Das Potenzial der Anti-Rassismus-Proteste
Nach mehreren Wochen der Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA und Europa hat die Zahl der Demonstrierenden nun vielerorts abgenommen. Hat die Bewegung bereits nachhaltige Spuren hinterlassen oder schwindet ihre Kraft zu früh? Welche Botschaften sollten bleiben?
Den Westen verbessern, nicht zerstören
So berechtigt er ist, der Anti-Rassismus-Kampf darf nicht zum blinden Zerstörungsakt verkommen, mahnt der Schriftsteller und Journalist Kamel Daoud in Le Monde:
„Monströs, wenn er Hunger hat, ungerecht und mit zerstörerischer Vergangenheit, schön, faszinierend in der Dunkelheit der Welt, glänzend im Traum und in den Wunschvorstellungen des Migranten, tugendhaft durch eine unvollendete Demokratie, scheinheilig wegen seines Ressourcenraubs und seiner mörderischen Kolonialvergangenheit, ohne Bewusstsein und glücklich - der Westen ist, was er ist: unvollkommen und verbesserungswürdig. ... Es geht nicht darum, ihn zu zerstören. Die, die davon träumen, sind die, denen es nicht gelungen ist, einen besseren Traum zu finden als den der Barbarei der Revanche, und die ihre tiefliegenden Rachegelüste nicht überwinden können.“
Ergebnislos verpufft
Die Proteste gegen Rassismus verlieren an Fahrt, ohne dass sich etwas grundlegend geändert hat, warnt The Guardian:
„Nach drei Wochen des Rausches dreht sich das Nachrichtenrad nun weiter. ... Es fühlt sich ein wenig wie der Morgen nach einer Großveranstaltung an: Der Boden ist von Müll übersät, einige Hartnäckige tummeln sich noch vor Ort, weil sie nicht gehen wollen oder zu müde sind, aber die Straßenreinigung ist schon da. Bald wird es hier keine Anzeichen mehr geben, dass etwas passiert ist. ... Ein Großteil der Veränderungen der letzten Wochen ist nur Optik – Unternehmen, die ihren Vorstand neu zusammensetzen wollen, Marken, die auf Instagram schwarze Quadrate veröffentlichen. Wir werden womöglich herausfinden, dass für ein Anliegen nur eines schädlicher ist, als gar nichts zu tun: Nämlich ein bisschen etwas zu tun und dann zu denken, dass das genug ist. “
Fundamente des Kapitalismus werden erschüttert
In den USA wird derzeit die Systemfrage gestellt, glaubt Delo:
„Auch die USA geben zu, dass ihr Erfolg auf 350 Jahren Sklaverei und weiteren 150 Jahren systematischer Repression gründet. Die Proteste und die Forderungen nach Reparationszahlungen und Solidarität untergraben die Fundamente des Kapitalismus, auf denen die USA basieren. Und das betrifft auch die übrige Welt, für die die USA weiterhin das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Universums darstellen. Es ist Zeit, dass wir den ungebändigten Finanzkapitalismus in Frage stellen, nun, wo auch deren Erfinder, die USA, zugeben, dass er auf Ungerechtigkeit und deren systematischer Erhaltung basiert. Es wäre gut, heute darüber nachzudenken, was für eine Gesellschaft wir sein wollen, wenn es keine Gesellschaft mehr geben wird, an der wir uns ein Beispiel nehmen könnten.“
Nun geht es vereint gegen Trump
Die Proteste werden den Schlussstrich unter Trumps Herrschaft ziehen, glaubt Radio Kommersant FM:
„Sie haben die Gesellschaft gespalten und extrem politisiert. Und alle Gegner des Präsidenten mobilisiert: Demokraten ebenso wie Opponenten in der eigenen Partei, die meisten Medien, die Vertreter der ethnischen und sexuellen Minderheiten und die ultralinken Feinde des Kapitalismus. Für sie ist der Herr im Weißen Haus das Symbol für die gegenwärtigen Nöte Amerikas, das man um jeden Preis loswerden muss. Das Ziel ist nun die maximale Mobilisierung ihrer Unterstützer und der potentiellen Wähler. Niemand kümmern mehr Bidens Sexskandale vor 30 Jahren, seine Patzer und seine Demenz. Die Menschen werden nicht für ihn, sondern gegen Trump stimmen. Trumps größter Gegner ist nicht Biden, sondern er selbst.“
Debatten-Import ist die bequeme Lösung
Spanien darf sich nicht allein mit dem Rassismus der anderen befassen, mahnt Schriftstellerin Najat El Hachmi in El País:
„Fallt ruhig auf die Knie, um euch mit George Floyd zu solidarisieren und Rassismus zu verurteilen. Aber tut nicht so, als sei die Frage damit in Spanien vom Tisch. Denn hier haben wir die öffentliche Debatte über Rassismus noch kaum begonnen. Obwohl wir eine eigene koloniale Vergangenheit haben und obwohl in unserem Land seit Jahrzehnten mehr Migranten ein- als auswandern, ist es, medial wie politisch, noch immer schwer, dieses Thema mit etwas Tiefgang zu behandeln. ... Ich glaube nicht, dass es eine Lösung ist, die Abkürzung zu nehmen, indem wir die Debatte aus den USA importieren. Besser wäre es, den Balken im eigenen Auge zu bemerken.“
Der Sommer könnte heiß werden
Sich ausbreitende Unruhen im Zusammenhang mit den Antirassismus-Protesten fürchtet Ilta-Sanomat:
„Die einsetzende Wirtschaftskrise durchkreuzt die Zukunftsträume der Jugend in den USA und Europa. Ihre Sorgen sind begründet. ... Die Geschichte lehrt, dass arbeitslose junge Menschen bereit sind, ihre Meinung kundzutun. ... Die Unzufriedenheit wächst auch in Ländern, wo die Geschehnisse in den USA nicht der Auslöser sind. Russland zum Beispiel ging bei der Bewältigung der Corona-Krise äußerst willkürlich vor. ... In vielen Schwellenländern hat die Krankheit noch nicht mit voller Kraft zugeschlagen. Wenn zusätzlich zu Problemen im Gesundheitswesen Lebensmittel oder andere Dinge der Grundversorgung knapp werden, braucht es keinen weiteren Zündfunken. Dies könnte ein Sommer des Zorns werden.“
Chance zur Mobilisierung der Jugend
Endlich könnte die Gesellschaft ein Gegenmodell zur Politik Macrons entwickeln, erklärt Soziologe Éric Fassin und schreibt in L'Humanité:
„Für Antirassisten und Linke bietet sich eine historische Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt: Die altehrwürdigen Bewegungen können nun neuen Kontakt zur Jugend und zu strukturschwachen Vierteln herstellen. Das ist umso wichtiger, als dass sich unser junger Präsident an eine alternde Wählerschaft richtet, indem er wie gewohnt auf Angst setzt. Ich habe Assa Traoré [die Schwester des 2016 bei einem Polizeieinsatz getöteten Schwarzen Adama Traoré] jüngst als 'Schwester Courage' bezeichnet. Denn Mut ist es, was diese Bewegungen letztlich auszeichnet, allen Drohungen und aller Gewalt zum Trotz. Die Jugend lässt auf eine Politik hoffen, die Wut in Hoffnung umwandelt und dem Regime der Angst, das der Staatspräsident errichtet, etwas entgegensetzt.“
Radikalität lässt sich lernen
Inspiriert von den Protesten in den USA könnten auch die Unterschichten in Europa zur kollektiven Selbstverteidigung übergehen, glaubt Soziologe Pál Tamás in Népszava:
„Die Afroamerikaner in den USA sind zwar in einer besonderen Situation, aber auch die osteuropäischen Roma zwingt man unbewusst oft in ähnliche Umstände. ... Unsere Welt ist ruhiger als die in Atlanta oder in Minneapolis, aber das liegt nicht an einer klügeren Politik, sondern vielmehr am allgemeinen Gemütszustand in der Pannonischen Tiefebene. Die ungarischen Eliten und die Mittelschicht haben einfach mehr Glück gehabt. ... Aber man kann im Leben vieles lernen. Warum sollte der Radikalismus nicht auch in die unteren zwei Drittel unserer Gesellschaft exportiert werden? Es scheint immer mehr so, dass in dieser Entwicklungsphase der Gesellschaft nur das helfen kann.“
Das Problem ist der Kapitalismus
AbrilAbril sieht die Proteste als einen Beleg für einen dringend nötigen Systemwechsel:
„Man kann Rassismus nicht wirksam bekämpfen, ohne den Kapitalismus auf organisierte Weise anzugreifen. Ebenso wenig ist es möglich, sich für den Frieden einzusetzen oder effizient gegen den Klimawandel vorzugehen, ohne gegen den zu handeln, der Krieg führt und den Planeten zerstört: den Kapitalismus. Rassismus, Polizeigewalt, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, kulturelle Diskriminierung, Kolonialismus, Terrorismus, Krieg und Umweltzerstörung sind Zweige desselben Baumes. Sie wohnen einem System inne, das den Weg der Globalisierung fortsetzt und in dem Nationalismen und Faschismen der immer dringenderen Notwendigkeit entsprechen, das Überleben des Kapitalismus selbst abzusichern.“