Wie kommt die Ukraine aus der Krise?
Nach dem Rücktritt des ukrainischen Premiers Arsenij Jazenjuk am Montag soll diesen Parlamentspräsident Wolodymyr Hrojsman beerben. Kann der enge Vertraute von Präsident Petro Poroschenko das Land auf einen erfolgreichen Kurs bringen?
Alles hängt an Poroschenko
Nach dem Wechsel an der Spitze der ukrainischen Regierung kommt Präsident Petro Poroschenko eine noch wichtigere Rolle bei der Entwicklung des Landes zu, analysiert die konservative Tageszeitung Financial Times:
„Die Zukunft des ukrainischen Reformprojekts wird nun noch mehr von den Entscheidungen des Präsidenten abhängen. In den vergangenen Monaten sind Zweifel daran gewachsen, ob Poroschenko willens ist, sich von seinem Hintergrund als milliardenschwerer Geschäftsmann zu distanzieren. Er hielt zu lange an einem viel kritisierten Gefolgsmann in der zentralen Rolle des Generalstaatsanwalts fest. Doch es ist noch nicht zu spät für den fähigen Poroschenko, einen Platz in der Geschichte als jener Mann anzustreben, der die Ukraine auf ihren Weg zu einer rechtsstaatlichen Demokratie nach europäischem Vorbild gebracht hat. Um Poroschenko in diese Richtung zu drängen, bleibt die Unterstützung durch EU, USA und internationale Geldgeber entscheidend.“
Ein Rückfall in alte Zeiten
Für den linksliberalen Tages-Anzeiger hingegen markiert der gewachsene Einfluss Poroschenkos ganz klar das Ende des Reformprozesses in der Ukraine:
„Die neue Regierung besteht aus treuen Gefolgsleuten Poroschenkos, von denen keiner das Format oder auch nur den Willen hat, das Land umzukrempeln. ... Der joviale Petro Poroschenko mag einem sympathischer sein als der steife Wiktor Janukowitsch, den die Demonstranten 2014 mit wochenlangen Strassenprotesten aus dem Amt gejagt haben. Doch seine Ukraine unterscheidet sich immer weniger vom alten System, das man auf dem Maidan überwinden wollte. Statt eines modernen, europäisch orientierten Landes droht die Ukraine wieder ein durchschnittliches postsowjetisches Land zu werden. Nicht so schlimm wie Russland oder Weissrussland, aber auch nicht viel besser: korrupt, undemokratisch und, so ist zu befürchten, zunehmend auch wieder autokratisch.“
Von allen allein gelassen
Die Ukraine wurde vom Westen auf schändliche Art und Weise im Stich gelassen, findet der Politikwissenschaftler Valentin Naumescu. Er schreibt auf dem Blogportal Contributors:
„Der neue Premier wird die politischen und sozialen Spannungen im Land nicht befrieden können, solange die Großmächte für die Ukraine keinen passenden Platz auf der geopolitischen Karte Europas gefunden haben. Was gerade passiert, ist für die EU nicht gut. Doch die Westeuropäer haben wichtigere Interessen als die Ukraine aus dem Pufferzonen-Loch Osteuropas zu hieven. ... Die Ukraine ist zu groß und unglücklicherweise zu nah an Russland, um von den Europäern oder den Amerikanern gerettet zu werden. … Deutschland und Frankreich warten nur darauf, die Sanktionen gegen Russland abzuschaffen. Die Niederlande spielen heuchlerisch ihre eigene innenpolitische Partitur. … Die USA haben viel versprochen, aber die pro-westlichen Bestrebungen Kiews zu wenig unterstützt. Alle Seiten machten intelligente Kommentare, aber niemand hat sich auf die Ukraine eingelassen.“
Justizreformen sind die einzige Rettung
Aus ihrer tiefen Vertrauenskrise wird sich die ukrainische Elite nur befreien können, wenn die neue Regierung die Justiz reformiert, glaubt die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung:
„Das Parlament ist immer noch von Parteien dominiert, die über keine breite Mitgliederbasis verfügen und auf die Finanzierung durch Oligarchen angewiesen sind. Das Gleiche gilt für die Medienlandschaft, deren große Fernsehkanäle sich ebenfalls in Oligarchen-Hand befinden. In diesem System ist die politische Elite, die sich durch die Revolution nur teilweise erneuert hat, gefangen. Geld ist Macht, und Macht ist Geld, und wer nicht mitspielt, fliegt raus. … Egal aber, wie eine neue Regierung entsteht. Entscheidend wird sein, ob sie sich an das bisher größte Versäumnis wagt: die Reform der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Ohne dies nützen die besten Gesetze zur Korruptionsbekämpfung nichts. Und nur so kann sich die Ukraine vom alten System befreien.“
