Brüssel will Flüchtlingsverteilung durchsetzen
"Getroffene Entscheidungen sind geltendes Recht, selbst wenn man dagegen gestimmt hat". Mit diesen Worten hat EU-Kommissionschef Juncker das Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen, Ungarn und Tschechien verteidigt. Die drei Staaten wehren sich gegen die 2015 beschlossene Umverteilung von Flüchtlingen. Sind Sanktionen gerechtfertigt? Und was müssten Brüssels nächste Schritte sein?
EU muss Solidarität einfordern
Die Regeln der EU müssen für alle Mitgliedsstaaten gelten, stellt El País klar:
„Ließe man die Verweigerung der gemäß der geltenden Entscheidungsmechanismen getroffenen Beschlüsse durchgehen, schüfe man damit einen gefährlichen Präzedenzfall. Jeder Staat könnte sich schlicht weigern, einen Beschluss umzusetzen und dabei - so wie jetzt Polen - argumentieren, die Entscheidung sei gegen die Interessen des Landes gefällt worden. In diesem Fall sind die Verweigerer sogar die Staaten, die am meisten EU-Gelder bekommen. Sie sind also Netto-Empfänger und weigern sich dennoch, die gemeinsame Last mitzutragen. ... Die Flüchtlinge kommen weiterhin und man kann das Problem nicht auf die Staaten an der Außengrenze abwälzen.“
Grenzschutz und klare Asylregeln einführen
Die EU darf sich nicht mit dem Verfahren gegen Polen, Ungarn und Tschechien begnügen, fordert Guy Verhofstadt, Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, in Le Vif:
„Wir müssen auch über das 'Vertragsverletzungsverfahren' hinausblicken. Es geht darum, schnell und entschlossen eine europäische Grenz- und Küstenüberwachung einzurichten, damit wir genau wissen, wer nach Europa kommt. Notwendig sind zudem einheitliche Asyl- und Zuwanderungsregeln, damit die Personen mit Einreiseerlaubnis über einen in der gesamten EU anerkannten Status verfügen. Nur so kann der Plan zur Verteilung von Flüchtlingen über die Behandlung der Symptome hinausgehen und zu einem logischen Eckpfeiler der europäischen Asylpolitik werden.“
Im Zeichen des Wahlkampfs
Dass er mitten in den tschechischen Wahlkampf fällt, verkompliziert den Flüchtlingsstreit zwischen Prag und der EU, erklärt Der Standard:
„Nach dem Rücktritt von Premier Bohuslav Sobotka als Chef der Sozialdemokraten übernimmt Innenminister Milan Chovanec die Partei, ein Hardliner in Sachen Flüchtlingspolitik. Und auch der konservative Ex-Präsident Václav Klaus poppt wieder auf und schwadroniert vom Austritt aus der EU, die Tschechien 'zum Gehorsam zwingen will'. Die Prager Politik wäre gut beraten, sich an den Anti-Flüchtlings-Wahlkampf des slowakischen Premiers Robert Fico zu erinnern. Dessen Erfolg blieb überschaubar. Dafür sitzen in der Slowakei jetzt aber die Rechtsradikalen im Parlament.“
Xenophobie hat in Europa keinen Platz
Ein großes Lob für Brüssel findet sich in Sme:
„Die Entscheidung der EU-Kommission ist richtig und begrüßenswert. Die drei Länder verhalten sich wie egoistische Grobiane, die Sicherheitsbedenken vorschieben, um ihre wirklichen, alles andere als lobenswerten Gründe zur Ablehnung der Aufnahme von Flüchtlingen zu verdecken: kulturellen und religiösen Chauvinismus. ... Die Nachricht aus Brüssel ist klar: Das Interesse an einem komfortablen Leben für sich selbst ist viel weniger dringlich als das Leben und die Sicherheit von Hunderttausenden Menschen. In Europa, das im Respekt vor den Menschenrechten aufgebaut wurde, hat die Losung 'Hier sind aber wir zuhause' auf kollektive humanitäre Entscheidungen keine Wirkung.“
Gesamte EU hat Flüchtlingspolitik verkorkst
Streng genommen müsste Brüssel nicht nur die Osteuropäer strafen, kommentiert die taz:
„Denn die EU-Kommission hat, Hand in Hand mit Merkel, die europäische Flüchtlingspolitik gegen die Wand gefahren. Der Neustart, der auf dem Höhepunkt der Krise 2015 versprochen wurde, ist gescheitert. ... Dabei hat Deutschland an der gemeinsam beschlossenen Umverteilung auch nie wirklich teilgenommen. Auch Großbritannien und Dänemark haben nicht mitgemacht. Frankreich und Benelux duckten sich ebenfalls weg. Die gesamte Umverteilungspolitik war von Anfang an verkorkst. Strafen machen sie nicht besser. Besser wäre es gewesen, legale Fluchtwege zu schaffen, mit offiziellen, von den EU-Ländern bewilligten Kontingenten. Doch das hat man nicht gemacht. Bis heute gibt es keine legalen Fluchtwege in die EU. Bis heute sind die Routen von Griechenland und Italien nach Mitteleuropa dicht. Auch das ist ein Skandal.“
Kein Terror-Export nach Ungarn!
