Ist der Rausschmiss russischer Diplomaten richtig?
Neben Großbritannien weisen 17 EU-Mitglieder russische Diplomaten als Reaktion auf den Giftanschlag in Salisbury aus. Auch wenn Staaten wie Österreich, Griechenland, Zypern und die Slowakei sich nicht anschließen: Mit solch einer Reaktion hat Putin wohl nicht gerechnet, meinen einige Kommentatoren. Andere kritisieren die Doppelmoral westlicher Staaten.
Putin hat den Westen unterschätzt
Der russische Präsident hat nicht damit gerechnet, dass der Westen relativ geschlossen auf den Giftgasanschlag reagiert, vermutet Savon Sanomat:
„Putin hat offenbar den Fehler gemacht, die Solidarität der EU-Länder untereinander unterschätzt zu haben. Ungeachtet der schwierigen Brexit-Verhandlungen steht die Mehrheit der EU-Staaten in dem Vergiftungsstreit hinter Großbritannien. Die USA wiederum haben mit der Ausweisung von insgesamt 60 Diplomaten und der Schließung des russischen Konsulats in Seattle am schärfsten reagiert. Es gab während Trumps Präsidentschaft genug Reibereien in den Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa, unter anderem in Form eines weiterhin drohenden Handelskriegs. Russland als gemeinsamer Feind könnte unbeabsichtigt die Annäherung der alten Verbündeten befördert haben.“
Doppelmoral des Westens
Die westlichen Staaten agieren heuchlerisch, meint Večer:
„Wenn wir uns der abgestimmten diplomatischen Hetzjagd des Westens anschließen, hinter der die Machtlosigkeit gegenüber der russischen Verstrickung in der Ukraine steht, bestätigen wir zugleich, dass hinter dem Giftanschlag russischer Staatsterrorismus steckt. Doch dann müssen wir uns fragen, warum wir nicht auch Diplomaten anderer Länder ausgewiesen haben, die ebenfalls Staatsterrorismus betreiben. ... Die USA haben in Südamerika rechtmäßig gewählte Regierungen gestürzt, Bush hat auf der Grundlage erfundener Massenvernichtungswaffen den Irak angegriffen, Obama hat mit Drohnen weltweit wahre und vermeintliche Feinde getötet. London hat in diesen Angelegenheiten die USA stets als erstes unterstützt. Doch diese Diplomaten haben wir nie ausgewiesen. Schließlich sind wir Verbündete der Nato, nicht wahr?“
EU fehlt die gemeinsame Stimme
Selten ist die Spaltung der EU offensichtlicher zutage getreten als in der Russland-Frage, kommentiert die Tageszeitung Bild:
„Fast die Hälfte der EU-Staaten will keine Ausweisungen. ... Russlands Präsident Putin wird sich freuen, dass Europa keine gemeinsame Stimme findet. So wird europäische Außenpolitik nicht funktionieren! Umso wichtiger für Deutschland, dass die neue Regierung Kante zeigt. Und dass wir mit Heiko Maas wieder einen Außenminister haben, der sagt, was Sache ist - obwohl große Teile seiner Partei weiter Verständnis für die russische Politik zeigen. So sieht verantwortungsvolles Regieren aus!“
Portugal darf sich nicht isolieren
Portugal hat bisher kein russisches Botschaftspersonal des Landes verwiesen und muss endlich handeln, fordert Público:
„Am Montag hat der Westen ein deutliches Signal an Moskau gesendet und gezeigt, dass eine Grenze überschritten wurde und sich genug Misstrauen gegenüber dem Vorgehen Moskaus angesammelt hat. ... Dieser koordinierte Rausschmiss formalisiert eine neue Ära. Eine Ära, von der wir bereits wussten, dass wir in sie eingetreten waren. ... Zu einer Zeit, da mehr als die Hälfte Europas Einheit signalisiert und zeigt, dass man die Bedrohung unserer Demokratie und Souveränität nicht mehr dulden wird, sollte Portugal sich nicht isolieren. Vor allem darf Lissabon keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass man Prinzipien nicht bricht und Verbündete nicht im Stich lässt.“