Die Hoffnung nicht aufgeben
Trotz aller Probleme hat die Ukraine nach wie vor Chancen, sich in eine positive Richtung zu entwickeln, glaubt die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza:
„Der Rücktritt von Jazenjuk ist der negative Höhepunkt eines Streits zwischen den Lagern des Premiers und des Präsidenten, der seit einigen Monaten schwelt. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, sie würden die notwendigen Reformen blockieren, zu wenig die Korruption bekämpfen und zu sehr auf das hören, was die Oligarchen sagen. ... Doch erinnert sich Europa noch an die 1990er Jahre, in denen man schwierige Reformen durchgesetzt hat, obwohl die Regierung labil war. Deswegen hat die Ukraine nach wie vor große Chancen, sich erfolgreich zu entwickeln. Und das, obwohl sie nicht nur von wirtschaftlichen Schwierigkeiten belastet wird, sondern auch noch vom latenten Konflikt im Donbass.“
Neuer Premier kann auch nichts bewirken
Vor zu hohen Erwartungen an den neuen Regierungschef warnt die liberale Tageszeitung Turun Sanomat:
„Jazenjuks Regierung hat die an sie gerichteten Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllen können. Die veraltete Wirtschaft des Landes ist in einem chaotischen Zustand, das Bankenwesen in der Krise und die Energieversorgung und -produktion in ernsten Schwierigkeiten. Die Korruption gedeiht ungehindert. … Der künftige Premier wird für seine Reformfreundlichkeit gelobt. Doch schnelle Verbesserungen darf man nicht erwarten. Die alten Machtstrukturen sind weiterhin vorhanden. Eine Entspannung der Krise in der Ostukraine sowie der Beziehungen zwischen der EU und Russland würde die Voraussetzungen für Wirtschaftsreformen schaffen. Die Einflussmöglichkeiten der Ukraine, in dieser Richtung zu wirken, sind jedoch begrenzt.“
Geld für Kiew nur noch gegen Reformen
Auch das wirtschaftsliberale Handelsblatt kann kein Signal für den dringend notwendigen Aufbruch in der Ukraine erkennen:
„Hrojsmans Wahl negiert die Chance, eine echte Expertenregierung zu bilden unter Führung der parteilosen, US-stämmigen Ex-Fondsmanagerin Natalia Jaresko, die unabhängig von den noch immer herrschenden Oligarchen-Clans den Augiasstall ausmisten könnte - gestützt durch Washington, Berlin und Brüssel. Hrojsmans Wahl hingegen ist ein 'Weiter so': ... Die Europäer sollten sich trotz Flüchtlingskrise aufraffen, Kiew beharrlich zum Umbau zu drängen. Geld an Kiew darf es nur noch geben, wenn dort zugesagte Reformen auch umgesetzt werden. Dieses Prinzip [des Internationalen Währungsfonds] sollte auch für die EU-Hilfen gelten. Scheitert die Ukraine, scheitert das Modell eines freien und selbstbestimmten Europas.“
Das war vielleicht die letzte Chance
Der Rücktritt des Premiers könnte das Land in den Abgrund reißen, fürchtet die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita:
„Die Perspektiven für die Ukraine sehen zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gut aus. Bei einer Neuwahl würden die populistischen Parteien gewinnen, im Osten die prorussischen Gruppierungen triumphieren. Die Tage der Führungsriege von Präsident Poroschenko sind gezählt. Er dürfte nicht mehr in der Lage sein, die wichtigsten Reformen durchzubringen. Darüber hinaus wird es immer wahrscheinlicher, dass Putin, der sich aus dem Syrien-Krieg zurückgezogen hat, eine neue Offensive im Donbass vorbereitet. Die Geschichte der Ukraine ist verhältnismäßig jung. Sie verfügt erst seit kurzer Zeit über einen eigenen Staat. Jetzt wurde erneut eine Möglichkeit vertan, das Land aufzubauen. Eine weitere Chance dafür wird es vielleicht nicht mehr geben.“