Die Motive der Regierung in Budapest, sich gegen die Flüchtlingsquote zu wehren, erläutert der Kommentator Gyula Máté T. auf dem regierungsnahen Portal PestiSrácok:
„In den Augen von Juncker und Konsorten heißt Solidarität, dass auch wir etwas von dem Terror-Irrsinn abbekommen, den sie heraufbeschworen haben! Es kann ja nicht sein, dass die Menschen nur in Brüssel, Paris und London Angst haben müssen! Sollen doch auch die Tschechen, Polen und Ungarn vor Furcht erstarren! Es reicht wohl nicht, dass den osteuropäischen 'Kolonien' nur minderwertige Lebensmittel zum Fraß vorgeworfen werden. Sollen sie nun auch noch mit Terroristen überschwemmt werden? Wenn wir das schlucken, dann gibt es kein Halten mehr. Dann werden sie mit uns 'Renitenten' alles machen können, und wir werden brav das Maul halten müssen.“
PiS will sich Wiederwahl sichern
Warum sich die nationalkonservative polnische PiS-Regierung in dem Konflikt so starrköpfig verhält, erklärt der ehemalige PiS-Europa-Abgeordnete Marek Migalski in Rzeczpospolita:
„Sowohl die Regierung als auch der Präsident sehen im Befeuern der Ängste vor Migranten eine Garantie für Wahlsiege [bei der Parlamentswahl und der Präsidentenwahl] 2019 und 2020. Deswegen gehen sie einen offenen Konflikt mit der Kommission ein. Das bindet die Mehrheit der Polen an die PiS und an [Präsident] Duda und verringert ihr Vertrauen in die EU drastisch. ... Und genau das ist der Plan des Regierungslagers: Die Furcht der Gesellschaft vor den Flüchtlingen aufrechtzuerhalten, daraus das Hauptthema der Wahlkämpfe zu machen, den Konflikt mit Brüssel zu verschärfen und der Opposition die Rolle des Verteidigers von Terroristen zu geben.“
Streit um Verteilung ist Augenwischerei
Um die Sache geht es bei dem Gezerre um die Flüchtlingsverteilung gar nicht, erklärt Heti Válasz:
„Ungarn würde keineswegs daran zugrunde gehen, sollte das Land, so wie von Brüssel vorgeschrieben, 1294 Migranten bei sich aufnehmen. ... Und auch für die führenden Mitgliedsländer der EU sowie für Italien und Griechenland, die mehr Solidarität einfordern, ist es im Grunde egal, ob die Mitteleuropäer zehntausend Einwanderer aufnehmen oder nicht, werden doch binnen weniger Monate weit mehr Flüchtlinge allein an der Küste Siziliens angespült. Das Quotensystem ist keine tragfähige Lösung. Die Kommission hält an ihm fest, weil sie den Eindruck erwecken will, dass sie in Sachen Flüchtlingen etwas tut. In Wahrheit hat sie keinerlei Plan.“
Kampf muss ausgefochten werden
Auch für Gazeta Polska Codziennie geht es in der Auseinandersetzung um etwas Grundsätzlicheres:
„Der Kern des Streits zwischen der EU-Kommission und Polen über die Flüchtlingsquoten dreht sich um die Frage nach der Führung der Europäischen Union. Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der versucht wird, bestimmten Mitgliedsländern Entscheidungen aufzuzwingen, die keine rechtliche Grundlage haben. … Es besteht die Gefahr, dass ein Präzedenzfall für vertragswidrige Entscheidungen geschaffen wird, die die Souveränität der Staaten verletzen. … Heute betrifft das die Migranten, aber wenn dieses Entscheidungsmodell einmal Verwendung findet, kann es in Zukunft bei jeder beliebigen Frage angewandt werden. Natürlich können wir dem nicht zustimmen, und deswegen lohnt es sich, den Preis für diesen Streit zu zahlen.“