Finnland könnte auch mal Hilfe brauchen
Gerade aus geopolitischer Sicht ist es richtig, dass auch Finnland einen russischen Botschaftsmitarbeiter die Koffer packen lässt, lobt Kaleva die Entscheidung der Regierung in Helsinki:
„Finnland hat sich auf Beschluss der Staatsführung der richtigen Gruppe angeschlossen und ist nicht in einer Grauzone geblieben. Weniger als einen Diplomaten kann man nicht ausweisen, aber auch diese Entscheidung reicht aus, um die nötige politische Botschaft zu senden. … Aus finnischer Sicht ist das Entscheidende bei diesem ganzen Prozess, dass die Regierung eindeutig ein Land unterstützt, das zur selben Wertegemeinschaft gehört und Ziel einer böswilligen Operation von außen wurde. Als Land mit einem unberechenbaren Nachbarn kann es passieren, dass auch Finnland einmal ähnliche Unterstützung benötigt.“
Österreich will Putin nicht verärgern
Unter den Ländern, die sich von den Strafmaßnahmen gegen Russland distanziert haben, nimmt Österreich eine Sonderstellung ein, erklärt Corriere della Sera:
„'Die Entscheidung ist richtig, aber wir nehmen nicht daran teil', lautet die seiltänzerische Erklärung des jungen Kanzlers. Eine Entscheidung, die nicht nur mit der traditionellen Neutralität Österreichs zu tun hat, sondern auch mit den guten Beziehungen, die Kurz' Koalitionspartner, der Vizekanzler und Chef der rechtsnationalistischen FPÖ, Heinz-Christan Strache, mit Moskau unterhält: Seine Partei hat gar einen Vertrag zur Zusammenarbeit mit der Partei Putins unterzeichnet. ... Eine besondere Qualität erhält die Entscheidung dadurch, dass erstmals beide Regierungsparteien gemeinschaftlich hinter dem Entschluss stehen, sich Strafmaßnahmen [gegen Russland] nicht anzuschließen.“
Kroatien war mal wieder nicht selbstständig
Statt sich auf das Bündnis mit den anderen Staaten zu berufen, hätte Kroatien sich ein eigenes Urteil über Schuld oder Unschuld Russlands in der Skripal-Affäre bilden sollen, findet Forum.tm:
„Kroatien hat akzeptiert, dass man ohne Beweise ein Land verurteilt, das in vieler Hinsicht (wirtschaftlich bis politisch) interessant sein könnte. Es hat damit die wahrscheinlich letzte Chance vertan, sich als Land zu präsentieren, das weiß wo seine Interessen liegen, Dinge selbstständig und reif einschätzen kann und selbst entscheidet. Werden jetzt keine konkreten und unverfälschten Beweise für eine Beteiligung Russlands im Fall Skripal vorgebracht, steht Kroatien wie ein Land da, das sich seiner Selbständigkeit und Souveränität nicht bewusst ist.“
Mays diplomatischer Coup
Theresa May hat es geschafft, ihre Verbündeten zu einem harten Kurs gegenüber Moskau zu bewegen, lobt die BBC:
„Die kollektiven Ausweisungen vonseiten der USA und der EU-Staaten zeugen von einer bemerkenswerten Solidarität mit Großbritannien. Umso mehr, als sie zu einer Zeit kommen, in der die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU wegen der Brexit-Verhandlungen angespannt sind. Donald Tusks Botschaft, es könne 'weitere Maßnahmen' geben, sendet Moskau, das noch über seine Reaktion nachdenkt, ein Signal. Theresa May hat einen großen diplomatischen Erfolg errungen. Auf die starke rhetorische Unterstützung ihrer Verbündeten folgen nun aufeinander abgestimmte Taten.“
