Welche Folgen hätte der US-Rückzug aus Syrien?
Spitzenpolitiker im In- und Ausland haben Trumps Entscheidung scharf kritisiert, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen. Die Vereinigten Staaten haben bislang rund 2.000 Soldaten in dem Bürgerkriegsland stationiert. Auch wenn sich nun eine Verschiebung des Abzuges abzeichnet, beobachten Kommentatoren ein Erstarken radikalislamischer Kräfte und erwarten eine neue Veränderung der Machtverhältnisse in Syrien.
Jetzt haben Putin und Assad freie Hand
Das Dschihadistenbündnis Hayat Tahrir al-Scham (HTS) hat nach eigenen Angaben ein Abkommen über eine Waffenruhe in der Provinz Idlib geschlossen und damit die Region komplett unter ihre Kontrolle gebracht. Warum die Nachricht für Ankara ein Rückschlag ist, erklärt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Russland hatte im vergangenen Herbst dem Verzicht auf eine Offensive gegen Idlib nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die Türkei dort die Entwaffnung der Terrorgruppen durchsetzt. Das ist nicht geschehen. Noch schlimmer ist: Die schlagkräftigste dieser Terrorgruppen kontrolliert nun Idlib, was die Kriegsgefahr erhöht. Da die Türkei ihre Verpflichtungen nicht erfüllt hat - stattdessen konzentrierte sie sich auf eine militärische Offensive gegen die syrischen Kurden -, sind Russland und das Regime in Damaskus nun auch nicht mehr an ihre Zusage gebunden, Idlib nicht anzugreifen.“
Moskau hat kein Interesse an Stärkung Ankaras
Ein Abzug der US-Truppen aus Syrien wird sich unmittelbar auf die Türkei-Russland-Beziehungen auswirken, prophezeit der Diplomat Serhij Korsunskyj in Ukrajinska Prawda:
„Die Türkei und Russland haben bis vor Kurzem ihre Handlungen in Syrien eng koordiniert. Jetzt werden russische Einheiten verlegt, um die Kurden vor der türkischen Armee zu schützen, denn die Kurden sind langjährige Partner Russlands, das diese jahrzehntelang benutzt hat, um Probleme in der Region zu schaffen. ... Russland ist überhaupt nicht an einer Stärkung der Position der Türkei interessiert, besonders im Kontext der [von Ankara angekündigten] Beseitigung der 'kurdischen Gefahr'. Und das stellt die Allianz von Ankara und Moskau in Syrien infrage.“
Damaskus muss Nordsyrien kontrollieren
Anstatt vom Machtausbau in Syrien zu träumen, muss Ankara wieder in einen Dialog mit dem Assad-Regime treten, glaubt Cumhuriyet:
„Die Türkei sollte endlich die Tatsache begreifen, dass der Weg zu einer Lösung in Syrien über Damaskus führt und sich dementsprechend verhalten. ... Die USA haben angekündigt, der [syrisch-kurdischen] PYD-YPG die Unterstützung nicht zu entziehen. Russland, das im Astana-Prozess zusammen mit der Türkei aktiv ist, wird es nicht gefallen, dass sich Ankara in Nordsyrien aufstellt oder das dort die Freie Syrische Armee, die größtenteils aus radikalen islamistischen Gruppen besteht, macht, was sie will. ... Einen Frieden in Syrien zu schaffen, der einerseits den Bürgerkrieg überwindet und andererseits die territoriale Integrität des Landes wahrt, ist nur dann möglich, wenn Damaskus den Norden kontrolliert.“
Eine Strategie ist nicht erkennbar
Trumps Beschluss wird schwerwiegende Konsequenzen haben, ist sich Dagens Nyheter sicher:
„Trumps wichtigste außenpolitische Devise war bislang, dass Obama alles falsch gemacht hat. Im Falle Syriens ist es frappierend, wie sehr Trumps Vorgehen dem seines Vorgängers ähnelt. Obama zögerte angesichts Syriens, bis der IS auf den Plan trat und Handlung verlangte. ... Wo sich Obama wand, desertiert nun Trump. Eine Strategie ist nicht erkennbar. ... 2.000 Soldaten - das klingt nach nicht viel, doch die indirekten Folgen des Abzugs dürften erheblich sein. Der IS kann einen Neuanfang wagen. Assad sitzt sicher im Sattel. Russland und der Iran stärken ihre Positionen. Die Türkei bekommt ihre Chance, um gegen die Kurden vorzugehen. Israel dürfte eigene Methoden suchen, um die Position der Iraner in Syrien zu schwächen. Trumps Amerika sieht hier keineswegs groß aus.“
