EU und Türkei - Partner in schwierigen Zeiten
Präsident Erdoğan schlägt ein Referendum vor, in dem die Türken über den EU-Beitritt abstimmen sollen. Er warf der Union vor, ihre Versprechen aus dem Flüchtlingsabkommen nicht einzuhalten. Erst am Wochenende hatte Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy getwittert, eine türkische EU-Mitgliedschaft sei undenkbar. Wer ist schuld an der schlechten Stimmung?
Weder Erdoğan noch AKP wollen Beitritt
An der Anti-Türkei-Stimmung in der EU sind vor allem Erdoğan und die AKP-Regierung schuld, findet die liberale Hürriyet Daily News:
„Die richtige Reaktion auf die Anti-Türkei-Kampagne wäre ein Tritt aufs Gaspedal gewesen: eine Beschleunigung des Reformprozesses, eine Demokratisierung und Modernisierung des Landes. Eine Türkei, welche die Kopenhagener Kriterien wirklich und nicht bloß auf dem Papier erfüllt und deren Wirtschaft wächst und gedeiht, hätte man viel schwieriger ablehnen können. Doch so tut man dies auf Grundlage kultureller oder religiöser Erwägungen, die einen kaum verhüllten Rassismus darstellen. ... Warum hat Ankara nicht so reagiert? Die Antwort ist heute klarer als jemals zuvor. Weder Erdoğan noch die AKP wollen diese Mitgliedschaft. Ihre Aussagen, dass die Türkei sich diesem Ziel weiter verpflichtet, sind schlicht unehrlich.“
EU ist viel zu kritisch
Die permanente Kritik der EU am türkischen Präsidenten hält die konservative Tageszeitung Karar für unfair:
„Selbst wenn wir die Kritik, ob von den EU-Einrichtungen oder den Medien, bis zu einem gewissen Punkt als berechtigt betrachten, so sind Ansätze, die mittlerweile die Grenzen der Kritik überschreiten und geradewegs Präsident Erdoğan zum Ziel erklären, nicht mit der Realität vereinbar. ... Wir wissen, dass sie uns nicht in der EU wollen. ... Vielleicht wollen sie die Türkei aus der Demokratie-Liga streichen und stattdessen in den Block der Könige und Despoten stecken und die Beziehungen danach ausrichten. Dann gibt es kein Problem mehr, denn mit undemokratischen Regimen haben sie keine Probleme. Doch die Demokratie-Erfahrungen vieler Jahre und der Weg, den wir bei diesem Thema bereits zurückgelegt haben, sind sehr wertvoll. Allein die Reformen, welche die AKP-Regierung in 14 Jahren verwirklicht hat, sind der wichtigste Beweis dafür, dass wir nicht außerhalb der demokratischen Liga bleiben werden.“
Merkel muss zwei Wahrheiten aussprechen
Merkel ist am Sonntag in die Türkei gereist. Vor Gesprächen mit Erdoğan traf sie Journalisten, Anwälte und Menschenrechtler. Kritik an ihrer Türkei-Politik hält die Süddeutsche Zeitung für falsch:
„Wer fordert, Europa solle den Deal wegen Erdoğans Gebaren aufkündigen, übersieht, dass dies in erster Linie die Flüchtlinge träfe. Für sie fließen die Milliarden in die Türkei, für sie ermöglicht das Abkommen statt lebensgefährlicher Überfahrten auf dem Mittelmeer geregelte Zugänge in die EU, wenn auch lächerlich wenige. Die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan das Abkommen aufkündigt und die gesamte Flüchtlingsproblematik wieder Menschenhändlern übereignet, die seinem Staat mehr schaden als nützen, ist unter rationalen Gesichtspunkten gering. ... Wenn Merkel nun Erdoğan trifft, muss sie folglich weder aus Angst um ihre Flüchtlingspolitik duckmäusern, noch muss sie beweisen, dass sie nicht erpressbar ist. Sie sollte schlicht sagen, was ist: Der Flüchtlingsdeal richtig, der Umgang Erdoğans mit seinen Gegnern falsch.“
Beide Seiten brauchen das Abkommen
Das Platzen des Flüchtlingsdeals wäre für den Guardian unerträglich:
„Der Grundgedanke hinter dem EU-Türkei-Abkommen war nicht nur eine aussichtslose humanitäre Lage zu mildern, sondern auch die populistischen und xenophoben Reaktionen in ganz Europa abzuschwächen. Der Zeitfaktor spielte eine zentrale Rolle. … Auch aus politischer Sicht tickte die Uhr, da in mehreren europäischen Ländern wichtige Wahlen anstanden, wie das Referendum in Großbritannien. … Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Türkei bis zum Ende der Frist Ende Juni alle Bedingungen für visafreies Reisen erfüllen wird. Die Hoffnung der Europäer ist, dass Erdoğan das Abkommen dennoch nicht aufkündigen wird, weil er politisch davon profitiert. Beide Seiten brauchen - trotz aller offensichtlichen Differenzen - eine Weiterführung des Abkommens. Eine Wiederholung der menschlichen Tragödien des letzten Jahres wäre unerträglich.“