Versagt die EU bei der Krisenbewältigung?
Am Dienstag hat die EU im Kampf gegen Covid-19 ein weitgehendes Einreiseverbot erlassen, das zunächst für 30 Tage gelten soll. Zudem sicherte EU-Ratschef Charles Michel der europäischen Wirtschaft zu, "was immer nötig" gegen die Folgen der Krise zu unternehmen. In den Kommentarspalten ist man sich einig, dass die Union bisher kein gutes Bild bei der Bekämpfung der Pandemie abgegeben hat.
Egoismus verdrängt europäischen Gedanken
Die Badische Zeitung beklagt, dass in dieser Notlage jeder alleine vor sich hinwurschtelt:
„Im Elsass ist das französische Gesundheitswesen womöglich heute schon nicht mehr in der Lage, der rasant steigenden Zahl an Covid-19-Patienten die bestmögliche Fürsorge angedeihen zu lassen. Und was machen wir, außer, die Grenze zu schließen? Bieten wir den Nachbarn an, einen Teil ihrer Kranken in Südbaden zu behandeln? Damit im Elsass Betten frei werden für jene, in deren Lungen der Sars-CoV-2-Erreger wütet? Schicken wir Ärzte und medizinisches Personal, wie es China mit Wuhan tat? Es ist kaum zu übersehen, dass Europa beim Krisenmanagement dieser Tage in den Hintergrund tritt, dass der europäische Gedanke bei der Eindämmung der Pandemie bestenfalls eine Nebenrolle spielt.“
Fehler über Fehler in Brüssel
"Europäische Solidarität" ist in Brüssel offenbar nur eine Worthülse, ätzt der Soziologe Tomaž Mastnak in seiner Kolumne in Dnevnik:
„Die neoliberale EU wurde diskreditiert. Die Brüsseler Eurokraten-Zentrale war nicht in der Lage, in der Gesundheitskrise eine kohärente Politik zu formulieren, und hat, im Namen des freien Kapitalverkehrs, die Mitgliedstaaten behindert, die versucht haben, ihre eigene Bevölkerung zu schützen. Als Italien um Hilfe bat, erhielt es keine Antwort. Dann verboten die Deutschen und Franzosen den Export von medizinischen Geräten nach Italien. 'Europäische Solidarität' gilt nur, wenn es gegen Russland oder Venezuela geht. ... Den Italienern mussten dann die Chinesen zu Hilfe kommen. ... Es ist deutlicher denn je geworden, dass es so nicht weitergehen kann.“
Nationales Denken nimmt überhand
Die mangelnde Gemeinschaftssinn in der Not könnte Europa nachhaltig beschädigen, fürchtet die Wochenzeitung Falter:
„Deutschland verhängte ein Exportverbot für Masken und Beatmungsgeräte, das erst auf Druck der EU-Kommission aufgehoben wurde. Österreich führte Gesundheitskontrollen an der [italienischen] Grenze ein ..., ohne die Partnerregierung in Rom auch nur zu konsultieren. ... Die Epidemie zeigt, wie in der EU das nationalstaatliche gegenüber dem Gemeinschaftsdenken überhandnimmt. Obwohl die Kommissionspräsidentin solidarische Unterstützung verspricht, nützen die Mitgliedsstaaten die Ausnahmesituation, um sich als Nationalstaaten zu behaupten. Das könnte zur nachhaltigsten Folge der Epidemie werden.“
Wir sind Geiseln des Virus
Die EU erlebt derzeit womöglich ihre schwerste Stunde, bemerkt La Repubblica:
„Die EU als 'rote Zone', um sich vor einer globalen Ansteckung zu schützen, ist etwas, das wir uns zu erleben nie vorgestellt hätten. ... Doch es ist genau das, was heute passieren wird, was die Staats- und Regierungschefs in der dramatischsten Telefonkonferenz entscheiden werden, die die EU je erlebt hat. Das Europa der Aufklärung, der Gründerväter und des Manifests von Ventotene, gerecht, frei und solidarisch, wird von einem unsichtbaren und schwer fassbaren Feind besiegt. Das Europa des freien Austauschs von Ideen, Menschen und Gütern, ist gezwungen, sich vor einer Krankheit zu panzern, die einem den Atem raubt und uns zu Geiseln macht.“
Der Egoismus grassiert
Nationale Rücksichtslosigkeiten bestimmen die Politik auch in dieser Krise, schimpft Petre M. Iancu im Rumänischen Dienst der Deutschen Welle:
„Die Italiener, die von einer Sterblichkeitsrate betroffen sind, die höher ist als andernorts, haben vergeblich auf Hilfe und Solidarität der EU-Staaten und der hochentwickelten Länder Nordeuropas gewartet. ... Neben Fieber und trockenem Husten hat die Pandemie Symptome, die bisher kaum untersucht sind. ... Einer davon ist die Epidemie der Panik und ein zunehmend grausamer nationaler Egoismus, der völlig blind für das Offensichtliche ist: dass der Killer zu klein ist, um einen Pass zu benötigen und zu stark, um allein durch nationale Maßnahmen ausgerottet zu werden.“
Nur Europa kann die Gesundheit schützen
Auch die Frankfurter Rundschau ist alles andere als überzeugt vom Krisenmanagement der EU:
„Trotz der jahrelang eingeübten Gipfel-Routinen und der transnationalen Vernetzung seines Führungspersonals mangelt es am Austausch untereinander. Dabei ist kaum eine andere Krise denkbar, zu deren Bewältigung internationale Koordination so nötig ist wie die grenzenlose Verbreitung eines tödlichen Virus. ... [E]ine wirksame Bekämpfung der Corona-Pandemie übersteigt die Möglichkeiten des Nationalstaats. Dieser kann der Verantwortung für seine Bürger lediglich im Verbund mit anderen Staaten nachkommen. ... Um die Gesundheit seiner Bürger besser zu schützen, braucht es mehr statt weniger Europa.“
Nationalstaaten müssen sich an eigene Nase fassen
Zu Unrecht wird die Union in der derzeitigen Krise an den Pranger gestellt, findet hingegen Hospodářské noviny:
„Alle, die die EU für ihre Untätigkeit in der derzeitigen Krise kritisieren, müssen daran erinnert werden, dass die Union nur die Vollmachten hat, die ihr die Mitgliedsstaaten geben. Es hat keinen Sinn, der EU etwa den Mangel an Atemmasken vorzuwerfen. ... Doch hier lauert auch eine Gefahr: Wenn alles überwunden ist, werden viele sagen, dass man eine solche EU nicht braucht. Das wäre aber nur ein weiterer Fehler. ... Dennoch werden es Politiker, die nach Corona den Ethos der europäischen Zusammenarbeit hochhalten wollen, sehr schwer haben.“