EU-Wahl: Was steht auf dem Spiel?
Vom 6. bis 9. Juni wählen die Bürgerinnen und Bürger der EU ein neues Europäisches Parlament. Diese "einzige direkt gewählte transnationale Versammlung der Welt", wie es in den offiziellen Wahlinformationen heißt, wird dann die Gesetze beschließen, die "sämtliche Bereiche des Lebens" der EU betreffen. Europas Presse ist sich dieser Bedeutung durchaus bewusst, wie ein Blick in die Kommentarspalten zeigt.
Vielleicht letzte Chance, die Idee Europas zu retten
Für Večer geht es bei dieser Wahl ums Ganze:
„Neben entwicklungspolitischen Herausforderungen (Klimawandel, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit auf dem veränderten Arbeitsmarkt im Zuge der Digitalisierung, Sicherheit, Demografie, Gesundheitswesen, Wohnraum...) ist die größte Sorge der europäischen Politik die Zunahme des politischen Radikalismus, der extremen Rechten. ... Der etablierten Politik, die das Nachkriegsprojekt des Friedens und der Zusammenarbeit lange Zeit zu entwickeln wusste, bleibt nicht mehr viel Zeit, den gnadenlosen Verlauf der Geschichte zu ändern. Bei dieser Wahl wird sie noch eine Mehrheit bekommen, mit der sie die bedrohlichen Trends umkehren kann. Vielleicht ist dies die letzte Chance, etwas so Gutes wie das Konzept der EU nicht für die Nachwelt zu verpfuschen.“
Parlamentssitz als Belohnung
Latvijas Avīze analysiert das Wahlverhalten der Letten bei EU-Wahlen:
„Es ist für einen lettischen Politiker wirklich sehr vorteilhaft ins EP zu kommen – die Garantie für ein friedlicheres und viel besser bezahltes Leben als in der Saeima [Lettlands Parlament] oder im Regierungsgebäude. ... Allerdings wissen auch die Wähler von dem guten Gehalt und berücksichtigen es bei ihrer Wahlentscheidung. Anstelle der Frage, was ein Politiker beitragen kann, könnte es sogar zum Hauptkriterium werden, wer diese Vorteile mehr verdient hat. ... Ein Sitz in Brüssel wird zu einer Art Auszeichnung, zum Beispiel für öffentliches Engagement, bisherige politische Verdienste oder das Treffen des richtigen Tons.“
Europa braucht große Macher aus kleinen Ländern
Postimees veranstaltet Wahldebatten in ganz Estland und begründet dies so:
„Im Europawahlkampf sollten innenpolitische Fragen, die nicht in die Zuständigkeit der EU fallen, vermieden werden, auch wenn absehbar ist, dass die Wahl ein Vertrauensvotum für die Regierung darstellen wird. Es gilt, die großen Ziele im Auge zu behalten: Estlands Sicherheit und wirtschaftliche Interessen. In den Postimees-Debatten wird sich zeigen, ob die Kandidaten über das nötige Fachwissen zu gesamteuropäischen Themen und das Charisma verfügen, um ihre Ansichten gut und wirkungsvoll zu vertreten. Wenn sie hier nicht in der Lage sind, brillant zu argumentieren, gibt es wenig Hoffnung, dass sie dies in Brüssel oder Straßburg sein werden. Europa braucht große Macher, vor allem aus kleinen Ländern.“
Ethischer Kodex womöglich wirkungslos
Jutarnji list schreibt:
„Die europäischen politischen Parteien haben in Brüssel auf Initiative der EU-Kommission einen ethischen Kodex zum Verhalten während des Wahlkampfes unterzeichnet. ... Es ist eine ehrgeizige Idee, die Sinn ergibt. Doch wird das kaum sicherstellen, dass der Wahlkampf EU-weit fair ablaufen wird, vor allem, da dieser Kodex lediglich die Dachorganisationen miteinbezieht, jedoch nicht das Benehmen der Mitgliedsparteien auf nationaler Ebene reguliert. ... Das Problem ist, dass der Wahlkampf auf EU-Ebene am wenigsten ausschlaggebend für den Wahlausgang sein wird. Obwohl es Europawahl heißt, handelt es sich in Wahrheit um nationale Wahlen in 27 Mitgliedstaaten.“
