Italien in der Krise: Welchen Anteil trägt Europa?

Der Triumph euroskeptischer Parteien, eine umstrittene Entscheidung des Präsidenten, nervöse Finanzmärkte und im Hinterkopf das Griechenland-Drama: Die Gemengelage lässt Kommentatoren die Frage stellen, inwiefern die aktuelle politische Krise in Rom durch Strukturen in der EU und Europa zu erklären ist.

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Le Temps (CH) /

Mit Migranten im Stich gelassen

Europa, und vor allem die Schweiz, hat die Krise massiv mitverschuldet, meint Aldo Brina vom protestantischen Sozialzentrum in Le Temps:

„Mehrere Faktoren haben dazu geführt, dass in Italien anti-europäische Populisten an die Macht gekommen sind. Aber lassen Sie uns einen besonders hervorheben, den viele Beobachter für ausschlaggebend halten: Ein Teil der Italiener hat das Gefühl, dass die anderen europäischen Länder sie bei der Migrationsfrage im Stich gelassen haben. Sie haben nicht völlig Unrecht, und leider ist die Schweiz eines der Länder, die für diese Situation am stärksten verantwortlich sind. ... Man kann nicht jahrelang Tausende von Personen zurück schicken, indem man sich auf ein Regelwerk beruft, das gegen die elementarsten Regeln des gesunden Menschenverstands verstösst, und sich dann wundern, wenn eines Tages die Retourkutsche kommt.“

Les Echos (FR) /

Leider kein Finanzausgleich zwischen Euroländern

Die Krise in Italien hat wirtschaftliche Gründe, meint Patrick Artus, Vorstandsmitglied und Chefökonom bei Natixis, der Investmentbank der französischen Sparkassen, in Les Echos:

„Sie wurde auch von der institutionellen Schwächen der Eurozone ausgelöst. Der fehlende Föderalismus hat zwei schlimme Konsequenzen. Erstens gibt es keinen Mechanismus, der den Einkommensunterschied zwischen den Ländern der Eurozone ausgleicht. Reiche Länder mit starkem Wachstum geben armen Ländern mit schwachem Wachstum nichts. Das BIP pro Kopf ist in Italien im Vergleich zu Deutschland um 30 Prozent gesunken, die Kaufkraft der italienischen Haushalte ist seit 2007 in absoluten Werten um zwölf Prozent zurückgegangen. Es ist die Verarmung der Italiener, die sie in die Arme der Populisten getrieben hat. Die zweite Konsequenz ist, dass es keine kollektive Risikoübernahme für die Staatsschulden zwischen den Ländern der Eurozone gibt.“

Corriere della Sera (IT) /

Chauvinismus so schädlich wie Protektionismus

Wenn Europa nicht gemeinsam den Chauvinismus bekämpft, wird er die Union zerstören, warnen die Journalisten Federico Fubini und Wolfgang Münchau in Corriere della Sera:

„Am Beispiel Italiens lassen sich die Gründe dafür erörtern, warum es so weit gekommen ist. ... Diese Gründe sagen uns, dass die Reformen, die den Euroraum wirklich 'widerstandsfähiger' machen können, sich nicht nur auf irgendeinen neuen Finanzmechanismus beschränken dürfen. Der Wandel, den Europa braucht, muss politischer Natur sein: Die EU-Länder müssen lernen, gemeinsam den Chauvinismus zu bekämpfen, wie nach der Großen Depression den Protektionismus. ... Doch wir bezweifeln, dass wir die Lektion früh genug lernen werden. Wir schauen einfach weiter zu wie damals.“

The Daily Telegraph (GB) /

Traum der EU-Liebhaber führt in Katastrophe

Den EU-Befürwortern ist kein Preis zu hoch, um ihre verkehrten Ziele zu erreichen, schimpft The Daily Telegraph:

