Europas Grüne im Höhenflug
Die Grünen rücken im Europaparlament von der sechst- zur viertstärksten Kraft auf. Ihre Fraktion kommt auf 69 Sitze - 17 mehr als 2014. Ungefähr ein Drittel der Wähler unter 30 stimmte für sie. Kommentatoren rechnen damit, dass die grünen Parteien in naher Zukunft noch einflussreicher werden.
Die politische Mitte wird grüner werden
Die jüngsten Erfolge linksliberaler, grüner Parteien führen zu einer Richtungsentscheidung der politischen Mitte, prognostiziert The Irish Times:
„Zwei grundverschiedene Weltanschauungen stehen einander gegenüber: Auf der einen Seite die grüne, 'Wir sind eine Welt'-Sicht. Auf der anderen Seite die völkische, 'Wir sind ein Land'-Sicht. Das politische Zentrum wägt ab, auf welche Seite es sich schlagen soll. In den vergangenen Jahren ließen sich einige Mitte-rechts-Parteien auf die Seite der nativistischen Rechten ziehen, um die Ideologie der Identitätspolitik zu bekämpfen. ... In den kommenden Jahren werden die Parteien des Zentrums, die in den meisten Ländern immer noch die stärkste politische Kraft stellen, höchstwahrscheinlich die Rhetorik der staatlichen Selbstständigkeit aufgeben und sich stattdessen die Botschaft der Umweltbewegung viel stärker zu eigen machen.“
Zu Transnationalität verpflichtet
Nach ihrem guten Abschneiden, insbesondere in Deutschland und Frankreich, sind die Öko-Parteien nun gefordert, betont das Wirtschaftsblatt Les Echos:
„Die Europawahl vom Mai 2019 kann einen Wendepunkt darstellen. Die Wähler haben sich mobilisiert, weil sie verstanden haben, dass die Rettung des Klimas und unseres Planeten nicht auf nationaler Ebene machbar ist. Sie fordern einen internationalen Umweltschutz - zunächst einmal auf europäischer Ebene. Die grünen Parteien sind aufgefordert, sich zu verständigen, um europäische Antworten zu liefern. Gelingt ihnen das, würden sie der Europäischen Union als erste die transnationalen Parteien bieten, die dieser so dringend fehlen.“
Doppelter Protest
Der Erfolg der Grünen ist nicht nur der Angst vor dem Klimawandel zuzuschreiben, analysiert Bill Emmott, langjähriger Chefredakteur von The Economist, in La Stampa:
„Zumal es vor diesem Wahlgang keine Anzeichen für eine plötzliche Leidenschaft für Umweltfragen in Frankreich, Irland, Deutschland oder im Vereinigten Königreich gab. ... Das Verdienst der grünen Parteien besteht darin, dass sie alle stark proeuropäisch sind und sich nach links orientieren. Da sie keine Regierungsverantwortung haben, können sie nicht der wirtschaftlichen Rezession nach 2008, der Migrationskrise oder anderer Übel beschuldigt werden. Sie stellen also einen idealen, nicht-radikalen Protest dar, sowohl gegen traditionelle Parteien wie die deutschen Sozialdemokraten oder die britische Labour Party als auch gegen Nationalpopulisten.“
Nächstes Mal darf auch Generation Greta wählen
In Greta Thunbergs Heimatland Schweden sind die Grünen nicht so stark wie in anderen Ländern. Das Thema Klima ist allerdings noch nicht vom Tisch, bemerkt dazu Aftonbladet:
„Die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament ist jetzt um über 20 Mandate gewachsen. Bemerkenswert ist, dass Greta Thunberg sich nie für irgendeine Partei ausgesprochen hat. Doch sie drängt mit enormem Einfluss darauf, die Klimaproblematik auf die Tagesordnung zu setzen. ... Im Jahr 2022, bei der nächsten Parlamentswahl in Schweden, haben sie und viele ihrer Generation das Wahlrecht. Das wird alle Parteien betreffen. Sowohl diejenigen, die sich aktiv mit der Klimakrise befassen, als auch jene, die alles tun, um die Bedrohung herunterzuspielen.“