Keine guten Nachrichten für Orbán
Die Wahlträume des ungarischen Premiers werden wohl nicht erfüllt werden, meint Magyar Hang:
„Zwei Monate vor den EP-Wahlen scheint Orbáns Masterplan, Brüssel zu 'erobern', zu wackeln. ... [Laut der jüngsten Prognose der Zivilorganisation Europe Elects] mindert sich das erwartete Ergebnis der Regierungspartei Fidesz den zweiten Monat in Folge. Nun können sie nur mit 11 statt bisher 13 Abgeordneten rechnen. ... Als die Umfrage durchgeführt wurde, waren Péter Magyar und seine Partei noch nicht mal am Horizont aufgetaucht – sollten sie jedoch kandidieren, könnte das die Karten sowohl auf der Regierungs- als auch auf der Oppositionsseite neu mischen. Orbáns Pläne in Brüssel werden jedenfalls nicht gestärkt.“
Fake News bekämpfen
In Les Echos erklärt Xavier Desmaison, CEO der Kommunikationsberatung Antidox, wie sich Demokratien gegen die Zunahme von KI-gestützten Falschnachrichten wappnen können:
„Demokratien sollten in der Lage sein, sich gut vorzubereiten, den von der KI produzierten Überschuss zu bewältigen. Das bedeutet eine ethische Presse zu verteidigen, Überwachungs-, Widerlegungs- und Schwächungskapazitäten gegen Falschnachrichten zu entwickeln und die sozialen Netzwerke dazu anzuhalten, ihre eigenen Plattformen zu regulieren, damit sie, wenn das noch der Fall ist, weiterhin Wissen und qualitative Informationen verbreiten können. Die Technologie darf nicht als Ausrede dienen: Mit ein wenig Aufmerksamkeit und Entschlossenheit wird 2024 nicht das orwellsche 1984 sein, das uns manch einer vorhersagt.“
Westen muss mit sich selbst ins Reine kommen
Der Westen befindet sich in einer Identitätskrise, mahnt der Ständige Vertreter Italiens bei der EU, Pietro Benassi, in La Repubblica:
„Bevor der Westen seine Rolle gegenüber Anderen definiert, muss er sich den widersprüchlichen Signalen in seinem Inneren stellen. In Europa werden die Wahlen im Juni ein erstes Thermometer sein. Der erste Indikator wird die Wahlenthaltung sein, gefolgt von der Art der politischen Frage der Wähler, das heißt, ob eine Botschaft der 'Abschottung' oder der Bereitschaft zur Konfrontation vorherrschen wird. ... Wir müssen also zunächst uns selbst definieren und dann die Schlüssel für die Beziehungen zu den anderen, um hoffentlich die laufenden Veränderungen in der internationalen Ordnung zu antizipieren und somit mitzugestalten und nicht darunter zu leiden.“
Relevant und stark bleiben
Auf die fünf Jahre seit der vergangenen Wahl schaut Contributors:
„Die Pandemie, die Invasion in der Ukraine mit ihren direkten und indirekten Folgen, angefangen von Millionen Flüchtlingen bis hin zur Inflation und gestiegenen Energiepreisen sowie die neuen Herausforderungen für die Diplomatie und Sicherheit - es mussten dringende Entscheidungen getroffen werden, die den Charakter des politischen EU-Projektes für die Zukunft verändern werden. ... Die EU hat ein neues Wirtschaftsmodell auf den Weg gebracht, das auf einen revolutionären digitalen und grünen Wandel setzt. Es sind die Anstrengungen Europas, das versucht, seine Stärken im Wettbewerb mit den USA und China bestmöglich zu nutzen, um relevant und stark zu bleiben.“
Diesmal muss es wirklich um Europa gehen
Auf keinen Fall sollte die Europawahl zur Bühne innenpolitischer Machtkämpfe werden, mahnt Corriere della Sera:
