Georgien im Spannungsfeld zwischen EU und Russland
In Georgien weiten sich die Proteste gegen ein Gesetz über "ausländische Einflussnahme" aus. Dieses sieht vor, dass Medien und Organisationen, die zu über 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden, ihre Einkünfte offenlegen müssen. Im März 2023 hatten Proteste zur Rücknahme eines ähnlichen Gesetzes geführt. Wie sind die Entwicklungen zu bewerten – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des erst kürzlich erlangten EU-Beitrittskandidatenstatus Georgiens?
Geist der Freiheit
Jyllands-Posten ist von den Protesten beeindruckt:
„Die Demonstranten sprechen dieselbe Sprache wie die Ukrainer 2014 und 2004, die Deutschen und Tschechen 1989 und die polnischen Aktivisten der 1970er und 1980er Jahre: Der Geist der Freiheit ist immer noch die stärkste Waffe im Arsenal der Demokratie. Sie ist in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten trotz der Enttäuschungen auf dem Weg nicht alt und müde geworden und hat alle Möglichkeiten, die Populisten zurückzudrängen und die Imperialisten eines neuen Zeitalters in Russland und China schachmatt zu setzen.“
Jugend als treibende Kraft
Politikprofessor Amiran Chewzuriani hebt in Ukrajinska Prawda die Rolle der jungen Menschen bei den Protesten hervor:
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine völlig neue, vielfältige, kreative und mutige Gruppe junger Menschen als Kraft gesehen, die die herrschende politische Klasse in Bedrängnis bringt. ... Dieser Protest ist sowohl in Georgien als auch in den Nachbarländern einmalig. Vor allem, weil das Durchschnittsalter des Kerns der Protestierenden zwischen 16 und 20 Jahren liegt. Sie setzen völlig neue Taktiken ein. Insbesondere einen gezielten Informationskrieg gegen das Regime über die sozialen Medien, die Dezentralisierung der Proteste und die Abwesenheit eines klaren Anführers. ... So haben sie das Regime, das viel Erfahrung in der Unterdrückung von Protesten hat, praktisch neutralisiert.“
Tbilisi hat keine Wahl, als sich Russland anzudienen
Rzeczpospolita zeigt Verständnis für das Lavieren der Regierung:
„Angesichts der russischen Aggression am Dnipro und der Auslöschung ukrainischer Städte fragen sich wohl viele Politiker im kaum 3,7 Millionen Einwohner zählenden Georgien: Was wäre, wenn Putin bei uns eingefallen wäre? ... Wäre uns die Nato zu Hilfe gekommen? Die Antwort liegt auf der Hand. Daher der Versuch des Milliardärs [Bidsina Iwanischwili, graue Eminenz der Regierungspartei Georgischer Traum], der das Moskauer Klima sehr gut kennt, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, die Beziehungen nicht eskalieren zu lassen, das aggressive und imperialistische Russland nicht zu irritieren. Das kann man verstehen. Zumal russische Touristen, nach den Türken die größte Besuchergruppe, die Wirtschaft ankurbeln.“
Die meisten stehen hinter der Regierung
Die Mehrheit der Wähler wird bei der Parlamentswahl im Herbst wieder für die Partei Georgischer Traum stimmen, ist Õhtuleht überzeugt:
„Hierfür gibt es mehrere Gründe. Vor allem zeigen die langjährigen subversiven Terroraktivitäten Russlands gegen Georgien Wirkung. Russland übt seit Jahren militärischen, wirtschaftlichen und psychologischen Druck auf Georgien aus. Natürlich sind viele Georgier dieses anhaltenden russischen Drucks überdrüssig. Und als die Partei 'Georgischer Traum' aufkam und versprach, die Beziehungen zu Russland irgendwie zu verbessern, wenn auch unter sehr erniedrigenden Bedingungen für den georgischen Staat, unterstützten viele Georgier diese Partei.“
Für Ost oder West entscheiden
Postimees sieht das Land am Scheideweg:
