IS-Anhänger und ihre Kinder: Europas Gretchenfrage

Die Türkei hat damit begonnen, mutmaßliche IS-Anhänger in ihre europäischen Herkunftsländer abzuschieben. Nicht nur dagegen regt sich Protest, einige Staaten weigern sich zudem, die Staatsbürgerschaft der Kinder von IS-Anhängern anzuerkennen oder sie einreisen zu lassen. Europa stiehlt sich aus der Verantwortung und Erdoğan nutzt das geschickt aus, finden Kommentatoren.

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Politiken (DK) /

Dänemark wird zur Bananenrepublik

Dänemarks Regierung hat vergangene Woche einen Gesetzentwurf eingebracht, der es erlaubt, im Ausland geborenen Kindern dänischer IS-Anhänger die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Politiken ist empört:

„Einst war es selbstverständlich, dass Dänemark universelle Menschenrechte schützte und seine internationalen Verpflichtungen respektierte. ... Premierministerin Mette Frederiksen hat erklärt, die Konventionen gegen Staatenlosigkeit schützten in Bezug auf die Syrien-Kämpfer 'die Falschen'. ... Konventionen sollen per Definition alle schützen. Die entsprechenden Rechte sind universell und nicht davon abhängig, ob die Premierministerin einzelne Personen sympathisch oder des Schutzes wert findet. Genau das ist der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einer Bananenrepublik.“

The Guardian (GB) /

Kinder nicht für Taten der Eltern bestrafen

Auch The Guardian ist empört, dass London kürzlich einen Plan verworfen hat, mehr als 60 minderjährige Angehörige von IS-Sympathisanten nach Großbritannien zurückzubringen:

„Diejenigen, die sich dem IS angeschlossen haben, Frauen wie Männer, sollten bestraft werden. Ihre Kinder aber nicht. Es ist eine Schande für das Vereinigte Königreich, dass der Untergang des IS, der Abschluss eines teuflischen Kapitels, der einen Fortschritt hätte einläuten sollen, stattdessen zu einer Verhärtung der Haltungen geführt zu haben scheint - und das in einer Weise, die die Werte der zivilisierten Welt in Zweifel zieht. Es ist eine der ersten Pflichten der britischen Regierung, schuldlose britische Kinder vor Schaden zu schützen.“

Slate (FR) /

Erdoğan zeigt Europa seine Schwachstellen auf

Die Weigerung der Türkei, westliche IS-Kämpfer zu beherbergen, erinnert Slate an das Foto des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi:

„Der kleine syrische Junge, Opfer der Ablehnung Europas, und der westliche Dschihadist mit Ticket ohne Rückreise: zwei ganz unterschiedliche Bilder, eines so schrecklich wie das andere. In gewisser Hinsicht widersprechen sie einander, sie stellen jedoch die beiden Seiten einer Medaille dar: der Entscheidung unserer Regierungen, die Flüchtlingskrise sowie die Inhaftierung und Verurteilung 'unserer' Dschihadisten weit weg von uns auf andere abzuwälzen. Die Instrumentalisierung dieser beiden Bilder durch den türkischen Präsidenten weist kritisch auf die Schwachstellen und Grenzen der liberalen Demokratien Europas hin, mit denen Erdoğan zu brechen entschlossen ist.“

De Standaard (BE) /

Mit Dschihadisten lässt sich gut drohen

Ankara nutzt die IS-Kämpfer als Druckmittel gegen die EU, analysiert De Standaard:

„Die Türkei weiß, dass die Öffentlichkeit in Europa schaudert bei dem Gedanken, IS-Kämpfer wieder aufzunehmen. Indem sie mit diesem Schreckensbild droht, hofft sie, ihre Ziele zu erreichen. So will Ankara internationales Geld für Bauprojekte für Flüchtlinge in Nordsyrien. ... Die türkische Regierung hofft auch auf eine internationale Isolierung der kurdischen YPG-Miliz und der PKK. ... Außerdem stimmte die EU gerade jetzt einem gesetzlichen Rahmen zu für weitergehende Sanktionen wegen der türkischen Gasbohrungen bei Zypern. Darüber ist die Türkei wütend. ... Nach der militärischen Offensive ist die Botschaft an die EU deutlich: Nehmt Rücksicht auf uns, denn in Syrien habt ihr militärisch nichts zu sagen.“

Der Tagesspiegel (DE) /

Europa darf den Kopf nicht in den Sand stecken

Auf die Türkei zu schimpfen, ist unangebracht, meint Der Tagesspiegel:

„Zwar geht die Führung in Ankara recht rabiat vor, indem sie die Europäer vor vollendete Tatsachen stellt - man hätte das Thema auch in Zusammenarbeit mit der EU behandeln können. Aber das sind letzten Endes nur Stilfragen ... . In der Sache hat die Türkei Recht: Es geht um europäische IS-Extremisten, nicht um türkische. Die Europäer können sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen, indem sie den Kopf in den Sand stecken und darauf hoffen, dass jemand anders das Problem löst, oder indem sie europäische IS-Mitglieder kurzerhand ausbürgern. Deshalb ist es an der Zeit, dass sich Deutschland und Europa einen Plan zurechtlegen.“

thejournal.ie (IE) /

Rückkehrer bringen wertvolle Informationen mit

Die gebürtige Irin Lisa Smith, die vor drei Jahren nach Syrien gereist war, um sich der IS-Terrormiliz anzuschließen, soll in den kommenden Tagen von der Türkei nach Irland abgeschoben werden. Smiths Rückkehr ist eine Chance, meint TheJournal.ie:

„Aus Sicht der Geheimdienste ist Smith möglicherweise von großem Wert für die Behörden hier in Irland und in Großbritannien. Wie beim IS üblich, lebte Smith während ihrer Zeit im 'Kalifat' unter englischsprachigen Dschihadisten, die aus Irland und Großbritannien stammten. Sie könnte daher die Identität von Dutzenden Dschihadisten aus Irland und Großbritannien kennen, die wegen der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien aus Gefängnissen fliehen konnten. Viele konnten sich so wie Smith auf türkisches Staatsgebiet durchschlagen - doch anders als Smith werden sie in ihre Heimat zurückkehren, ohne dass es von Geheimdiensten bemerkt wird.“