Heikles Referendum in Italien
Italiens Bürger stimmen am Sonntag über eine komplizierte Verfassungsreform ab, die unter anderem einen verkleinerten Senat vorsieht. Doch laut Beobachtern geht es weniger um die Reform als vielmehr um ein Votum für oder gegen Premier Renzi und die möglichen Folgen einer Regierungskrise für ganz Europa. Wie riskant ist Renzis Spiel?
Nein-Lager ohne ernsthafte Alternativen
Die Gegner Renzis haben auch kein überzeugenderes Programm, warnt La Croix mit Blick auf das Referendum am Sonntag:
„Die Ablehnung von Renzis Projekt könnte man verstehen, wenn es eine solide Alternative gäbe. Doch das ist nicht der Fall. So würde ein Sieg des Nein-Lagers [Ex-Premier] Silvio Berlusconi, dem unermüdlichen Störenfried, nutzen. Am meisten von einer Nein-Mehrheit würde jedoch die Anti-System-Bewegung Movimento 5 Stelle profitieren, die abgesehen von der guten alten Devise 'Werft die bisher Regierenden hinaus!' keinerlei Ideen anzubieten hat. Es ist das alte Duell: Reformen gegen die Versuchung des Chaos. Alles platt machen ist allerdings nur ein flüchtiger Spaß. Denn die Demokratie wieder aufzubauen, erfordert einen langen Atem. Daher ist es besser, nicht noch mehr niederzureißen.“
Beunruhigende Kapitalflucht aus Italien
Die Kapitalflucht aus Italien ist ein beunruhigender Indikator für die Stimmung der Investoren, meint die US-Ökonomin Carmen Reinhart in Jornal de Negócios:
„Das Problem der Bankeninsolvenzen, das in Griechenland um sich greift, wo das Kapital der Banken zu über einem Drittel aus faulen Krediten besteht, ist in Italien nicht so pauschal vorhanden. ... Trotz allem Gerede über eine drohende Bankenkrise ist der Hauptgrund für die Flucht der Investoren die Zahlungsbilanzkrise [Abzug von Kapital aus dem Inland], die sich seit dem ersten Halbjahr 2016 abzeichnet. Vor der Einführung des Euro hätte eine nicht nachhaltige Zahlungsbilanz in Italien (wie auch in anderen Ländern mit eigenen Währungen) in der Regel die Zentralbank zu Zinserhöhungen veranlasst, was die Anlagemöglichkeiten des Landes für Investoren attraktiver gemacht und die Kapitalflucht aufgehalten hätte. Bei einer Europäischen Zentralbank, die die Geldpolitik für die Eurozone als Ganzes bestimmt, ist dies für die Banca d’Italia nicht mehr möglich.“
Hochmut kommt vor dem Fall
Sollte Italiens Premier Renzi im Verfassungsreferendum scheitern, liegt das an seiner eigenen Arroganz, analysiert der italienische Soziologe Salvatore Palidda auf seinem Blog bei Mediapart:
„Blickt man auf die Geschichte dieser Reform zurück, scheint klar, dass sich der Schritt nur durch Renzis Hochmut erklären lässt (die der des britischen Ex-Premiers Cameron ähnelt). ... Die Beliebtheit Renzis ist aber insbesondere deshalb eingebrochen, weil er weder den wirtschaftlichen Niedergang des Landes aufgehalten hat - über 40 Prozent der jungen Italiener sind arbeitslos, im Süden sogar über 60 Prozent - noch die weiter grassierende Korruption. ... Die Front des Nein beim Referendum ist sicherlich peinlich. Aber Renzi hat dieses neue Monster selbst geschaffen.“
Financial Times macht sich zu Renzis Sprachrohr
Laut der Financial Times stünde bei einem Sieg der Nein-Stimmen beim Referendum die Zukunft von acht italienischen Banken auf der Kippe. Für die rechts-konservative Tageszeitung Il Giornale betreibt das Blatt pure Wahlpropaganda:
„Vor nur wenigen Tagen hat die Financial Times, die renommierteste Wirtschaftszeitung Europas, den sicheren EU-Austritt Italiens im Fall des Siegs des Nein für bare Münze verkauft. Am Dienstag setzte das Blatt nach, sollte das Ja nicht siegen, drohe acht italienischen Banken die Pleite. Die Financial Times ähnelt eher einer Wahlkampfmaschine als einer Tribüne für eine ernstzunehmende Debatte. … Da es keinerlei wissenschaftlichen Beweis für die vermeintliche Gefahr einer Pleite der italienischen Banken gibt und da wir nicht an die Existenz von Wahrsagern glauben, nehmen wir eher an, dass hinter dem Artikel ein Handlanger der Ja-zu-Premier-Renzi-Bande steckt. Eine Bande von Verantwortungslosen, die vor nichts mehr zurückschrecken.“
