Zoff um Polens Justizreform
Im Streit über Reform des Verfassungsgerichts sind die Fronten zwischen der EU und Polen weiter verhärtet. Die EU schickte nun einen Brief nach Warschau, in dem sie ihre Sorge um den Rechtsstaat zum Ausdruck bringt. Mitte Januar hatte die Kommission erstmals eine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat eingeleitet. Eskaliert der Streit mit Warschau?
Mutige EU muss Polen weiter beobachten
Dass die EU-Kommission Polens Rechtsstaatlichkeit überprüft, ist ein mutiger und notwendiger Schritt, findet die Tageszeitung Keskisuomalainen:
„[Finnlands] Außenminister Timo Soini hat die Einleitung eines Verfahrens als Überreaktion kritisiert und spricht vom 'Lehrmeister-Gehabe' gegenüber Polen. Soinis Wahre Finnen sitzen im EU-Parlament in derselben Fraktion wie die PiS. Die Kommission hat klargemacht, dass sie sich nicht in die Innenpolitik Polens einmischt, sondern im Rahmen des europäischen Rechtsstaatsprinzips handelt. Es ist gut, dass die EU den Mut hat, einzugreifen, wenn Mitgliedstaaten Grundwerte verletzen. Die Polen müssen sich ihre Führer natürlich selber aussuchen, aber die EU ist vom Grundgedanken her eine liberale Demokratie, in der Meinungsfreiheit und unabhängige Gerichtsbarkeit gewährleistet sein müssen.“
Aus dem Beispiel Ungarn gelernt
Dass die EU gegen Polens Regierung bei der Verteidigung des Rechtsstaats schärfer vorgeht als seinerzeit gegen Ungarn, hat wohl damit zu tun, dass sie aus dem ungarischen Fall ihre Lehren gezogen hat, analysiert die Tageszeitung Népszava:
„Abgesehen davon, dass der ehemalige Kommissionspräsident Barroso ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu Orbán pflegte, geht es vor allem darum, dass die Union im Fall Ungarns seinerzeit nicht vorbereitet war, dass ein Mitgliedstaat nur wenige Jahre nach dem EU-Beitritt die Demokratie mit Füßen tritt. ... Die EU hatte schlicht kein Instrumentarium, um das renitente Ungarn zu maßregeln. Wenn wir so wollen, war die Regierung von Viktor Orbán der 'Lehrmeister' der EU, will doch Brüssel nicht mehr zulassen, dass ein Mitgliedsland dem Beispiel Budapests folgt. Dies beruhigt uns natürlich keineswegs. Bei uns ist es inzwischen äußerst schwierig, all das rückgängig zu machen, was verändert wurde.“
EU beißt sich an PiS die Zähne aus
Brüssel und Polen werden sich aufgrund der Hartnäckigkeit der PiS mit Sicherheit nicht einigen - egal, wie die weiteren Schritte jetzt aussehen, glaubt Jacek Pawlicki in Newsweek Polska:
„Denn ein Dialog macht nur dann Sinn, wenn er zielgerichtet geführt wird. Doch ein Dialog nur um des Dialogs willen, wie er jetzt stattfindet, ist nur Augenwischerei. Die letzten Ereignisse haben gezeigt, dass es keinen Sinn macht, Warschau noch mehr Zeit zu geben. Dass die PiS ihren Standpunkt jetzt eine Woche später darlegen kann, bedeutet nur, dass sie dies als taktischen Sieg verkaufen kann. Damit hat sie ihre Wähler davon überzeugt, dass sich eine harte Haltung auszahlt. Tief im Inneren verachtet der PiS-Vorsitzende die EU als technokratisches Gebilde, deren Mitglieder aus seiner Sicht nicht einmal demokratisch gewählt worden sind. Ich weiß nicht, wie lange die Kommission noch braucht, um zu verstehen, dass die polnische Führung in den wesentlichen Punkten des Streits bestimmt nicht nachgibt.“
Brüssel muss Vertrauen wieder herstellen
Dass die EU erst einmal von weiteren Schritten gegenüber Warschau absieht, wertet Gość Niedzielny als Eingeständnis eines Fehlers:
„Gut, dass Frans Timmermans nach Warschau gefahren ist. Wenn der stellvertretende Vorsitzende der Kommission nicht wieder einmal seine Meinung ändert, dann kann man alleine seinen Besuch und seine Worte nach dem Treffen mit der Regierungschefin so deuten, dass sich Brüssel aus diesem politischen Spiel wieder zurückzieht. Seine Aussage, die Polen müssen den Streit selbst lösen, kann man schon als Versuch bewerten, den Vertrauensschaden, den Brüssel in Polen angerichtet hat, wieder gut zu machen. Das wollen wir zumindest hoffen. ... Die Kommission muss den europäischen und polnischen Bürgern jetzt unbedingt erklären, mit welchem Recht sie eigentlich gegen demokratisch gewählte Regierungen vorgeht, die ihr missliebig sind.“
Polen erinnert an slowakische Mečiar-Zeit
Die Reaktionen Warschaus auf die EU-Kritik erinnern Új Szó an die ehemalige slowakische Regierung von Vladimír Mečiar in den 1990er Jahren:
