges durch Langstreckenraketen haben. Der Westen sollte die logistische Unterstützung für die ukrainischen Streitkräfte aufrechterhalten, aber er hat kein strategisches Interesse an Kyjiws Wunsch, Russland aus den mehrheitlich russischsprachigen Gebieten der Krim oder des Donbass zu vertreiben. Dieses bestünde vielmehr darin, sich beharrlich für eine baldige Einigung und den Beginn des Wiederaufbaus der Ukraine einzusetzen.“
Willkommenes Ablenkungsmanöver
Für die Frankfurter Rundschau zeigt der Leak die Nervosität Putins:
„Ganz offenkundig hielt die russische Staatsführung es für dringend nötig, den Lauschangriff jetzt kundzutun. Zwei Wochen vor der Pro-Forma-Präsidentschaftswahl läuft nicht alles nach Wunsch des Kreml. Die Menschenmengen, die bei der Beerdigung und auch in den Tagen danach noch am Grab des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny trauern, unterlaufen eindrucksvoll die Erzählung von Staatspräsident Wladimir Putin, das ganze Volk stehe hinter ihm und seinem Angriffskrieg. Da ist Ablenkung aus Kremlsicht nötig. Die Offiziere haben einen Anlass geliefert.“
Nur ein hypothetisches Gespräch
Publizist Anatoli Nesmijan sieht auf Facebook in dem Meeting keinen großen Aufreger:
„Die Deutschen klärten gründlich eine konkrete Frage, und zwar: 'Gehen wir mal davon aus (eine sehr wichtige Einschränkung), dass wir Taurus an die Ukraine liefern. Das geht nicht schnell, es dauert sieben, acht Monate, aber nehmen wir es an. Wozu können sie überhaupt in diesem Konflikt eingesetzt werden? ... Es gibt für sie nur zwei Ziele - Sewastopol mit seiner Marinebasis und die Krim-Brücke.' ... Die Offiziere haben also mit deutscher Pedanterie aufgedröselt: Wenn dem so ist, wie viele dieser Raketen werden dann benötigt? Mit anderen Worten: Aus dem Gespräch ging nicht hervor, dass es eine Einsatzplanung war. Die Militärs haben sich überlegt, was sie der Führung des Landes sagen sollen, wenn die Führung sie fragt.“
Zweifel an Berliner Fähigkeiten
Ilta-Sanomat fragt sich, ob Deutschland noch vertraut werden kann:
„Eine mögliche Erklärung für die Veröffentlichung der russischen Abhöraufzeichnung ist, dass sie eine Botschaft an Deutschland – und auch die anderen Nato-Staaten – senden soll. Jetzt wissen Deutschland und die anderen Nato-Staaten, dass die Informationssicherheit zumindest der deutschen Luftwaffe und vielleicht auch des restlichen Verteidigungsapparats schwächer ist als Russlands Abhörmöglichkeiten. Und nun weiß man auch, dass Russland die internen deutschen Taurus-Diskussionen – und die Präsenz westlicher Soldaten in der Ukraine – kennt. Es ist nicht mehr ganz sicher, ob sich die anderen Nato-Länder auf die Fähigkeit Deutschlands verlassen können, Geheimnisse zu bewahren und zu schützen.“
Die Strategie von Scholz geht nicht auf
Gazeta Wyborcza interpretiert das deutsche Zögern bei Waffenlieferungen als fruchtlose Nachgiebigkeit gegenüber Putin:
„Scholz hat sich so sehr bemüht und dennoch prangert die Kreml-Propaganda ihn an. Die Russen würden sagen: Er hat seine Tugend verloren und dabei nicht einmal einen Rubel verdient. ... Alle zivilisierten Länder der Welt beteiligen sich an diesem Krieg auf der Seite der sich verteidigenden Ukraine. ... Wir schicken keine Soldaten, aber wir spenden Ausrüstung, Munition, Geld, bilden die ukrainische Armee aus und unterstützen sie auf andere Weise. Wir tun dies aus einem einfachen Kalkül heraus: Wenn die Ukraine verliert, sind wir die Nächsten auf Russlands Liste. Wenn die deutschen Militärs das verstehen, warum versteht es dann der deutsche Bundeskanzler nicht?“
Nachwehen der Ostpolitik
Corriere della Sera meint:
„Man muss zurückschauen, um zu verstehen, warum gerade Berlin das vorrangige Ziel von Putins hybridem Krieg gegen den kollektiven Westen ist. Deutschland war schon immer der Schwachpunkt in den westlichen Beziehungen zu Moskau. ... Die Bundesrepublik hat stets politische und wirtschaftliche Kanäle mit dem Kreml offen gehalten. Das Gewicht der Nazi-Verbrechen in der Operation Barbarossa [Angriffskrieg der Wehrmacht auf die Sowjetunion, 1941], die Energielieferungen, die die verschiedenen deutschen Wirtschaftswunder befeuerten, die Realität von Millionen von Landsleuten, die ein halbes Jahrhundert lang auf der anderen Seite der Mauer 'in Geiselhaft' gehalten wurden, waren der Hintergrund der Ostpolitik, die seit Willy Brandt die Außenpolitik von Bonn und dann von Berlin bestimmte.“