Idlib-Offensive: Externe Akteure in Lauerstellung
Das Regime in Damaskus und Moskau haben die Angriffe auf das letzte große Rebellengebiet in Syrien begonnen. Die Offensive in Idlib könnte nicht nur zu heftigen Kämpfen vor Ort, sondern - im Fall eines Giftgaseinsatzes - auch zu einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und Nato-Staaten führen. Lässt sich die Eskalation noch verhindern?
Moskau muss Teheran und Damaskus bremsen
Radio Kommersant FM ruft Russlands Führung angesichts der Gefahr einer internationalen Eskalation in Idlib zur Besonnenheit auf:
„Moskau könnte versuchen, die Hitzköpfe in Damaskus und Teheran zu überzeugen, sich zurückzuhalten und hauptsächlich die radikalen Dschihadisten zum Angriffsziel zu nehmen und jene zu schonen, die die Türkei als ihre Verbündeten betrachtet und für die sie bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. ... Damit vermeidet man einen Massenexodus von Flüchtlingen, den die Türkei und die EU so fürchten. Militärisch gesehen ist dies natürlich nicht die beste Lösung. ... Aber manchmal müssen politische Überlegungen über militärischen stehen. Erst recht, wenn das Risiko einer globalen Verschärfung so groß ist, dass die Lage außer Kontrolle geraten kann. Dann muss man elementar Zeit gewinnen.“
Reines Machtspiel zwischen USA und Russland
In Deutschland wird diskutiert, ob die Bundeswehr in Syrien eingesetzt werden sollte, wenn es dort zu Giftgasangriffen kommt. Die taz ist strikt dagegen:
„Auch die jetzige Debatte wird im Zweifel weder Assad noch die Nusra-Front davon abhalten, Chemiewaffen einzusetzen, wenn sie sich davon einen Vorteil erhoffen. Schon lange bevor die USA behaupteten, Assad bereite einen weiteren Chemiewaffenangriff vor, hatte Russland behauptet, Kenntnisse über ebensolche Aktivitäten der Islamisten zu besitzen. Beide Behauptungen sind Teil eines Propagandakrieges, der nur verdeckt, was tatsächlich vor Ort passiert. Russland will einer Delegitimierung seines vorgeblichen 'Antiterrorkrieges' vorbeugen, Trumps Militärs wollen demonstrieren, dass sie in Syrien auch noch eine Rolle spielen. Warum sollte sich die Bundeswehr an Machtspielen beteiligen, die den Menschen in der Region nichts nützen?“
Um humanitäre Fragen geht es nicht mehr
In Idlib verfolgen alle Staaten mit Ausnahme der Türkei eigene Interessen, beklagt Daily Sabah:
„Russland, Iran und die USA haben mittlerweile in Bezug auf die Krise nur noch strategische Belange, und keiner der drei Akteure sorgt sich um humanitäre Fragen. Iran und seine Stellvertreter - die pro-iranischen Milizen, die Hisbollah-Militanten und das Assad-Regime - begehen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem sie unschuldige Zivilisten töten. Der Iran hat das Assad-Regime unterstützt, und trägt deshalb Mitverantwortung an dessen Kriegsverbrechen. Durch die Stationierung von tausenden Truppen vor Ort ist der Iran der am stärksten involvierte Staat in dieser Krise und hält Syrien für die größte Festung seiner Regionalpolitik.“
Westen hat keine Antwort
Der Handlungsspielraum der westlichen Länder in Idlib ist nicht sehr groß, fürchtet der Nahostexperte Ihor Semywolos in Apostroph:
„Viel wird von den Amerikanern, von Trump abhängen. Wenn bei Trump oder im Pentagon plötzlich genügend Argumente auftauchen, eine Serie von Militärschlägen zu starten, und nicht nur einen, dann könnte sich die Situation in gewissem Maße ändern. Wenn die Assad-Leute dann die Offensive stoppen, dann würde das faktisch das Scheitern der Operation bedeuten. Die Frage ist, inwieweit die westlichen Verbündeten zu solch einer Antwort in der Lage sind. Ich habe keine Antwort darauf und ich fürchte, sie haben diese auch nicht.“