„Die Weltanschauung, die viele Anhänger eines vereinten Europas antreibt, basiert auf einer einfachen, jedoch nachweislich falschen Grundannahme: Nämlich dass 'Uneinigkeit' und die Existenz miteinander konkurrierender Nationalstaaten die Ursache für den Ersten und Zweiten Weltkrieg waren - und dass die Schaffung eines gesamteuropäischen Staates die einzige Chance ist, Europa vor sich selbst zu retten. ... Das erklärt die rücksichtslose Vorgehensweise der EU-Befürworter und deren zunehmend erfolgreichen Bemühungen, einen echten Brexit zu verhindern. Es macht zudem verständlich, warum die EU die obszöne Vernichtung der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung durch Madrid unterstützt und warum Italiens Präsident nun einen euroskeptischen Finanzminister ablehnt.“

wPolityce.pl (PL) /

An allem ist nur Deutschland schuld

Michał Karnowski, einer der Herausgeber des rechten Internetportals Wpolityce.pl, sieht Deutschland als Bedrohung für den Zusammenhalt in Europa:

„Alle paar Monate schlägt das europäische Establishment, das von den deutschen Medien und Berliner Politikern gesteuert wird, Alarm, dass ein weiteres Land sich 'aufzulehnen' beginnt: ... Die Ungarn, weil sie von einer Demokratie ohne das Adjektiv 'liberal' geträumt haben; die Polen, weil sie auf Kaczyński gesetzt haben; die Österreicher, weil sie falsch gewählt haben; die Italiener, weil sie die Linke abgelehnt haben. Mit jedem Monat wird die Frage drängender, wie es möglich ist, dass nur Deutschland sich in der EU wohl fühlt. ... Wenn das Projekt EU irgendwann in die Brüche geht, werden daran nur die Deutschen schuld sein. Sie wollen wieder alles haben, wieder können sie alles verlieren, wobei sie riesiges Unglück über den Kontinent bringen.“

Le Monde (FR) /

Stadt-Land-Kluft ebnet Populisten den Weg

Der Wahlerfolg der Populisten in Italien ist auf die gleichen Ursachen wie der Leave-Sieg beim Brexit-Referendum zurückzuführen, analysiert Le Monde:

„Der Aufschwung in Europa kommt zunächst den großen Metropolen zugute. Das geht auf Kosten der weniger dynamischen Regionen, wo Verlagerungen und Schließungen von Fabriken den Alltag prägen. ... Die Einwohner kosmopolitischer Großstädte sind, da sie stärker als die Menschen anderswo das Gefühl haben, an der Globalisierung teilzuhaben, weniger empfänglich für die Argumente von Populisten, Euroskeptikern und Protektionisten. Sie sind daher weniger geneigt, diesen Kräften ihre Stimme zu geben. Besorgniserregend ist dieses territoriale Gefälle nicht nur angesichts seiner Auswirkungen auf die Wahlen. Langfristig wird es sich auch als Handicap für das Wachstumspotential der Länder erweisen.“

Yeni Şafak (TR) /

Italien könnte Europas Ende einleiten

Von Europa entfremdet, könnte Italien letztlich den ganzen Kontinent ins Verderben stürzen, glaubt Yeni Şafak:

„Die Italiener sind emotional schon lange von der EU getrennt: durch die EU-Schuldenkrise, die bitteren Rezepte der von Brüssel, Berlin und Paris präsentierten Sparpolitik, die seit der EU-Gründung zunehmende Nord-Süd-Kluft und das Missmanagement der Flüchtlingskrise - die wiederum ein Resultat der falschen Nahostpolitik der USA ist. ... Schon länger sehen junge und mittelalte Wähler in Italien die Cinque Stelle als Rettung Italiens und den Punkt, an den auch andere europäische Länder kommen werden. ... Der Effekt dieser neuen populistischen Bewegung, die gegen Europa und die Globalisierung und für Umweltschutz plädiert, könnte tatsächlich die letzte Station für Europas Zukunft sein. Fest steht bereits, dass dies ein zerstörerisches Ende wäre.“