Braucht der Klimaschutz ein neues Narrativ?
In Paris wurden am Donnerstag alle Hitzerekorde gebrochen, auch in vielen anderen europäischen Städten war es der heißeste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Die Presse diskutiert, ob wir unseren Blick auf Klimaaktivisten und unbequemen Klimaschutz im Alltag verändern sollten.
Ein trauriger Rekord jagt den nächsten
Zwar reichen Rekordtemperaturen allein nicht als Beweis für den Klimawandel, meint La Repubblica, doch
„diese Hitzewelle folgt mit nur wenigen Wochen Abstand auf die Hitzewelle vom Juni, die verheerende Folgen hatte. Es gab starke Stürme und Hagelkörner so groß wie Orangen. Schaut man über die nationalen und europäischen Grenzen hinaus, sieht man in Grönland, Sibirien und Alaska den Rauch aufsteigen. In arktischen Ländern wüten erstmals Brände. Derweil wird im August in Island eine Erinnerungstafel eingeweiht, die an einen verschwundenen Gletscher erinnert: 'Vom Klimawandel getötet.' Nicht die 42 Grad von Paris zeigen uns, dass es schlecht läuft. Sondern die enge Abfolge von Extremsituationen. Und genau das versuchen Klimaforscher seit Jahren zu erklären.“
Wer nichts tut, schaufelt seinen Kindern das Grab
Klimaaktivisten sind vielen unheimlich, doch die Forderung nach radikalen Veränderungen ist richtig, meint The Irish Times:
„Dass sie in ihrer Sprache einen Umsturz des Systems fordern, macht vielen Angst – und das ist verständlich. Aber genauso verständlich ist der Aufruf, radikaler vorzugehen als bisher. Denn 'business as usual' bedeutet automatisch den Weg in die Katastrophe. … Nicht die Menschen auf der Straße, die Plakate hochhalten und Farbe im Gesicht haben, sind die echten Aktivisten und Extremisten. Es sind im Gegenteil diejenigen, die so tun, als verstünden sie die klaren geophysikalischen Grenzen nicht, die reichen Energiegiganten und ihre Heerscharen von Geschäfts- und Medienlobbyisten, ebenso wie die politische Klasse, die in ihrem Bann steht. In Zeiten wie diesen bedeutet tatenlos zu sein und nicht den Erkenntnissen der Wissenschaft zu folgen, dass wir unseren Kindern das Grab schaufeln.“
Klimapolitik ist keine Zwangsjacke
Auch Klimaskeptiker sollten es nun endlich begreifen, findet De Volkskrant:
„Nein, die Erwärmung der Erde ist kein alltägliches Phänomen. Das machten wissenschaftliche Untersuchungen erst diese Woche wieder deutlich und stießen damit einen Dolch ins Herz der Klimaskeptiker. ... Gleichzeitig wurde aus den USA bekannt, dass uns trotz des Klimawandels Katastrophen wie Überflutungen und Orkane weniger kosten - weil wir uns anpassen. ... Das ist bei aller Trostlosigkeit eine positive Nachricht. ... Klimapolitik bedeutet weit mehr als weniger Fleisch zu essen, weniger zu fliegen und kürzer zu duschen, wie vor allem linke Klima-Aktivisten fordern. Es ist die Aussicht auf Veränderung und damit eine Herausforderung für Unternehmertum, Innovation und den menschlichen Einfallsreichtum.“
Green Shaming hilft nicht weiter
Die Menschen können nicht mit erhobenem Zeigefinger für den Umweltschutz begeistert werden, glaubt das Onlineportal 444:
„In 20 Jahren ist es uns dann vielleicht schon ausgesprochen peinlich, eine Plastiktüte zu benutzen, einen Benziner zu fahren, sich Essen liefern zu lassen, Tampons zu benutzen, 'Fast Fashion' zu tragen, im Winter viel zu heizen oder im Sommer eine Klimaanlage einzuschalten. ... Aber Scham ist ein schmerzhaftes Gefühl, das uns dann befällt, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben. Wie kommt man überhaupt darauf, so ein negatives Gefühl als Motivation nutzen zu wollen, um positive Veränderungen zu bewirken? … Wer Schmerz empfindet entfernt sich vom Auslöser des Schmerzes. Wenn man also eine Bewegung beliebt machen möchte, dann wird Beschämung nicht die richtige Praxis sein.“