Wenig Hoffnung für Nachkriegs-Syrien
Der Dreiergipfel zwischen der Türkei, Russland und dem Iran am Freitag in Teheran hat verdeutlicht, dass es um die Zukunft Syriens schlecht bestellt ist, kommentiert Birgün:
„Laut des Magazins The Economist vom 4. August 2018 wird für den Wiederaufbau Syriens ein Fond in Höhe von 250 Milliarden Dollar benötigt, und dafür kann selbstverständlich nicht die Syrien-Russland-Iran-Front aufkommen. Für Europa hingegen, das in Assad ohnehin nur einen mordenden Despoten sieht, ist in dem Konflikt vor allem wichtig, wie ein weiterer Zuzug von Flüchtlingen verhindert werden kann. Und Assad selbst verfolgt ebenfalls eigene Interessen. Auch er sucht nach Wegen, wie er aus der Katastrophe neue Chancen schaffen kann. Den Exodus der Geflüchteten aus seinem Land sieht er als Gelegenheit, eine 'gesündere und homogenere Gesellschaft' zu erschaffen.“
Türkei ist ein zentraler Akteur
Von Ankara hängt ab, wie sich die Lage in Idlib und der ganzen Region entwickeln wird, analysiert die regierungsnahe Tageszeitung Iswestija:
„Die Türkei muss darauf hinwirken, dass die Terroristen, darunter Zehntausende Ausländer, die Waffen niederlegen und die Region verlassen. ... Doch dabei gibt es viele Stolpersteine. Denn zuvor hat die Türkei die Dinge nicht in dieser Richtung forciert, da viele Gruppierungen in Idlib seit Beginn des Konflikts in Syrien unter ihrer Kontrolle stehen. Für Erdoğan ist es verlockend, so lange wie möglich in Idlib zu bleiben. Verbal unterstützt er das Prinzip der territorialen Integrität Syriens, faktisch hat die Türkei eine Art Protektorat geschaffen - unmittelbar neben dem US-Protektorat am Ostufer des Euphrats.“
Putin braucht die Europäer
In der Schlacht um Idlib entscheidet sich, wie der Syrienkrieg zu Ende geht und wer beim Neuaufbau des Landes dabei ist, analysiert der Autor der Wochenzeitung Die Zeit, Michael Thumann, im Deutschlandfunk:
„Am Ende hängt alles an Putin. Lässt er die Assad-Milizen auf Idlib los, ermöglicht er zwar die Wiedervereinigung Syriens zu den Bedingungen des Regimes. Als Reaktion aber würden die Türken und Europäer Folter, Mord und Vertreibung, womöglich Gaseinsätze anprangern, die zu Assads bevorzugter Befriedungsmethode gehören. Putin braucht Türken und vor allem die Europäer, um irgendwann das Land wieder aufzubauen. Das ist das vielleicht stärkste Druckmittel gegen Moskau. Nach einem blutigen Triumph Assads würde niemand helfen wollen. Putin versucht daher, Assad auf einen Zeitlupensieg zu verpflichten: Langsam voranrücken, Verhandlungen vortäuschen, sicher gewinnen.“
Diesmal hört der Westen auf Russland
Der Westen schlägt sich im Syrien-Konflikt endlich auf die Seite Russlands, freut sich die prorussische Duma:
„Die USA und Europa haben bereits gewarnt, dass sie die syrische Armee angreifen werden, wenn sie chemische Waffen einsetzt. Doch Moskau und Damaskus haben diesmal dafür gesorgt, dass sich der Westen keine Chemiewaffen-Provokation zusammenschustern kann, die als Grund für neue Militärschläge dienen soll. ... Diesmal wird Donald Trump nicht auf die Lüge eines vermeintlichen Giftgas-Anschlags hereinfallen und entsprechend keine Militärschläge gegen Syrien anordnen. Wenn es doch dazu kommen sollte, wird der Einsatz eher symbolisch ausfallen und man wird ihn als 'Beitrag zur Bekämpfung des Terrorismus in der Region' rechtfertigen.“
Moskau und Ankara vor Stunde der Wahrheit
Um ein Massaker und eine Massenflucht von ungekannten Ausmaßen abzuwenden, sieht die Süddeutsche Zeitung jetzt Russland und die Türkei in der Pflicht:
„Russland müsste dafür seinen ganzen Einfluss in Damaskus einsetzen: seine Luftunterstützung. Die Türkei müsste zugleich die einst in die Vereinbarungen mit Moskau einbezogenen Rebellen dazu bringen, eine Rückkehr des Regimes nach Idlib zu akzeptieren. Gemeinsam müssten sie gegen [den Al-Kaida-Ableger] Hayat Tahrir al-Scham kämpfen. Das Gipfeltreffen von Russland und der Türkei mit Iran [am Freitag in Teheran], der dritten Garantiemacht, bietet Gelegenheit zu solchen Vereinbarungen.“
Das Ende des Astana-Prozesses
Hürriyet Daily News sieht die Syrien-Diplomatie am Ende:
„Das russisch-syrische Duo scheint entschlossen zu sein, eine militärische Offensive in der Provinz zu starten, um Terroristen zu eliminieren und die Kontrolle des Regimes in Westsyrien zu festigen, noch bevor die Bemühungen um eine politische Lösung beginnen. Der russische Luftangriff am 4. September ist eine klare Botschaft in diese Richtung, die nicht viel Hoffnung für Diplomatie lässt. Wenn die Militäroffensive trotz Ankaras Bedenken gestartet wurde, dann wäre sie de facto das Ende des Astana-Prozesses, wie oft von offizieller türkischer Seite erklärt. Russlands Entscheidung über Idlib wird sicherlich zu einer Neudefinition seiner Zusammenarbeit mit der Türkei im syrischen Theater führen.“
Europa ist reich, aber ohnmächtig
Die EU wird noch Jahrzehnte brauchen, um auf Konflikte wie in Syrien angemessen reagieren zu können, fürchtet die Wiener Zeitung:
„So lange wird es wohl dauern, bis die in der Union gebündelten europäischen Nationalstaaten die materielle wie die mentale Fähigkeit aufgebaut haben, in benachbarten Konflikten mit Beteiligung externer Regionalmächte entscheidend einzugreifen - und zwar optimalerweise präventiv. Und weil es bis dahin noch ein steiniger Weg ist, bleibt der EU nichts anderes als zu bangen. Der größte und wohlhabendste Wirtschaftsraum kann beim blutigen Schlussakt in seiner unmittelbaren geografischen Nachbarschaft nichts anderes tun, als darauf zu hoffen, dass der Blutzoll sich in Grenzen hält und nicht erneut eine Flüchtlingswelle in Gang setzt. Reich und ohnmächtig: Das ist die Lage Europas.“
Mit Geld kann EU Druck ausüben
Le Monde hingegen sieht durchaus noch Handlungspotential für Europa:
„Die Türkei, die bereits drei Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt, kann den Exodus der Einwohner Idlibs möglicherweise nicht aufhalten. So könnte unserem Kontinent kurz vor der Europawahl eine neue Flüchtlingskrise drohen. Die Lage ist klar: Die USA ziehen sich zurück und Russland fungiert als regionaler Schiedsrichter. Putin erwartet, dass die Europäer den Wiederaufbau des ausgebluteten Landes finanzieren, an dessen Spitze er Baschar al-Assad rehabilitiert hat - den Assad, der sein eigenes Volk ermordet hat. Den Europäern bietet sich somit ein finanzieller Hebel, den sie nutzen müssen, um genau dieses Szenario zu verhindern und eine politische Transition in Damaskus zu verlangen.“
Zurückhaltung rächt sich
Für Aamulehti zeigt der Krieg in Syrien, dass die EU sich nicht nur auf den Schutz ihrer Grenzen konzentrieren darf:
„Welche Lehre lässt sich aus dem Syrienkrieg ziehen? Zumindest, dass Untätigkeit auch die internationale Gemeinschaft letztendlich teurer zu stehen kommt als ein frühzeitiges und schnelles Eingreifen bei Konflikten. Nichts hat die Europäische Union in ihrer Geschichte so durcheinander gebracht, wie die durch den Syrienkrieg verursachte Flüchtlingswelle. Das Aufkommen radikaler Bewegungen in Europa offenbart, dass Untätigkeit unmittelbar an der liberalen Demokratie nagt. Die Europäische Union sollte nicht nur an die Verteidigung ihres eigenen Gebiets denken und in Zukunft auch bereit sein, in Konfliktregionen wie Syrien militärisch zu intervenieren.“