Tschechiens Migrationspolitik ist unseriös
Wenn Tschechien schon die Migrationspolitik der EU ablehnt, dann sollte es dabei ehrlich und konsequent handeln, kritisiert Hospodářské noviny:
„Wir lügen uns in die Tasche. Die Verteilungsquoten lehnen wir nicht ab, weil wir fürchten, dass sie nicht funktionieren, sondern weil wir Angst haben, dass sie funktionieren. … Faktisch bieten wir aber auch keine andere Lösung an, weder Europa, noch den Flüchtlingen. … Wir könnten seriös eine ständige Ausnahme auf diesem Feld mit der EU aushandeln wie beispielsweise Dänemark. Freilich mit allen Risiken, die damit verbunden sind. Wenn es etwa zu einer Eskalation des Konflikts in der Ukraine kommt und Tschechien von Hunderttausenden Flüchtlingen überschwemmt wird, Deutschland die Tore schließt und niemand uns helfen wird. Aber solange der Mechanismus gilt, dessen Teil wir sind, haben wir ihn zu respektieren.“
Prag hat sich Strafe selbst zuzuschreiben
Brüssel hat Tschechien und die anderen Mittelosteuropäer oft genug gewarnt, erinnert Mladá fronta dnes:
„Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht. Tschechiens Innenminister Milan Chovanec hat oft wiederholt, dass sein Land auf Grundlage der EU-Quoten keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wird. Am Ende hat er das als einen Beschluss der Regierung durchgesetzt. Gänzlich unnötig. Das war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Absichtlich hat Prag alle Warnungen ignoriert, die aus Brüssel kamen. Der EU-Kommissar für die Flüchtlinge hatte vergangene Woche noch einmal betont, dass Solidarität in der Migrationskrise eine moralische, politische und juristische Verpflichtung ist. Nunmehr hat er juristische Schritte vorgeschlagen. Die könnten mit sehr hohen finanziellen Strafen enden.“
Flexible Solidarität ein einziger Schwindel
In Brüssel hat man begriffen, dass die von den Visegrádstaaten angekündigte "flexible Solidarität" in der Migrationsfrage überhaupt keine Solidarität ist, konstatiert Dennik N:
„'Flexible Solidarität' sollte nach den offiziellen Erklärungen der Slowakei, Ungarns, Tschechiens und Polens heißen, dass jeder Staat etwas nach seinen Möglichkeiten zur Lösung der Krise beiträgt. In Brüssel und in den anderen Mitgliedsstaaten ist man aber nicht so dumm, wie es die Mittelosteuropäer hofften. Man hat mittlerweile begriffen, dass es sich um einen billigen Betrug handelt. ... Wir sollten uns nicht aufregen, wenn man in Brüssel jetzt über finanzielle Sanktionen gegen uns nachdenkt. Schon gar nicht sollten wir der EU mangelnde Solidarität vorwerfen. Solidarität ist ein Wort, das wir besser überhaupt nicht in den Mund nehmen sollten.“