Welchen Kurs nimmt von der Leyens Kommission?
Die künftige EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat am Dienstag ihr Team vorgestellt. Zuschnitt und Namensgebung der neuen Ressorts stoßen in den Medien teils auf Kritik und Kommentatoren fragen sich, was sich mit den neuen Gesichtern in Brüssel ändern wird.
Orbán und die Visegrád-Staaten triumphieren
Die neue Kommissionschefin hat sich bei der Postenverteilung dem Druck der Visegrád-Staaten gebeugt, bedauert G4 Media:
„Ursula von der Leyen hat Ungarn genau den Geschäftsbereich vermacht, den sich Orbán gewünscht hat: das Ressort für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung. Es ist ein essentieller Posten für Orbán, der seine illiberale und anti-europäische Politik in die Nachbarschaft tragen will. Es ist skandalös, dass dieser Bereich einer Regierung zugewiesen wurde, die an den Grenzen Stacheldrahtzäune errichten ließ und seit Jahren die europäischen Werte mit Füßen tritt. Doch nicht nur der ungarischen Regierung hat sich von der Leyen gebeugt, sondern der gesamten Visegrád-Gruppe. Die hat extrem hart um ihre Stimmen [bei der Wahl von der Leyens zur Kommissionschefin] verhandelt und im Gegenzug die geforderten Geschäftsbereiche und Führungspositionen bekommen.“
Neutralität muss man sich leisten können
Besonders spannend wird die außenpolitische Ausrichtung der neuen Kommission sein, analysiert die frühere italienische Vize-Außenministerin Marta Dassù in La Stampa:
„Wenn Europas strategische Souveränität mit einer neutralen Haltung gegenüber potenziellen Konflikten zwischen den Großmächten gleichzusetzen ist, dann werden die geopolitischen Folgen sehr bedeutsam sein: Das Ende des westlichen Bündnisses ist dann eine Frage der Zeit. … Bis dahin muss die EU als 'Groß-Schweiz' über eine eigene Verteidigungsfähigkeit verfügen, auch im Nuklearbereich. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass dies schnell geschehen wird. Denn der Brexit desorientiert eine der beiden wichtigsten Militärmächte des Alten Kontinents und Verteidigung steht auf der Investitionsliste nicht gerade ganz oben.“
Kommission sollte Medien im Zaum halten
Was die Türkei von der neuen EU-Kommission erwartet, kommentiert Daily Sabah:
„Diesen Dienstag, als EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen auf einer Pressekonferenz die Kommissionsmitglieder vorstellte, tat ein Journalist von Euronews, der für seine Haltung gegen die Türkei bekannt ist, alles, um die Kommissionspräsidentin zu einem Statement gegen die Türkei zu bewegen. Wir wünschen uns von der neuen EU-Kommission, dass sie in Bezug auf die Türkei und die 'opponierenden' Medien besonders sorgfältig ist.“
Jetzt muss jeder mit jedem reden
Die neue Chefin hat die Aufgaben in der Kommission klug verteilt, urteilt 444:
„Von der Leyen hat die Ressorts so zugeschneidert, dass in den heikelsten Bereichen Delegierte von mindestens zwei Regierungen, die unterschiedlicher Meinung sind, etwas zu sagen haben. Sie hat die Aufgaben so zugeteilt, dass für jedes Thema alle politischen Ausrichtungen vertreten sind. Die vergangenen zwei Komissionen von Barroso und Juncker hatten sich zum Ziel gesetzt, die Politiker in Schlüsselpositionen zu bringen, die eine zentralere Rolle Brüssels wollen. ... Von der Leyen hat keine solch klare Ausrichtung für die Komission bestimmt, sondern sie hat ein System erstellt, in dem jeder mit jedem verhandeln muss, und in dem sich niemand gedemütigt fühlt.“
Eine Truppe mit hohen Qualitäten
Angetan von der Zusammensetzung der Kommission ist Denník N:
„Die Kommission ist mit zwölf nominierten Frauen die bisher ausgewogenste in der Geschichte. Die scheidende Kommission besteht nur aus acht Frauen. Radikal ist die Veränderung im Vergleich zu der Situation in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als keine Frauen in der Kommission waren. ... Zudem liegt es im Interesse der Slowakei, dass die Kommission eine supranationale Institution bleibt. In der praktischen Arbeit der Kommission gelten formelle Regeln und ungeschriebene Standards, die die Kommissare daran hindern, die Interessen einzelner, vor allem ihrer eigenen Mitgliedstaaten durchzusetzen. So sprechen die Kommissare beispielsweise in öffentlichen Äußerungen nicht über ihr eigenes Land, sondern 'das Land, das ich am besten kenne'.“
Gute Balance zwischen Sparen und Investieren
Paolo Gentiloni wurde als EU-Wirtschaftskommissar nominiert. Kritik wurde laut, der frühere italienische Premier habe keine Glaubwürdigkeit bei der Schuldenkontrolle. Doch die EU wird eine expansivere Wirtschaftspolitik benötigen, meint La Repubblica und erläutert, wie von der Leyen dies durchsetzen wird:
„Indem sie Gentiloni die Rolle des Wirtschaftskommissars zuteilt, wird die Kommissionspräsidentin auf eine autoritäre Persönlichkeit zählen können, die sich in diese Richtung bewegt. Mit [dem lettischen Christdemokraten] Dombrovskis als Vizepräsident und Kommissar für den Euro wird sie jemanden haben, der die Begeisterung des Italieners bremst. Das Ergebnis ist, dass von der Leyen selbst Schiedsrichterin in diesem Spiel sein und entscheiden wird, wie und in welchem Umfang Haushaltsdisziplin und Wachstumsförderung kombiniert werden sollen.“
Versöhnliches Signal an Osteuropäer
Dass ein polnischer Politiker den wichtigen Posten des Landwirtschaftskommissars erhalten soll, könnte die Beziehungen nicht nur zwischen Brüssel und Warschau verbessern, analysiert The Irish Indepedent:
„Janusz Wojciechowski war bisher Polens Vertreter im EU-Rechnungshof in Luxemburg. Doch er hat im Laufe seiner Karriere viel Erfahrung im Bereich Landwirtschaft und Agrarpolitik gesammelt. Deshalb werden ihm Vertreter von Agrargewerkschaften zumindest eine Zeit lang einen gewissen Vertrauensvorschuss gewähren. Dass Polen einen Kommissionsposten erhält, dem so viele Finanzmittel unterstehen, wird als Versuch gewertet, die Beziehungen zwischen Brüssel und Warschau zu verbessern. Darüber hinaus ist es eine Geste gegenüber den Mitgliedstaaten des früheren Obstblocks, denn vielerorts herrscht der Eindruck, dass diese bei der Aufteilung der EU-Spitzenposten in diesem Sommer die Verlierer waren.“
Belgier wacht über Europas Seele
Belgiens Außenminister ist als Justizkommissar vorgesehen. Das Amt habe er sich verdient, betont Le Soir:
„Didier Reynders bekommt dieses Amt nicht aus Unachtsamkeit oder aus Zufall. Man kann sogar sagen, dass es ihm zusteht. Nach drei Jahren unablässigen Dialogs mit seinen Amtskollegen hat der belgische Außenminister einen Konsens zur Einrichtung eines systematischen Überwachungsmechanismus der Rechtsstaatlichkeit errungen - mit einem unwiderlegbaren Argument: 'Wie soll man erklären, dass wir jedes Jahr die Haushalte der Staaten detailliert analysieren, aber nicht die Lage des Rechtsstaats?' … Ein entscheidender Punkt angesichts des Populismus, der zurzeit an der europäischen Demokratie nagt. Und auch ein ganz besonderer Posten: Der Belgier hat nicht die Haushalte oder den Wettbewerb zu überwachen, sondern die Seele Europas.“
Schwedin bekommt undankbaren Job
Mit dem Ressort Migration für die Schwedin Ylva Johansson ist Upsala Nya Tidning überhaupt nicht zufrieden:
„Als führendes Land in Klimafragen und Emissionsreduzierungen hätte Schweden [in diesem Bereich] mitgestalten und eine zentrale Kraft werden können. … Die nächsten fünf Jahre sind entscheidend für die Zukunft der Union, nicht zuletzt wegen des Austritts von Großbritannien. ... Der Brexit ist paradoxerweise aber eine Chance für von der Leyen, weil er den Zusammenhalt der übrigen 27 Länder stärkt. Aber dass das für eine Einigung in der Migrationsfrage reicht, ist wohl zu viel verlangt. Das weiß auch Ylva Johansson.“
Ein heimliches Schlüsselressort
Der Slowene Janez Lenarčič soll das Ressort für internationales Krisenmanagement übernehmen. Damit kommt viel Verantwortung auf ihn zu, erklärt Dnevnik:
„Wenn Europa in den kommenden Jahren bessere Beziehungen mit Afrika erreichen will, die Migration einschränken und im Bereich Entwicklung eine langfristige Zusammenarbeit etablieren möchte, die beiden Seiten nutzt, dann wird Lenarčič derjenige sein, der für die europäische Reaktion auf Krisen, auch auf dem Nachbarkontinent, zuständig ist. ... Sein Ressort zählt nicht zu den politischen Schwergewichten mit dem meisten Geld. Es ist ein bescheidenes Ressort, das man in guten Zeiten nicht bemerkt - doch in schlechten Zeiten kann es ein Rettungsanker sein.“
Von der Leyen könnte Visegrád-Staaten spalten
Die Tschechin Věra Jourová, bisher EU-Kommissarin für Justiz, soll künftig die Kommission für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit leiten. Sollte sich Ursula von der Leyen mit diesem Vorschlag durchsetzen, wäre das ein gewiefter Schachzug, findet Lidové noviny:
„Bisher hatte den Posten der Niederländer Frans Timmermans inne, der den Visegrád-Staaten ein Dorn im Auge war. Jourová käme auf dem neuen Posten in eine Position, in der sie womöglich Streitigkeiten der EU mit den Mitgliedsstaaten führen müsste. Den schärfsten Streit gab es in der Vergangenheit um die polnische Justiz und die Bildungspolitik Ungarns. Die EU drohte beiden Staaten aus der Visegrád-Region mit Sanktionen. Vor diesem Hintergrund betrachten einige Experten das Angebot Von der Leyens als Versuch, das Bündnis der V4 zu untergraben.“
Ungarns Kandidat wohl chancenlos
Das EU-Parlament wird den ungarischen Kandidaten László Trócsányi, Ex-Justizminister unter Premier Orbán, kaum absegnen, glaubt hvg. Das Problem sei aber nicht Trócsányis Qualifikation:
„Der Jurist, der vom Amt des Justizministers ins EU-Parlament nach Straßburg wechselte, hat Erfahrungen als Verfassungsrichter und Botschafter, spricht Fremdsprachen und kennt sich als ehemaliges Mitglied der Venedig-Kommission gut in der europäischen Zusammenarbeit aus. Das Problem ist ein anderes: Die rechtsstaatlichen Mängel, die das EU-Parlament im mit Zweidrittelmehrheit verabschiedeten Sargentini-Bericht kritisierte, sind teilweise direkt mit Trócsányi verbunden.“
Marija Gabriel kann vor allem nachplappern
Von der von Bulgarien vorgeschlagenen Kandidatin für die EU-Kommission, Marija Gabriel, hält Sega wenig:
„Als Kommissarin für Digitalwirtschaft fokussierte sie sich nicht auf die Technologien, sondern auf die Fake News in den Medien und erreichte nichts. … Dass die Mediensituation in Bulgarien nicht einmal mehr elementaren europäischen Standards entspricht, fiel ihr nicht auf. Sie hatte auch nichts am Medienimperium von Deljan Peewski auszusetzen, der Bulgarien in den Rankings zur Medienfreiheit peinlich tief in den Boden rammte. Marija Gabriels große Stärke ist, dass sie streberhaft allerlei unbekannte Terminologien, die ihr von irgendwelchen EU-Direktionen eingeflüstert werden, auswendig lernen kann, um damit vor den Wahlkommissionen im EU-Parlament zu glänzen.“