„Diesmal wird das politische Szenario von dramatischen, unaufschiebbaren Entscheidungen beherrscht. Und gemein ist ihnen, dass sie alle europäischer Natur sind. Keine Partei, auch nicht in Italien, kann sie ignorieren. ... Heute verlangen die Bürger von den führenden Politikern klare Antworten auf die Frage nach Krieg und Frieden. Sie wollen wissen, wie es mit der Ukraine weitergehen soll. Wer ist mit der Entsendung weiterer Waffen einverstanden und wer nicht? Der Moment ist entscheidend für Kyjiw. Aber er ist es nicht minder für die Europäische Union.“
Zentralisten versus Nationalisten
Zwei grundsätzlich verschiedene Ideen von Europa stehen zur Wahl, beobachtet Le Figaro:
„Die erste ist die der extremen Mitte und der überzeugten Europäer in den Eliten: Sie träumen von einem großen föderalen Sprung. … Sie geben nicht mehr vor, die nationale Souveränität zu respektieren, behandeln sie als etwas Reaktionäres. Die extreme Mitte nimmt jede Krise zum Vorwand, um den Gewaltmarsch in Richtung europäische Souveränität zu rechtfertigen, ob es sich nun um Covid oder den Krieg in der Ukraine handelt. … Auf der anderen Seite steht das 'souveränistische' Lager, das sich seinerseits ebenfalls weiterentwickelt hat. Es glaubt immer noch an ein Europa der Nationen, scheint es aber nun mit einem zivilisierten Europa zu verbinden, dem eine legitime politische Existenz zugesprochen wird.“
Auch die Kommission wird nach rechts driften
Einen gemäßigten Rechtsruck prognostiziert Göteborgs-Posten:
„Man kann auf die großen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der extremen Rechten verweisen. Man kann betonen, dass Politik tatsächlich von nationalen Interessen, von Nationalbanken, von Unternehmen und Lobbyisten geprägt wird. Man kann so tun, als könne nichts, was beschlossen wurde, jemals rückgängig gemacht werden. Aber selbst wenn Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit gewählt würde, würde sie dieses Mal einem etwas rechtspopulistischeren Parlament gegenüberstehen und einer etwas nationalkonservativeren Kommission vorsitzen. Sie ist selbst nie als Politikerin mit besonders starken Prinzipien aufgetreten. Sie wird wahrscheinlich wie diejenigen sein, mit denen sie zusammenarbeitet.“
Nicht mit Radikalen flirten
Der Erfolg extrem rechter Parteien kommt nicht von ungefähr, vermutet Público:
„Umfragen deuten darauf hin, dass ihre Präsenz im EP groß genug sein wird, um dessen Entscheidungen zu beeinflussen. … Die traditionellen demokratischen Parteien tragen dazu bei, indem sie die politische Debatte radikalisieren durch eine immer gröbere und vereinfachende Sprache. … Wir sehen die wachsende Versuchung der demokratischen Rechten, auch in Portugal, der radikalen Rechten schöne Augen zu machen, in der Überzeugung, dass dies der beste Weg ist, Wähler zu gewinnen oder zurückzugewinnen. Dieses Experiment wurde bereits in mehreren unserer europäischen Partnerländer durchgeführt und ist gescheitert: Die extremistischen Parteien sind weiter gewachsen.“
Keine Abstimmung über Mitsotakis
Die Bedeutung der Wahl für die griechische Politik wird überschätzt, meint Chefredakteur Alexis Papachelas in Kathimerini:
„Es hat bereits eine Debatte über die nächste Parlamentswahl begonnen, insbesondere über die Frage, was es bedeutet, wenn die regierenden Konservativen [bei der EU-Wahl] unter die 30-Prozent-Hürde fallen. … Tatsache ist jedoch, dass es keine grauen Wolken am politischen Himmel gibt. Die Regierung verfügt über ein starkes und immer noch frisches Mandat, und selbst wenn es bei der bevorstehenden Europawahl ein wenig ramponiert wird, bedeutet dies kaum mehr als eine beliebige ungünstige Meinungsumfrage. Die Wähler könnten Frustration, Wut und den Wunsch nach einer effektiveren Opposition zum Ausdruck bringen, aber das war es dann auch schon.“