EU und USA endlich wieder Seit an Seit
Diesmal geht die Strategie des Kreml nicht auf, freut sich der EU-Experte von Corriere della Sera, Franco Venturini:
„Eines der Hauptziele der russisch-sowjetischen Strategie war immer, den Westen zu spalten und die transatlantischen Beziehungen zu schwächen. Im vergangen Jahr dürfte Putin sich daher die Hände gerieben haben. ... Doch nach der Vergiftung des Ex-Spions Skripal und seiner Tochter zeichnet sich eine Kehrtwende ab. ... Denn es galt, sich solidarisch mit Großbritannien zu zeigen. Eine Solidarität, die dem Kern eines noch immer uneinigen Europa auch als willkommene politische Gelegenheit erschienen sein muss. ... Die zweite politische Gelegenheit betrifft Trump und sein Verhältnis zu Europa. ... Dass Trump in die vierseitige Erklärung von Salisbury einbezogen wurde, ist der guten Beziehung des französischen Präsidenten zum Chef des Weißen Hauses zu verdanken.“
Der willkommene Feind
Die konzertierte Ausweisung russischer Diplomaten folgt hingegen für Mladá fronta dnes einem zu einfachen Muster:
„Wladimir Putin wird mittlerweile für alles Böse auf der Welt verantwortlich gemacht. Für die EU-skeptische Haltung Ungarns, das Referendum in den Niederlanden, die französische Rechte, die erfolgreiche Kampagne zum Brexit oder die für Donald Trump siegreiche US-Wahl. Schon seltsam, dass Putin nicht auch für das Kindbettfieber im afrikanischen Zimbabwe die Schuld trägt. In diese Reihe passt, dass der Kreml ohne Untersuchung und ganz automatisch die Verantwortung für den Anschlag auf Skripal und dessen Tochter zugeschoben bekam.“
Echte Freunde hätten anders agiert
Die Ausweisung russischer Diplomaten ist falsche Solidarität mit Großbritannien, findet der Europa-Korrespondent Stephan Israel in Der Bund:
„Es ist kein Geheimnis, dass im 'Moskau an der Themse' seit Jahren in grossem Umfang russisches Geld gewaschen und in superteuren Immobilien angelegt wird. Die Londoner City eignet sich dank der angehängten britischen Steueroasen hierfür besonders gut. Auch der russische Staat hat den Finanzplatz gerade wieder genutzt um Anleihen aufzulegen, um die sich die Investoren gerissen haben sollen. Echte Freunde hätten die britische Regierung gedrängt, als Antwort auf den Nervengas-Angriff endlich mal im Sumpf der Oligarchen mit ihren privilegierten Investorenvisa und dem Geld umstrittener Herkunft aufzuräumen.“
Niemand will die Wahrheit aufdecken
Zur Aufklärung des Giftanschlags trägt die Ausweisung russischer Diplomaten jedenfalls nicht bei, kritisiert auch Iswestija:
„Die massenhafte Ausweisung 'als Zeichen der Solidarität' mit einem Land, das in seiner Provinz noch nicht einmal eine polizeiliche Untersuchung kompetent durchführen kann, ist ein wunderlicher und in der zivilisierten Gesellschaft noch nicht dagewesener Akt. Es ist bemerkenswert, dass die Amerikaner nicht einmal, wie sonst in solchen Fällen üblich, versucht haben, den Briten Hilfe durch ihre 'FBI-Spezialisten' zu schicken. Das ist die normale Praxis. Das FBI gastiert schließlich oft irgendwo mit unterschiedlichem Erfolg. ... Doch hier hat entweder Theresa May abgelehnt oder niemand wollte von Anfang an die Wahrheit aufklären. Eine solch kollektive Protesterklärung hat jedenfalls keinen praktischen Sinn.“