„Im Dezember wurde Georgien der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt, der die Einhaltung bestimmter Werte voraussetzt. Zu diesen Werten gehört es sicher nicht, friedliche Demonstranten gewaltsam mit Tränengas und Gummiknüppeln zu vertreiben. Georgien sollte sich darüber im Klaren sein, dass Russland die EU derzeit als feindliche Gemeinschaft ansieht, so dass der Status Georgiens als Beitrittskandidat in Moskau auf Ablehnung stößt. Will Georgien wirklich beitreten, muss es sich von undemokratischen Werten befreien, sich klar dem Westen zuwenden und ernsthaft an der Reform seines Landes arbeiten.“
Es geht gegen die Opposition und gegen Europa
Die eingeschlagene Richtung ist eindeutig, klagt La Stampa:
„Auf einer Kundgebung forderte der Oligarch Bidzina Iwanischwili - ehemaliger Premier und wahrer Patron der Regierungspartei - das 'endgültige Urteil' über die Opposition, die er beschuldigt, 'ausländische Agenten' der 'globalen Kriegspartei EU-Nato' zu sein, die vor den Wahlen im Oktober 'die Revolution vorbereiten' würden. ... Nie zuvor war die Absicht, Tbilissi wieder unter die Fittiche Moskaus zu bringen, das dem Land 2008 ein Fünftel seines Territoriums entrissen hatte, deutlicher formuliert worden. ... Ein Signal, das in Brüssel gehört wurde. Das Europäische Parlament diskutierte über Sanktionen gegen Iwanischwili und eine Aussetzung des Beitrittsprozesses für Tbilissi. … Das würde jedoch nur den Weg für Iwanischwili ebnen.“
Brüssel darf sich nicht abwenden
La Croix warnt die EU davor, jetzt zu heftig zu reagieren:
„Die Europäer stehen vor einem Balanceakt. Die Verabschiedung eines solchen Gesetzes kann sie nur dazu veranlassen, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen auf unbestimmte Zeit zu verschieben. ... Aber zu sehen, wie Tausende von Demonstranten trotz Tränengas und Wasserwerfern zu den Klängen der 'Ode an die Freude' Europaflaggen vor dem Parlament schwenken, kann die Mitgliedstaaten nicht gleichgültig lassen. Die Tür zuzuschlagen, ist also keine Option. Trotz der Risiken und trotz des Drucks aus Moskau müssen die Europäer, die die größten Geldgeber des Landes sind, die pro-demokratischen Bestrebungen weiterhin unterstützen. Gerade einige Monate vor der georgischen Parlamentswahl im Oktober.“
Ein Risiko für die Regierung
Die westliche Orientierung der georgischen Gesellschaft könnte die Regierung ausbremsen, meint hvg:
„Der Unmut des Westens und die anhaltenden oppositionellen Proteste könnten die Machthaber vielleicht zwingen, erneut einen Rückzieher zu machen. Denn die EU- und Nato-Mitgliedschaft ist bei den Georgiern sehr populär - laut Umfragen unterstützen 80 Prozent der Bevölkerung die euro-atlantische Integration -, so dass eine Verschärfung des Streits zwischen Brüssel und Tbilissi die Zahl der Unterstützer der Regierungskoalition verringern könnte.“
Pendel der Geschichte kann zurückschwingen
Auch die Ukraine sollte aus den aktuellen Entwicklungen in Georgien Lehren ziehen, meint Politologe Maksym Jali auf Facebook:
„Die Ereignisse in Georgien zeigen, dass auch nach einer militärischen Aggression ein Rückfall in die Vergangenheit möglich ist, bei dem die Kräfte an die Macht kommen, die, gelinde gesagt, neutral gegenüber Russland auftreten. Und sie kommen übrigens ganz legal an die Macht. Ja, während der Invasion der russischen Truppen [in Georgien] gab es nicht so viele Opfer und Zerstörungen wie in der Ukraine. Aber dennoch ist es möglich, dass das Pendel der Geschichte zurückschwingt. Obwohl es 2008 sicher auch unmöglich schien. In der Ukraine hofft der Kreml auf das Gleiche.“
Moskau macht es wie in Moldau
Russland mischt in seiner einstigen Einflusssphäre weiter mit, beobachtet der Politologe Denis Cenusa bei Contributors:
„Sowohl in Georgien als auch in der Republik Moldau versucht Russland, die Stellung der EU zu schwächen und strategische Vorteile (zurück)zu gewinnen, indem es die Fehler ausnutzt, die die Regierungen in ihrem Bestreben begehen, an der Macht zu bleiben. ... So können die Einführung gesetzlicher Mechanismen zur Behinderung der Zivilgesellschaft in Georgien oder die unverhältnismäßigen Reaktionen Chișinăus gegen sozial benachteiligte Gruppen, die von prorussischen Kräften für politische Ränkespiele rekrutiert werden, die europäische Agenda vergiften. Die Spaltung in diesen Ländern dient den russischen Interessen und könnte die Osterweiterung der EU weiter erschweren.“
Russland ist das erschreckende Vorbild
Die russische Oppositionspolitikerin Elvira Wicharewa erklärt auf Facebook die Brisanz der umstrittenen Gesetzesinitiative:
„Die regierende Partei 'Georgischer Traum' möchte, dass sich NGOs und Medien, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, als 'ausländische Interessen vertretende Organisationen' registrieren. So der offizielle Wortlaut. ... Ist doch eine Kleinigkeit, nicht wahr? Aber wir erinnern uns noch bestens, wozu eine solche Kleinigkeit in unserem Land geführt hat. Die Georgier schauen über die Grenze und verstehen alles. Und natürlich gibt es in Georgien kaum Medien und NGOs ohne diese 20 Prozent. Das Land ist sehr arm, es lebt nur von Weltoffenheit und ausländischer Finanzierung, insbesondere im tertiären Sektor.“
Im Herbst hat das Volk die Wahl
Erst seit Dezember ist der Kaukasus-Staat EU-Beitrittskandidat, erinnert die Süddeutsche Zeitung:
„[D]och statt sich weiter anzunähern, entfernt er sich auch schon wieder. ... Zehntausende Menschen protestieren, weil sie ein geplantes Gesetz als Gefahr für den europäischen Kurs sehen. ... Skeptisch machen müssen auch die Worte des mächtigsten Mannes im Land. Bidsina Iwanischwili, Milliardär, ehemaliger Premier und Chef der Regierungspartei, hat jetzt massiv den Westen angegriffen. Dieser wolle Georgien wie die Ukraine als Kanonenfutter im Kampf gegen Russland missbrauchen. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Solche Worte verstärken eher den Eindruck einer autoritärer werdenden Führung, die sich des EU-Kurses nicht sicher ist. Sie hat die Wahl. Bei der Parlamentswahl im Herbst aber hat dies auch das georgische Volk.“
Sogar Beziehungen zur EU werden aufs Spiel gesetzt
Die langjährige Regierungspartei Georgischer Traum steht unter Druck, analysiert Ukrajinska Prawda:
„Die gängigste Erklärung ist, dass das Gesetz, das die Kontrolle über den öffentlichen Sektor und unabhängige Medien ermöglicht, gebraucht wird, um sich den Sieg bei den Parlamentswahlen am 26. Oktober zu sichern. Zum ersten Mal werden diese Wahlen ohne Direktmandate abgehalten, bei denen die Regierungspartei immer gewonnen hatte. Deshalb wird der Wahlsieg für Georgischer Traum diesmal schwieriger als früher. ... Der Machterhalt (es sei daran erinnert, dass Georgischer Traum seit fast zwölf Jahren an der Macht ist) ist das wichtigste Ziel der Partei. Und dafür ist man bereit, sogar die Beziehungen zur EU zu opfern.“
Am Anfang klingt alles ganz harmlos
Die im Exil lebende Doschd-Journalistin Katerina Kotrikadze warnt auf Facebook:
„Dank der russischen Erfahrungen verstehen die Menschen in Georgien sehr gut, wohin ein 'Gesetz über ausländische Agenten' führt und wozu es gebraucht wird. Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Die russische Staatsmacht hatte auch uns versprochen, dass nichts Schreckliches passieren würde, dass das Gesetz lediglich für 'Transparenz' sorge und niemand daran hindere, in Russland zu arbeiten oder zu leben. ... In Russland gibt es heute kein einziges großes unabhängiges Medium und keine einzige internationale Menschenrechtsorganisation mehr. Das war das Ziel der russischen Behörden, als sie behaupteten, das Gesetz über ausländische Agenten sei nur eine Kleinigkeit.“