Ukraine-Krieg: Rückt eine Feuerpause näher?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist offenbar unter Bedingungen zu Verhandlungen über einen möglichen Waffenstillstand bereit. Dabei solle es darum gehen, die von Russland besetzten Gebiete 'diplomatisch zurückzuerlangen' und die übrige Ukraine unter den Schutz der Nato zu stellen, erklärte Selenskyj in einem Interview. Kommentatoren debattieren die Bedeutung dieser Aussage.

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Newsweek Polska (PL) /

Selenskyj bricht ein Tabu

Newsweek Polska ist nicht wirklich überrascht über die Bereitschaft Kyjiws, für eine Friedenslösung auf Gebiete zu verzichten:

„Die territoriale Integrität war bislang ein Tabuthema, zumindest offiziell, denn hinter den Kulissen verschiedener internationaler Konferenzen räumten ukrainische Diplomaten bereits seit mehreren Monaten ein, dass der Donbas und die Krim vorerst nicht zurückgewonnen werden könnten. Das Besondere ist nun, dass Selenskyj erstmals laut ausgesprochen hat, wovon seine Leute nur im Flüsterton gesprochen haben.“

Politika (RS) /

Vom heißen zum kalten Krieg

Ohne klaren Sieger und Verlierer werden Friedensverhandlungen schwer, meint Politika:

„Zu einer Feuerpause kommt es, wenn die Kriegsparteien begreifen, dass sie ihre Ziele nicht militärisch erreichen können, beziehungsweise wenn sich eine Weiterführung des Krieges negativer auf ihre Position auswirkt als eine Pause. ... Unabhängig von den konkreten Bedingungen der Waffenruhe und internationalen Garantien für beide Seiten, wird der Eindruck, wer 'besser davongekommen ist' einen großen Einfluss auf die Beziehungen in Europa haben. Doch grundsätzlich wird eine Feuerpause bedeuten, dass der 'heiße Krieg' sich in einen 'kalten Krieg' zwischen Russland und dem Rest Europas entwickeln wird, der für die nächsten Generationen andauern könnte, so wie es im vom Eisernen Vorhang geteilten Europa war.“

La Stampa (IT) /

Eingeständnis der schwindenden Kräfte

La Stampa analysiert:

„Selenskyjs Bereitschaft zu einer möglichen 'Rückerlangung besetzter Gebiete auf diplomatischem Wege' markiert einen Wendepunkt in dem Pokerspiel, das seit der US-Wahl zwischen Bluffs und Wetten gespielt wird. Die Gleichung, die der ukrainische Präsident aufgestellt hat, ist scheinbar simpel: Abgabe der Kontrolle über die von Russland besetzten ukrainischen Gebiete im Gegenzug für den Beitritt der Ukraine zur Nato. Das ist ein Eingeständnis der Schwierigkeiten der Ukrainer, einen weiteren Winter mit Bomben, Dunkelheit und Kälte zu ertragen, und der Notwendigkeit, eine weitere Generation in die Schützengräben im Donbas zu schicken. Die Zahl der Ukrainer, die Verhandlungen befürworten, hat zum ersten Mal seit fast drei Jahren Krieg die 50-Prozent-Marke geknackt.“

Večernji list (HR) /

Trump zuliebe eine 180-Grad-Wende

Večernji list sieht Selenskyjs Kurswechsel als Zugeständnis an Trump:

„Obwohl er in seinem Siegesplan ein Einfrieren des Konfliktes oder die territoriale Integrität und Souveränität seines Landes betreffende Zugeständnisse ablehnte, ist Selenskyj nun dazu bereit. ... Unter der Bedingung, dass die restlichen 82 Prozent des freien ukrainischen Territoriums von der Nato gegen einen neuen Angriff Putins geschützt werden. Es handelt sich zweifellos um ein großes Zugeständnis und eine bedeutende Veränderung der ukrainischen Position, die vorsichtig erdacht wurde, jedoch mehr für den zukünftigen US-Präsidenten Trump und seines Gesandten für die Ukraine und Russland Keith Kellogg als für Putin selbst.“

De Volkskrant (NL) /

Europa steht vor großen Entscheidungen

De Volkskrant mahnt die europäischen Länder:

„Europa muss bereit sein, sich nach einem möglichen Abkommen selbst direkter an der Sicherheit der Ukraine zu beteiligen. Auf Europa kommen große politische, finanzielle und moralische Entscheidungen zu, die die Quittung für dreißig Jahre Versäumnisse in der Sicherheitspolitik sind. Die Gefahr ist groß, der Einsatz hoch. Aber wenn die Ukraine nicht souverän, frei und sicher für den Wiederaufbau aus diesem Krieg kommt, warten auch auf viele Millionen andere Europäer dunkle Zeiten.“