„Im polnischen Sejm ging es am Freitag letzter Woche drunter und drüber. Es wurden Dinge artikuliert, die an die wildesten Mečiar-Jahre erinnerten. Offenbar sind sich die politischen Abenteurer Zentral- und Osteuropas sehr ähnlich. Die polnische Regierungschefin Beata Szydło erklärte etwa, dass die EU-Institutionen die polnische Souveränität verletzen und die Demokratie in Polen untergraben würden. Vor zwanzig Jahren ging Mečiar genauso vor, hinter jeglicher Kritik aus dem Ausland witterte er einen Angriff der Feinde der Slowakei. Warschau gebraucht heute das gleiche Vokabular wie damals Bratislava: Die Regierung schütze bloß die Interessen der eigenen Bürger, was Brüssel missfalle.“
Brüssel agiert konfliktscheu
Nach Ablauf des Ultimatums am Montag ist der Vize-Chef der EU-Kommission Frans Timmermans am Dienstag nach Polen gereist, um mit der Regierung zu sprechen. Rzeczpospolita hätte sich ein härteres Vorgehen Brüssels gewünscht:
„Natürlich wäre die PiS bereit gewesen, Zugeständnisse zu machen, wenn Brüssel den Druck erhöht hätte. ... Brüssel hat einen Fehler gemacht, indem es von seinen Plänen Abstand genommen hat, der Führung in Warschau ein Ultimatum zur der Frage des Konfliktes um das Verfassungsgericht zu stellen. Die EU hat eben derzeit an einer Verschärfung der Auseinandersetzungen mit Polen kein Interesse. Denn in knapp einem Monat findet das Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU statt. Außerdem dauert die Flüchtlingskrise noch an und die Schengenzone läuft Gefahr, auseinanderzufallen.“
Brechstange ist falsches Mittel gegen Populisten
Die EU darf den Druck auf Warschau nicht lockern, muss aber behutsam vorgehen, rät die liberale Tageszeitung Dagens Nyheter:
„Bisher hat die polnische Regierung jede Kritik zurückgewiesen. Die EU hat den Ton schrittweise verschärft. Eine Deadline war am Montag verstrichen, aber der frühere Diplomat Frans Timmermans hat die Verhandlungen verlängert. Die Kommission und die europäischen Spitzen müssen deutlich sein in der Art und Weise wie sie die Angelegenheit regeln. Aber wie kuriert man Populisten? Wahrscheinlich nicht mit der Brechstange aus Brüssel. ... Die neuen Gesetze der Regierung haben es verdient, scharf kritisiert zu werden. Aber anstatt sich in einen Krieg der Emotionen hineinziehen zu lassen, sollte man der PiS mit unterkühlter Deutlichkeit begegnen.“
Polen bekommt noch eine gelbe Karte
Jetzt kommt die polnische Regierung nochmals massiv unter Druck, glaubt Krzysztof Burnetko auf seinem Blog beim linksliberalen Nachrichtenmagazin Polityka:
„Auf der nächsten Sitzung wird die Kommission mit Sicherheit noch keine direkte Entscheidung fällen, welche konkreten Schritte sie gegen die Regierung in Warschau plant. Doch allein die Tatsache, dass sich solch ranghohe Institutionen mit den polnischen Konflikten auseinandersetzen, kann man schon als weitere gelbe Karte für Polen werten. Dies ist sehr schwerwiegend. Denn es ist eine der wichtigsten Aufgaben der EU, 'die Interessen der Gemeinschaft und ihrer Bürger zu verteidigen, wenn dies auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist'.“
Brüssel setzt seine Autorität aufs Spiel
Die Drohung Brüssels gegenüber Warschau ist ein Vabanque-Spiel, weiß die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita:
„Brüssel riskiert sehr viel. Stellen wir uns mal vor, dass die polnische Regierung nicht auf das reagiert, was die Europäische Kommission von ihr fordert. Wenn die Kommission in die dritte Phase eintritt und versucht, ihr die Stimmrechte zu nehmen, setzt sie ihre Autorität aufs Spiel. Denn wenn Ungarn Wort hält und bei der Abstimmung im Rat Polen verteidigt, dann würde dies deutlich zeigen, wie machtlos die Kommission gegenüber Staaten ist, die ihrer Meinung nach nicht die EU-Standards einhalten. Dies wäre für alle Gegner der Gemeinschaft eine hervorragende Nachricht - nicht nur in Polen.“
Litauen sollte sich nicht mit Nachbarn verbünden
In Litauen haben sich Außenseiter und Hinterbänkler der Politik hinter die neue polnische Regierung gestellt, die von Brüssel kritisiert wird. Die liberale Tageszeitung Lietuvos rytas warnt vor der offiziellen Unterstützung des bisher eher unbeliebten großen Nachbarn:
„Eine Freundschaft zwischen Litauen und Polen wäre selbstverständlich ein Dorn im Auge Russlands, aber nur, wenn sie herzlich ist. Das wäre sie jedoch nicht, auch wenn unsere Nationalisten in ihrer Ablehnung der 'horrorartigen' EU-Flüchtlingspolitik einer Meinung mit Polen sind. ... Darüber hinaus wäre ein Krieg mit der EU der Preis dafür. Und das wäre fürwahr ein noch größeres Geschenk an Russland. Der heutige Konflikt zwischen Warschau und Brüssel ist ein Zeichen der Systemkrise der EU. Das droht zum offenen Konflikt zwischen den alten und neuen postsowjetischen Ländern zu werden. Und das ist ein alter Traum des Kreml.“
EU kann Warschau nicht schocken
Das am Mittwoch von der EU-Kommission eingeleitete Aufsichtsverfahren gegen Polen wird in Warschau keine Angst erzeugen, meint die liberale Tageszeitung Dennik N:
„Der Kontrollmechanismus wurde ursprünglich 2014 für Ungarn erdacht. Gegenüber Budapest hat die EU das neue Instrument dann gar nicht angewendet, auch wenn sie mehr als genug Gründe dafür gehabt hätte. Premier Viktor Orbán wurde der Aufbau eines autoritären Systems nicht nur nicht vereitelt, sondern durch die Förderpolitik sogar finanziert. Ob die EU das Verfahren gegen Polen bis zur letzten Konsequenz - also mit Sanktionen und Stimmrechtsentzug - durchzieht, ist mehr als strittig. ... An ein größeres Land wie Polen, vergleichbar fast mit Frankreich oder Italien, wird man sich wohl erst recht nicht rantrauen. Wenn jemand Warschau zur Vernunft bringen könnte, dann nicht die EU, sondern die USA, die in Polen als einziger Sicherheitsgarant gegenüber dem aggressiven Russland betrachtet werden.“
Brüssel bleibt nur Drohen und Locken
Wer glaubt, es werde bald zu einem harten Gefecht zwischen Brüssel und Warschau kommen, der hat die EU nicht verstanden, kommentiert der linksliberale Tages-Anzeiger:
„Wenn die EU zum Duell antritt, dann hat sie stets einen Sekundanten an ihrer Seite, der dem Gegner zunächst einmal den Arm um die Schultern legt und gutwillig auf ihn einredet, um ihn von seinem eigenen Fehlverhalten zu überzeugen, ohne dass am Ende jemand tot am Boden liegen bleibt. Man muss sich das, was nun folgt, wie beim Psychologen auf der Couch vorstellen: Die EU wird einen therapeutischen Dialog mit der Equipe des narzisstischen Gernegross Jaroslav Kaczyński führen. … Sie kann drohen und locken und therapeutisch reden. Am Ende muss sie darauf hoffen, dass die freiheitsliebenden Polen sich mehrheitlich vom Nationalismus ab- und der Zukunft zuwenden.“
Warnschuss für Polen
Die Entscheidung der EU-Kommission sollte der neuen polnischen Regierung eine Warnung sein, mahnt das konservative Boulevardblatt Fakt:
„Ein Teil der Kommentatoren hat die Entscheidung der Kommission bagatellisiert. ... Doch es handelt sich hier um das erste Verfahren dieser Art in der Geschichte der EU überhaupt. Und es dürfte unserem Land keinen großen Ruhm einbringen. Die Eurokraten haben uns den Titel des Primus unter den neuen EU-Mitgliedern weggenommen und uns quasi auf die Strafbank gesetzt. Dies ist ein Warnzeichen für die PiS. Sie darf nicht alle politischen Handlungen und auch nicht die Art und Weise, wie sie diese durchsetzt, mit ihrem Wahlsieg oder dem Willen des Volkes erklären. Und zwar gerade deswegen, weil dieses Volk die PiS nicht deswegen gewählt hat, damit sie das Verfassungsgericht umbaut. Denn davon war während des Wahlkampfs gewiss nicht die Rede.“
Kommission erfüllt nur ihre Pflicht
Die EU-Kommission konnte gar nicht anders als ein Verfahren gegen Polen einzuleiten, denn sie ist nicht nur moralisch dazu verpflichtet, erinnert das wirtschaftsliberale Handelsblatt:
„Eine klare Haltung zu kommunizieren ist Brüssel allein schon jenen Bürgern in Polen schuldig, die zu Zehntausenden mit Europaflaggen auf die Straße gehen, weil sie ihrer eigenen Regierung vorwerfen, an den demokratischen Grundfesten des Landes zu rütteln. Ohnehin liegt es nicht im beliebigen Ermessen Brüssels, über die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit zu wachen. Als Hüterin der EU-Verträge hat sie die Pflicht dazu, sobald ein Anlass gegeben ist. Und den gibt es in Warschau wahrlich. ... Europas Grundwerte gelten für alle Bürger, unabhängig davon, ob es einer Regierung passt oder nicht. Dazu haben sich die Länder beim EU-Beitritt bekannt. ... Die EU ist auch zu dem Zweck gegründet worden, Feinde zu Freunden zu machen, gemeinsam Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit gehört absolut, unabdingbar dazu.“
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