Keine Zukunft ohne Jungbauern
Dnevnik wartet darauf, dass jemand in Slowenien so vehement für das dort aktuell diskutierte Landwirtschaftsgesetz eintritt, wie Ska Keller von den Grünen in Deutschland für den Bienenschutz:
„Die Slowenen sollten Ska Keller ein Denkmal aufstellen und sich ein Beispiel an ihrem Einsatz nehmen. Laut Gesetzesvorschlag sollen Einzelpersonen und Unternehmen in Slowenien künftig nur noch maximal 100 Hektar Landwirtschaftsfläche pachten können. Zu wenig, schreien Großbauern, die um EU-Zuschüsse fürchten, von denen kleine Landwirte nur träumen können. Das Wahlbeteiligungs-Debakel bei der EU-Wahl in Slowenien [knapp 29 Prozent] spricht jedenfalls dafür, dass Jungbauern andere Vorstellungen haben als Agrarriesen und dass es Zeit wird, dass man auf sie hört. Die Zukunft gehört den Jungbauern oder es wird keine Zukunft geben.“
Öko-Partei hat Europa am besten begriffen
Die Europawahl ist diesmal ihrem Namen gerecht geworden, freut sich die Berliner Zeitung:
„Erstmals jedenfalls scheinen die Wahlen in den Mitgliedsländern der EU nicht nur als Verlängerung nationalstaatlicher Fragen in den europäischen Politikraum aufgefasst worden zu sein. In Deutschland haben das die Grünen am besten begriffen und sind dafür mit deutlich über 20 Prozent der Stimmen belohnt worden. Sie sind auf dem Weg zu einer modernen europäischen Interessenvertretung, die sich nicht länger am Verlust des Ideals einer Volkspartei abarbeitet. Grün schlägt rot, weil die Grünen die Ideen von leistungsfähigen Zukunftstechnologien mit der Verpflichtung zur Bewahrung natürlicher Ressourcen verbinden und auch jungen Wählern als akzeptable Repräsentanten einer ernstzunehmenden Klimapolitik erscheinen.“
Klima-Populismus als Erfolgsrezept
Warum grüne Parteien bei der EU-Wahl in vielen Staaten stark zulegen konnten, weiß The Irish Independent:
„Andere politische Parteien können vielleicht etwas von den Grünen lernen. Nämlich, dass man die Werkzeuge des Populismus für gute Zwecke einsetzen kann. Die Grünen waren bei dieser Wahl tatsächlich die einzige Partei mit einer überzeugenden politischen Botschaft. Und wie beim Brexit ging es dabei um Angst, Wut und in der Tat um die Sehnsucht nach dem Vergangenen. Doch mehr als alles andere war diese Botschaft etwas, das viele andere Parteien jungen Menschen nicht bieten: Hoffnung für die Zukunft. Und vielleicht werden die finsteren politischen Mächte so mit ihren eigenen Waffen geschlagen - mit ein bisschen Emotion.“
Nationalismus nicht mit Konfrontation besiegen
Politiken fordert von Europas Grünen, sich jetzt behutsam dem Nationalismus entgegenzustellen:
„Egal, wie sehr dessen Anhänger nach dem Chaos in Großbritannien ihre Forderung nach irgendeiner Art Exit gedämpft haben, bleibt ihnen in großen Ländern wie Frankreich, Italien, Polen und Ungarn immer noch Wind in den Segeln. Hier ist die neue Front in der europäischen Politik: eine grüne Welle, die die europäische Zusammenarbeit als Lösung der Klimaprobleme ansieht, und ein nationalistischer Flügel, der die Zusammenarbeit als Problem ansieht. Die Herausforderung für das EU-Parlament besteht darin, zu vermeiden, dass das wie in Frankreich in einem polarisierten Interessenkonflikt endet.“