Weltretter-Floskel ist gefährlich
Dass man nicht immer gleich überdramatisch von der "Rettung der Welt" reden sollte, meint Zeit Online:
„[Es] ist sachlich falsch und eine gefährliche verbale Eskalation. ... Was es zu bewahren gilt, ist jene fragile Konfiguration, in der menschliche Gesellschaften gedeihen können: in der es weder zu warm noch zu kalt ist und in der die Natur die Kraft hat, für Nahrung und Rohstoffe, saubere Luft und trinkbares Wasser zu sorgen. ... Übertreibungen sind da kontraproduktiv. Wer trotzdem vom Weltretten redet, lässt das Notwendige schier überwältigend erscheinen. Was von vornherein unmöglich wirkt, so viel weiß man über die Psychologie des Menschen, das wird lieber verdrängt und gar nicht erst angepackt. Darum ist die nervige Weltretter-Floskel so gefährlich.“
Freiheit fällt Hysterie zum Opfer
Wir erleben eine regelrechte Klimahysterie, kritisiert Contrepoints:
„Was zählt, ist nicht die Realität, sondern das höchst ansteckende Dringlichkeitsbewusstsein, das durch Aktivismus und Appelle in uns ausgelöst wird. Schlussendlich können uns diese dazu drängen, freiwillig unseren liberalen Lebensstil aufzugeben und uns folgsam dem tyrannischen Zwang der angeblichen Klimaschutzmaßnahmen zu unterwerfen. … Die Ökowende, die darin besteht, die Gesellschaft durch staatliche Regelungen, Ideologie und Zwang umzuwandeln, anstatt sie sich im natürlichen Rhythmus von Wissenschaft und konkurrierenden Technologien weiterentwickeln zu lassen, wird von der Regierung durch Steuern, Verbote und Subventionen emsig vorangetrieben. Man kann sich nicht vorstellen, was sie jetzt noch tun kann, ohne die bereits stark beschnittenen individuellen Freiheiten noch weiter einzuschränken.“
Ohne Deutschland wird es nichts
In Sachen Klimaschutz müssen einzelne Staaten mit gutem Beispiel vorangehen, argumentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Weltweiter Klimaschutz ist nur denkbar, wenn einzelne Länder vormachen, dass das Nötige auch möglich ist. Dass man sauber werden kann, ohne zu verarmen. Und diese Einzelnen können nur die sein, die erstens reich genug sind für so einen Kraftakt und zweitens auch besonders schuldig an den Problemen der Zeit, weil sie mehr Klimagase pro Kopf produzieren als andere. Beides gilt für Deutschland. Es mag ja stimmen, dass wir allein das nicht schaffen. Deutschland ist nicht alles. Aber ohne Deutschland wird es nichts.“
Grüne Transformation ist asozial
Eine sozial gerechte Umsetzung des Klimaschutzes wird große Probleme mit sich bringen, kommentiert Jyllands-Posten:
„Wenn Steuern und Abgaben in die Höhe schießen, wird sich zeigen, wie asozial eine grüne Transformation werden kann. Das wissen die Parteien natürlich, doch sie spielen mit verdeckten Karten. Ein Beispiel ist die Ankündigung der [rot-grünen] Einheitsliste [die die regierenden Sozialdemokraten stützt], dass es ziemlich sicher teurer werden wird, nach Thailand zu fliegen, dass aber ein Mechanismus eingerichtet werden soll, der Gelder an die weniger begüterten Gruppen zurückführt. Das zeigt das ganze Ausmaß der Ohnmacht: Wenn man erreichen will, dass weniger Menschen nach Thailand fliegen, dann nützt es nichts, Gelder zurückzuführen, die dann wiederum für Flugtickets ausgegeben werden können.“
Kapitalismus und Klimaschutz passen nicht zusammen
Die Institutionalisierung der grünen Bewegung wird nicht ausreichen, um den Klimawandel aufzuhalten, betont der Aktivist João Camargo in Público:
„Was vor einem Jahr fehlte, war eine soziale und politische Bewegung für eine gerechte Klimapolitik, die den Kollaps stoppen kann. Heute existiert diese Bewegung auf der ganzen Welt. Es wäre wichtig, sie weiter zu stärken, doch der Drang, die Bewegung zu institutionalisieren, ist für sie eine große Bedrohung. ... Der Kapitalismus wird diese Krise nicht überleben. Die Frage ist, ob er uns in den Abgrund führt oder wir ihn stoppen. Es gibt einfach kein politisches und soziales Programm, das die Klimakrise beendet, ohne zugleich die kapitalistische Machtstruktur zu zerstören.“
Gigantische Mobilisierung ist nötig
Dem Klimawandel sollte man mit einer positiven Vision statt mit Angstmacherei begegnen, fordert der ehemalige Labour-Chef Ed Miliband im Guardian:
„An Martin Luther King erinnert man sich wegen seiner Worte 'Ich habe einen Traum' und nicht 'Ich habe einen Alptraum'. Wir müssen diesen Traum gemeinsam skizzieren und entscheiden, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. ... Der Kampf gegen die Klimakrise bietet die Möglichkeit, ein besseres Leben für uns Menschen zu kreieren. Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir 27 Millionen Häuser heizen und unsere Industrie mit Strom versorgen, 40 Millionen Benzin- und Dieselautos von der Straße entfernen und jedes Jahr Zehntausende Hektar Wald pflanzen. Mit anderen Worten: Wir brauchen die größte friedvolle Mobilisierung von Arbeitskraft, Land und Investitionen, die wir je gesehen haben.“
Klima-Apartheid schon jetzt Realität
Angesichts der Erderwärmung warnt UN-Sonderberichterstatter Philip Alston vor einer "Klima-Apartheid". Schriftsteller Gerolamo Fazzini pflichtet ihm in Avvenire bei:
„In nicht allzu ferner Zukunft wird Diskriminierung wahrscheinlich nicht (nur) von der Hautfarbe abhängen, sondern von der Fähigkeit, mit den gravierenden Folgen des Klimawandels umzugehen. Mit anderen Worten: Die Welt wird eine neue Phase erleben, die von 'klimatisch bedingter Apartheid' geprägt ist. ... Das Thema, das darf man nicht vergessen, haben mahnende 'Missionare' schon lange auf der Agenda. Dass die UN es jetzt gewissermaßen offiziell 'zertifiziert', ist wirklich bedeutsam. Hoffentlich lassen sich diejenigen, die mehr besitzen und mehr tun können, in den Kampf gegen den Klimawandel einbinden, wenn sie der Gefahr der wachsenden Ungleichheiten ins Auge blicken.“
Freut euch nicht zu früh!
Die Juni-Hitzewelle traf vor allem Zentraleuropa. In Portugal beschwert man sich eher darüber, wieder so einen laschen Sommer zu haben. In TSF warnt Nádia Piazza jedoch vor der Klimakrise:
„Das Schlimmste steht noch bevor! Dank unserer Azoren und der guten Tradition von São João [zum Mittsommerfest ist es dem Volksmund nach meistens kühl] blieb Portugal verschont und mit milden Temperaturen gesegnet. Doch die starke Hitze steht direkt vor unserer Haustür, das wurde bereits angekündigt. ... Man hört den alarmierenden Ton in meiner Stimme. Weil wir in einer bedrohlichen Zeit und in einem klimatischen Ernstfall leben. ... Deshalb müssen wir alle, wirklich alle, vorbereitet sein.“
Keine weitere Zeit vergeuden
Sander Jahilo, Experte für nachhaltige Produktionssysteme, ruft in Postimees die estnische Regierung zum Handeln auf:
„Premierminister Ratas sollte man zumindest dafür Respekt zollen, dass er den menschlich verursachten Klimawandel nicht anzweifelt. Als politisch kluger Mensch versteht er, dass es sich lohnt, in fachfremden Gebieten auf Experten zu setzen. Das sind Wissenschaftler, Umweltorganisationen und Behörden, die versichern, dass der Klimawandel größtenteils von menschlicher Hand verursacht wird und dass die Veränderungen mit einer hohen Geschwindigkeit geschehen. ... Wir haben keine Zeit mehr, uns über die kurzsichtigen Energieentscheidungen von einst zu ärgern. Wir müssen die Klimakrise ausrufen, denn wir haben schon hoffnungslos viel Zeit vergeudet.“