Ein Nein wäre keine Katastrophe
Sollten die Italiener das Verfassungsreferendum am Wochenende ablehnen, wäre nach Ansicht der Neuen Zürcher Zeitung noch nichts verloren:
„Bei aller Unsicherheit, die ein Nein mit sich bringen würde, darf nicht vergessen werden, dass auch ein Plazet zur Verfassungsreform die wirtschaftlichen Probleme des Landes kaum lösen würde. Das italienische Parlament verabschiedet schon heute, auch ohne die angestrebte Deblockierung des Gesetzgebungsprozesses, mehr als genug Erlasse. ... Alles in allem ist ein Ja am 4. Dezember die etwas bessere Alternative, weil es mit weniger Unsicherheit und damit auch mit weniger Risiken verbunden ist. Aber zu glauben, dass danach dem Aufschwung nichts mehr im Wege stünde, wäre blauäugig. Auch ein Nein käme keiner Katastrophe gleich. Die Italiener haben seit Kriegsende 63 Regierungen überdauert. Sie haben gelernt, mit instabilen Verhältnissen zu leben.“
Großes Bohei um kleines Reförmchen
Diejenigen, die vor dem Referendum am Sonntag so mahnend ihre Stimmen erheben, können getrost den Ball flach halten, konstatiert Corriere del Ticino:
„Der Volksentscheid ist mit Bedeutung überfrachtet worden. ... Worüber genau sind die Italiener aufgerufen abzustimmen? Über eine Verfassungsreform, die zahlreiche Artikel betrifft, sich aber im Grunde um drei Kernpunkte dreht: a) Die Umwandlung des Senats; b) die Neuaufteilung der Kompetenzen unter Staat und Regionen; c) die Anpassung der Regeln für Volksabstimmungen. Das ist auch schon alles. Wie man die Zukunft Italiens von diesem Reförmchen abhängig machen will, das schlecht konzipiert und noch schlechter ausgearbeitet wurde, bleibt schleierhaft. ... Der 4. Dezember ist auf dem Papier und in den Fakten weder mit der Entscheidung über den Brexit noch mit der US-amerikanischen Präsidentschaftswahl zu vergleichen. Sollte er ähnliche politische Folgen haben, müsste man sich ernsthafte Sorgen machen über die Solidität des gesamten politischen Systems des Landes.“
Italiener müssen zur Wahl gehen
Laut Umfragen wird am Sonntag eine knappe Mehrheit mit Nein stimmen, jedoch ist die Gruppe der Unentschlossenen groß. Dies darf auf keinen Fall zur Stimmenthaltung führen, mahnt Verfassungsrechtler Michele Ainis in La Repubblica:
„Der Stimmenthaltung kommt je nach Art der Befragung eine ganz unterschiedliche Bedeutung zu. Bei Parlaments- oder Kommunalwahlen beinhaltet die Enthaltung eine grundsätzliche und radikale Ablehnung des Angebots der Parteien. Beim aufhebenden Volksentscheid kann mit der Stimmenthaltung das Desinteresse am Objekt der Befragung bekundet und das Erreichen des Quorums verhindert werden. Im Falle des Verfassungsreferendums bringt derjenige, der der Wahl fernbleibt, jedoch seine Gleichgültigkeit der Verfassung, den Grundregeln unseres Zusammenlebens, gegenüber zum Ausdruck. Das zeugt nicht gerade von öffentlichem Engagement und ist ein Problem, denn eine Verfassung ohne Volk ist wie eine Kirche ohne Gläubige. Zudem sind gemeinhin Entscheidungen, die von Minderheiten gefällt werden, schlechte Entscheidungen.“
Renzi spielt Russisches Roulette
Das italienische Referendum könnte höchst riskante Folgen für Europa haben, fürchtet Kauppalehti:
„Mit dem Referendum spielt Renzi ebenso Russisches Roulette wie der britische Premier David Cameron mit der Brexit-Abstimmung. Das Problem von Volksabstimmungen ist, dass häufig über etwas anderes abgestimmt wird, als über die eigentliche Referendumsfrage. Auch in Italien werden die Wähler die Möglichkeit nutzen, ihre Unzufriedenheit mit der Regierung auszudrücken - nicht mit der Verfassung. Das italienische Referendum stellt keine direkte Bedrohung der wirtschaftlichen oder politischen Stabilität der EU dar, dennoch können die Folgen fatal sein. Der marode italienische Bankensektor und die Verschuldung haben die Euro-Partner seit dem Ausbrechen der Finanzkrise in Atem gehalten. Eine Machtübernahme der Populisten [durch eine Neuwahl] würde die Ungewissheit über Italiens Fähigkeit, Reformen umzusetzen, und über die Bindung des Landes an die Eurozone weiter verstärken.“