US-Präsident stärkt den IS
Mit dem Rückzug aus Syrien stärkt Trump die Gegner der USA, kritisiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Vor allem dürfte der Kampf gegen den IS, der bis anhin noch viele Kurden bindet, mit einer neuen türkischen Militäroffensive zum Erliegen kommen. Anders als Trump behauptet, ist der Islamische Staat ja keineswegs besiegt. ... Ziehen sich die kurdischen Kämpfer wieder in den Norden zurück, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der IS neue Kräfte sammelt oder sich ein anderes Terrornetzwerk in der Wüste bildet. Man kann sich den Kopf darüber zerbrechen, was Trump zu seiner Entscheidung bewogen hat, welche so offenkundig den Anti-Terror-Kampf gefährdet, die kurdischen Verbündeten ins offene Messer laufen lässt und obendrein noch den Iranern freies Feld in Syrien überlässt.“
Paradox und nicht nachvollziehbar
Trumps Beschluss mutet für Hospodářské noviny paradox an:
„Die Entscheidung bestätigt, dass der Westen den Frieden nicht gewinnen kann. Außerdem kämpft er mit dem Terror des Dschihad in nur kurzen Zeitspannen. Während die Dschihadisten strategisch im Zeithorizont von Generationen planen, tut das ein US-Präsident im besten Fall für seine Amtszeit. Man denke an Obamas Rückzug 2011 aus dem Irak. Trumps jetzige Entscheidung ist noch weniger nachvollziehbar. Der Beschluss ist auch paradox angesichts des historisch höchsten US-Verteidigungshaushaltes. Dessen Aufstockung wurde unter anderem mit der Fortsetzung des Kampfes gegen den IS begründet.“
Immer noch mehr Chaos
Die Lehren, die man aus der Entscheidung ziehen kann, sind äußerst beunruhigend, meint Le Monde:
„Die Unvorhersehbarkeit des Präsidenten breitet sich wie Lepra innerhalb seiner Regierung aus. Das allseits bekannte Fehlen hierarchischer Entscheidungsprozesse entwertet das Wort der Washingtoner Gesprächspartner bei Verhandlungen mit Alliierten und Feinden. Denn die Vertreter der US-Regierung können jederzeit von ihrem Oberbefehlshaber widerlegt werden. Und selbst der Kompass 'America first' funktioniert nicht mehr, wenn der Präsident sich gegen etwas entscheidet, was grundlegend im Interesse Amerikas wäre. Dieses 'America First' ist ein Hirngespinst, wenn es um die größten Gefahren für das Gleichgewicht der Welt und die Sicherheit der USA geht. Ihr Steuermann scheint leider nur in der Lage zu sein, dem Chaos weiteres Chaos hinzuzufügen.“
Trump war immer gegen Truppen in Syrien
Dass Trump die US-Truppen aus Syrien zurückholt, ist nur logisch angesichts seiner politischen Prioritäten und seiner Kenntnis der Region, kommentiert die regierungsnahe Tageszeitung Sabah:
„Man muss sich nicht allzu sehr über diese Nachrichten wundern. Wenn die US-Außenpolitik schon früher in den Kompetenzbereich Trumps gefallen wäre, würden die USA überhaupt nicht in Syrien sein. Wenn Sie die Archive sichten, können Sie sehen, dass sich Trump bereits vor seiner Wahl zum Präsidenten gegen eine Truppenpräsenz in Syrien ausgesprochen hat. ... Zwischen damals und heute hat Trump zudem gelernt, dass die Oppositionskräfte, mit denen er in Syrien kollaboriert, Terroristen der [kurdischen Parteien] PKK und der PYD sind. Präsident Erdoğan hat Trump in diesem Punkt mehrmals informiert und gewarnt.“