Zünden Macrons Ideen zur Rettung Europas?
Frankreichs Präsident Macron fordert in seinem Aufruf für einen Neustart Europas eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Fragen der Sicherheit, des Handels und der Sozialpolitik. Sein Gastbeitrag erschien in führenden Tageszeitungen aller 28 Mitgliedsländer. In den Kommentarspalten findet er dementsprechend großen Widerhall - positiv wie negativ.
Auf den Spuren der Populisten
Vieles von dem, was Emmanuel Macron nun vorgeschlagen hat, kommt dem nahe, was Rechtspopulisten schon seit Jahren fordern, analysiert The Irish Times:
„Macrons Ambitionen sind eine willkommene Stärkung zu einer Zeit, in der viele politische Führer, die sich vor der populistischen Bedrohung fürchten, zum defensiven Rückzug neigen. ... Unter Macrons Vorschlägen befinden sich einige, die gezielt an Wähler gerichtet sind, die sich den Populisten zugeneigt fühlen. Dazu zählen die anvisierte 'Neugestaltung des Schengen-Raums', strengere Grenzkontrollen und ein Plan, die europäische Industrie angesichts chinesischer und US-amerikanischer Konkurrenz zu erneuern. Macron mag zum Angriff gegen die Populisten übergehen - doch seine Appelle zeigen auch, wie jene Populisten die Debatte in Europa geprägt haben.“
Leere Worte stiften nur Chaos
Mit seiner erneuten Selbstinszenierung als der Gute im Kampf gegen das Böse verschlimmert Emmanuel Macron Europas Krise, warnt Contrepoints:
„Das ist politisches Gebrodel, das weit mehr auf Schadenskontrolle basiert, als dass es ein Kampf gegen dunkle Kräfte wäre, mit Macron als Bollwerk. Was die größte Gefahr ist: Dass der arme Tropf durch Worte vernebelt und geschickt kaschiert, dass tiefgreifende Reformen auf dramatische Weise ausbleiben und die gähnend leeren öffentlichen Kassen kein bisschen saniert werden. Worte kosten zwar weniger, haben aber auch keinerlei Auswirkung auf die Realität. So besteht das Risiko, dass Macron nicht nur rein gar nichts bekämpft, sondern noch dazu den Populismus erheblich anheizt, gegen den er eigentlich ins Feld ziehen wollte. Wir erhalten weder Freiheit noch Schutz. Und in puncto Europa droht uns das Chaos.“
Europas Demokratien nicht nur von außen bedroht
Macrons Vorschlag zur Schaffung einer Europäischen Agentur zum Schutz der Demokratie findet Sega gut, aber nicht ausreichend:
„Die Agentur soll Experten in die Mitgliedsländer entsenden, um sie im Kampf gegen Cyberattacken und Wahlmanipulationen zu unterstützen. … Was machen wir aber mit Demokratien wie der ungarischen, polnischen, bulgarischen oder kroatischen? Diese jungen und schwachen Demokratien sind sowohl von außen als auch von innen bedroht. Und nicht nur das. Die europäischen politischen Parteien sorgen dafür, dass sich die Krebsgeschwüre in diesen Ländern ausbreiten. Dafür hat Macron keine Lösung parat. … Der Mann, der sich inbrünstig für transnationale Wahllisten und gegen das Monopol der europäischen Parteien einsetzt, sagt nichts über die Keile, die die nationalen Parteien zwischen die Bürger und die EU treiben.“
Vom Irrweg abbringen
Alarmiert über Macrons Ideen äußert sich The Guardian:
„Macrons Vision nach dem Vorbild Karls des Großen von einem immer mehr vereinten, integrierten, regulierten und vergemeinschaftlichten Europa, das sich gegen die großen geopolitischen Rivalen USA, China und Russland behauptet, mutet seltsam veraltet an. Und angesichts der schon lange bestehenden Spaltungen, internen Widersprüchlichkeiten und strukturellen Schwächen der EU ist sie zum Scheitern verurteilt. ... Einer EU nach Macrons Vorstellung - sollte sie sich tatsächlich so entwickeln - würden die meisten Briten nicht angehören wollen. Daher ist es dringend notwendig, dass Großbritannien auch in dieser späten Stunden den Brexit absagt und wieder einmal hilft, die Schlacht um Europa zu führen und zu gewinnen.“
Visionär setzt auf die falsche Medizin
Nicht ganz so alarmiert, doch ebenfalls wenig begeistert ist Dennik N über die Idee einer engeren Zusammenarbeit in Europa:
„Vor allem fehlt in der Botschaft kritische Selbstreflexion. Der Brexit ist auch eine logische Folge des Scheiterns proeuropäischer politischer Eliten. Macron spricht nicht darüber und setzt die traditionelle Linie fort, die das Allheilmittel für jedes Problem in der Vertiefung der Zusammenarbeit sieht. Doch diese Medizin hilft nicht wirklich. ... Macron fordert ein einheitliches Sozialmodell und eine wirtschaftliche Regulierung für den gesamten Kontinent. Er tut dies, während sein Heimatland ruiniert ist, gerade weil er seine eigenen Bürger nicht von seinem Sozialmodell überzeugen kann. Somit handelt es sich um die kraftvolle Rede eines sehr geschwächten Politikers. Das ist das größte Manko seiner Vision.“
Für Osteuropäer unattraktiv
Warum Macrons Ideen vor allem in Osteuropa auf Skepsis stoßen, erklärt Radio Europa Liberă:
„Den westeuropäischen Staaten ging es immer um ein föderales Projekt, doch für die Skandinavier und Osteuropäer war das zweitrangig, als sie beitraten. Sie sahen Europa zunehmend nur als 'gemeinsamen Markt'. Mehr noch: Die Osteuropäer sahen in der EU einen Art Geldautomaten. Wie schwerwiegend das Unverständnis ist, sah man in der Flüchtlingskrise, die zur Solidaritätskrise wurde. Die Westeuropäer erwarten Solidarität im Rahmen des europäischen Integrationsprojektes, das, wie sich immer mehr herausstellt, die Osteuropäer niemals verstanden hatten.“
Historischer Moment braucht große Ideen
Dennoch gibt es auch in Osteuropa Stimmen, die Macron verteidigen - etwa Jutarnji list:
„Nicht wenige nehmen es ihm übel, dass er dauernd geschichtsträchtige Reden hält: Doch diese Menschen vergessen, dass sich Europa tatsächlich in einem geschichtsträchtigen Moment befindet - und solche Reden mehr denn je notwendig sind. Es ist vielleicht ein zu starker Vergleich, aber diese, wie auch die Rede in der Sorbonne im Herbst 2017, haben dieselbe Kraft wie Churchills Reden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Unterschied ist bisher, dass man auf Churchill gehört hat. ... Macron hat nach dem Möglichen, Erreichbaren gegriffen: Die Reform des Schengener Abkommens ist notwendig. Andernfalls wird Schengen verschwinden. 'Liberté, égalité, fraternité' wird zu 'Freiheit, Schutz und Fortschritt'.“
Wider die Feinde Europas
Und auch Dagens Nyheter ist froh über Macrons Engagement:
„Es ist offensichtlich, dass Macron den Ehrgeiz hat, die Lücke zu schließen, die Angela Merkel hinterlässt, und dass er ihre Rolle als inoffizieller Führer der EU übernehmen will. Während Merkel als Wirtschaftsprüfer Europas fungierte, zeigt Emmanuel Macron, wie alle französischen Präsidenten, französische Eigenart. Er zeigt sich eher als europäischer Feldherr. Die Feinde sind autoritäre und reiche Großmächte, skrupellose Netzgiganten und ein spaltender reaktionärer Nationalismus. ... Aber er hat recht. Europa ist wirklich in Gefahr. Und Emmanuel Macron verdient ein Lob dafür, dass er nicht nur deutliche Worte gesprochen hat, sondern auch mutigere und bessere Wege in die Zukunft vorschlägt.“
Präsident liefert den Feind gleich mit
Macron hat in seinem Brief an die EU-Bürger auch gleich den Feind ausgemacht, analysiert die Frankreich-Korrespondentin von La Repubblica, Anais Ginori:
„Macron schlägt eine 'europäische Renaissance' vor, die sich um drei Punkte dreht: Freiheit, Schutz und Fortschritt. Gerade bei der Entwicklung der Freiheiten, auf denen die EU beruht, legt der französische Staatschef einige der innovativsten Vorschläge auf den Tisch: die Schaffung einer Agentur zum Schutz der Demokratie, das Verbot ausländischer Mittel für politische Parteien und neue Regeln zum Verbot von Hassreden und Gewalt im Netz. Es ist klar, dass Macron damit die Galaxie der Nationalisten anprangert: Marine Le Pen wurde seinerzeit beschuldigt, Mittel aus Russland erhalten zu haben. Der jüngste Skandal betrifft Matteo Salvini und seine letzte Reise nach Moskau.“
Nichts Neues aus Paris
Macrons Appell bringt kaum frischen Wind für die europäische Zusammenarbeit, urteilt Le Figaro:
„Einige seiner Vorschläge sind bereits wiederholt gescheitert (Neugestaltung des Schengen-Raums), andere erscheinen angesichts der immensen Divergenzen zwischen den Regierungen utopisch (Verteidigungspakt oder Schutz sozialer Rechte). Wieder andere wirken fern der Alltagsrealität der Menschen (Behörde für den Schutz der Demokratie). Sein Bestreben, europäische Firmen gegenüber der Konkurrenz aus China und den USA bevorzugt zu behandeln, ist hingegen sehr wichtig. In seinem Brief lehnt Macron Beschwörungsformeln ab. Gelingt es ihm aber wirklich, sich ihnen zu entziehen? Mangels konkreter und einfach umsetzbarer Ideen bringt er eher den Wahlkampf als Europa in Schwung.“