Die Geister, die Europa rief
Nach dem italienischen Referendum könnten sich die Versäumnisse bei der Lösung der Eurokrise rächen, prophezeit auch The Independent:
„Wie schon in früheren Krisen der Eurozone könnte eine von Italien ausgehende Ansteckung leicht andere Banken in Europa und überall auf der Welt in Mitleidenschaft ziehen. ... Eine Lösung der Bankenprobleme in Italien und der dortigen Staatsfinanzen ist in der Tat die große unerledigte Aufgabe der vergangenen Krisen der Eurozone. Man hat sich damals davor gedrückt, langfristig harte Entscheidungen zu treffen, die die Währungsunion durch engere fiskale und politische Verflechtungen funktionsfähig gemacht hätten - de facto ist damit eine dauerhafte Subventionierung Südeuropas durch Deutschland gemeint. Die Folgen dieses Mangels an wirtschaftlichem Verständnis und politischem Mut können gar nicht stark genug betont werden.“
Renzis Pläne gefährden Demokratie
Ein Votum gegen die Verfassungsreform empfiehlt The Economist:
„Renzis Verfassungsänderung würde das größte Problem Italiens - seine Reformunwilligkeit - nicht lösen. Außerdem würden jegliche positive Nebeneffekte von den Nachteilen aufgewogen werden. Am bedenklichsten ist dabei jener Teil der Reform, der das Ziel hat, die Instabilität zu beseitigen, die Italien seit 1945 insgesamt 65 Regierungen beschert hat. Sie würde einen gewählten starken Machthaber schaffen. Italien ist das Land, das Benito Mussolini und Silvio Berlusconi hervorgebracht hat und besorgniserregend anfällig für Populismus ist. ... Die Gefahr von Renzis Plan ist, dass der Komödiant und Chef des Movimento 5 Stelle, Beppe Grillo, am meisten profitieren würde. Seine verwirrte Partei fordert ein Referendum über den Austritt aus dem Euro.“
Italiener sollten kühlen Kopf bewahren
Dass The Economist im Gegensatz zu anderen internationalen Medien nicht weiter die Weltuntergangsstimmung schürt, bemerkt wohlwollend Corriere della Sera:
„Dass die Bibel der Finanzwelt sich nicht allzu große Sorgen um den Ausgang der Volksabstimmung macht, ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein politisches Indiz. Es zeigt, dass man jenseits der Landesgrenzen die möglichen Folgen mit kühlerem Kopf abzuwägen beginnt. … Was überrascht, ist die Härte gegenüber Renzi. Zu sagen, dass der Reformvorschlag des Parlaments die demokratischen Prinzipien verletzt, dass der Premier Zeit mit unnützen Reformen vergeudet hat und dass paradoxerweise ein Sieg des Ja Italien eine Regierung der Protestbewegung von Beppe Grillo bescheren könnte, klingt wie ein vernichtendes Urteil. ... The Economist bestreitet also nicht den Ernst der Lage. Nur kommt er kurioserweise zu dem Schluss, dass Renzi selbst den Sorgen um die Zukunft des Lands den Weg bereitet hat - wegen eines Referendums, das als 'falsch' erachtet wird.“
Movimento 5 Stelle schon in den Startlöchern
Auch Diena skizziert das Szenario eines Ausstiegs Italiens aus der Eurozone:
„Das Referendum beweist einmal mehr, dass die bestehende politische Ordnung im Westen ernsthafte Korrekturen braucht. Eines der möglichen Szenarien sieht sogar vorgezogene Neuwahlen [in Italien] vor. Im Falle eines Siegs für Movimento 5 Stelle würde es wohl zu einem Referendum über den Verbleib Italiens in der Eurozone und in der EU kommen. Es bleibt nur zu hoffen, dass wir es lediglich mit einer kurzen Regierungskrise zu tun haben, was für dieses Land nichts Ungewöhnliches ist. Andernfalls könnte es für Italien bedeuten, dass die wirtschaftlichen Probleme nie gelöst werden. Hoffentlich wird das Referendum das Vertrauen in das bestehende politische System wiederherstellen. Oder zumindest klarstellen, dass nicht alle von italienischen Politikern getroffenen Entscheidungen nutzlos sind.“
Nebenwirkungen nicht verschweigen
Italien kann nicht so tun, als ob das Referendum nur das Land selbst und nicht die gesamte EU beträfe, meint La Stampa:
„Man gewinnt oft den Eindruck, dass in der derzeitigen Debatte zur Konsultation am 4. Dezember die Positionen der Befürworter und der Gegner [der Verfassungsänderung] abstrakt und für sich gesehen behandelt werden, als ob es sich um eine akademische Übung handle. Die 'Nebenwirkungen', die die Entscheidung nach sich zieht, scheinen darüber vergessen zu werden. Zu letzteren gehören aber auch finanzielle Folgen. Die Wähler müssen sich darüber im Klaren sein - auch wenn der Schwarzmaler Münchau hoffentlich unrecht hat - dass das 'Ja' wie auch das 'Nein' nicht neutral sind, was die Fortsetzung (und wünschenswerte Beschleunigung) der wirtschaftlichen Erholung Italiens angeht und was die Verhaltensweise Europa uns gegenüber betrifft. Beim Referendum gilt es, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, und einmal in der Wahlkabine angelangt, müssen diese Dinge zwangsläufig berücksichtigt werden.“
Medien schüren falsche Panik
Eine Ablehnung der Verfassungsreform würde letztlich den Zerfall der gesamten Eurozone nach sich ziehen - diese Sichtweise wurde in mehreren Medien verbreitet. Sie wollen sich wohl nicht wieder den Vorwurf anhören müssen, sie hätten die Gefahr verkannt, spottet Avvenire:
„Die katastrophalen Vorhersagen von Wall Street Journal und Financial Times zum italienischen Bankenrisiko rufen bei uns eine ebenso höfliche wie unvermeidbare Skepsis hervor. ... Zeitungen, die die herben Stimmverluste von Hillary Clinton oder das Votum für den Brexit nicht ahnten, lassen uns glauben, dass ihre Vorhersagen eher von den Appellen zur Mäßigung von Fonds, Investorenseilschaften oder anderen Mächten inspiriert sind, als von dem uneigennützigen Anliegen, zu erklären und zu informieren. ... Um dann wieder einräumen zu müssen, wie schon am Tag nach dem Brexit-Referendum und der Wahl Trumps, dass die Märkte sich anpassen und am Ende immer den Sieger feiern. Die Zeitungen sind nicht das Orakel von Delphi. Aber offenkundig haben das noch nicht alle begriffen.“
Renzis Niederlage wäre Katastrophe für Eurozone
Sollten die Italiener die Verfassungsreform ablehnen, könnte das zu einem Ausstieg des Landes aus der Eurozone und letztlich zu deren Auflösung führen, warnt Financial Times:
„Italien hat drei Oppositionsparteien, die alle den Ausstieg aus dem Euro wünschen. Die größte und wichtigste ist Movimento Cinque Stelle ... In demokratischen Staaten ist es normal, dass Oppositionsparteien irgendwann einmal an die Macht kommen. Das sollte man auch in Italien erwarten. Das Referendum ist wichtig, weil es den Weg Richtung Euro-Ausstieg beschleunigen könnte. Renzi sagte, er werde im Fall einer Niederlage zurücktreten. Das würde in ein politisches Chaos führen. Investoren könnten zum Schluss kommen, dass das Spiel aus ist. Am Morgen des 5. Dezember könnte sich Europa der unmittelbaren Bedrohung seines Zerfalls gegenübersehen.“
Ein weiterer Dominostein droht zu fallen
Auch Expresso wittert die nächste Krise:
„Für den Fall, dass die Verfassungsreform abgelehnt wird, hat Renzi seinen Rücktritt angekündigt. ... Seine Drohung hat den Umfragewerten nicht geholfen, ist aber Musik in den Ohren der Populisten, angefangen bei Beppe Grillo, dem [Chef des Movimento Cinque Stelle und] Clown, der davon träumt, Rom per Dekret brennen zu sehen. ... Die nächste Krise der westlichen Demokratien folgt in knapp zwei Wochen; kurioserweise wählt Österreich am gleichen Tag - zwischen einem Kandidaten der Grünen und einem Rechtspopulisten - einen neuen Präsidenten. ... Der 4. Dezember fungiert eindeutig als Generalprobe für das Wahljahr, welches in ganz Europa folgen wird. ... Die Märkte können Trump normalisieren, die Welt kann so tun, als ob nichts geschehen wäre, die Italiener können ohne Regierung leben und die Österreicher einem Rechtspopulisten als Präsidenten zuwinken. Doch die Summe dieser Ereignisse zementiert den Zustand, in dem wir uns befinden: Die Barbaren haben die Tore durchbrochen und feiern bereits.“