Abtreibung in Polen: Frauen kämpfen für ihr Recht
In Polen setzen sich die Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes fort. Rund 100.000 Menschen waren am Freitag in Warschau versammelt und legten den Verkehr lahm. Das Verfassungsgericht hatte Schwangerschaftsabbrüche auch bei schweren Fehlbildungen des Fötus für illegal erklärt und damit eines der striktesten Abtreibungsgesetze Europas weiter verschärft.
Die Jagd auf Hexen geht weiter
Die Aktivistin Carolina Pereira vergleicht in Observador das neue Abtreibungsgesetz mit der Hexenverfolgung vergangener Jahrhunderte:
„Hexerei galt lange Zeit als Verbrechen und gab das Recht auf Inhaftierung, Pranger oder Hinrichtung. ... Die Realität in Polen könnte dieser Horrorgeschichte kaum stärker ähneln. Ebenso wie die Tatsache, dass die Gleichstellung der Geschlechter bei dem aktuellen Tempo erst in 99 Jahren erreicht werden würde. Heute verwendet die feministische Bewegung den Ausdruck 'Hexe' als Symbol für Empowerment und Ausdauer. Heute gehen die Polen in einem gemeinsamen Ruf nach Freiheit auf die Straße. Mir geht es in diesen Zeilen nicht nur um Feminismus, Hexerei und das, was in Polen passiert. Mir geht es um Freiheit, um Menschenrechte, Würde und Gleichheit.“
Litauen muss klare Position beziehen
Auch Vaiva Rykštaitė sieht Parallelen zu einer Hexenjagd. Die litauische Regierungskoalition, mit drei Frauen an der Spitze, sollte die Situation im Nachbarland verurteilen, fordert die Schriftstellerin auf Lrt:
„Es ist schwer zu begreifen, dass in einem vermeintlich demokratischen Land im Europa des Jahres 2020 eine Hexenjagd stattfinden kann. Anders kann man das aber nicht nennen. Denn gelten Abtreibungen als grundgesetzwidrig, wird jede Frau, die nach so einer Lösung sucht, zu einer Kriminellen. ... Wenn wir die Proteste im Nachbarland und den Zwiespalt sogar zwischen dem Präsidenten Duda und dem radikalkonservativen Führer der Partei Kaczyński beobachten, bleibt uns nur die Hoffnung, dass unsere in Litauen gewählten führenden Politikerinnen eine strenge und klare Haltung einnehmen.“
Frauen werden zu Brutkästen degradiert
Mit religiösen Überzeugungen hat das frauenverachtende Abtreibungsverbot wenig zu tun, stellt die Psychologin Sara Arutjunjan in Nowaja Gaseta klar:
„Es gibt sehr fromme, religiöse Menschen, aber sie sind nicht die treibende Kraft hinter diesen unmenschlichen Entscheidungen. Hinter solchen Gesetzen stehen weiße, heterosexuelle Orthodoxe, die sich wünschen, dass Frauen für immer Brutkästen für die Geburt von Kindern bleiben - selbst von toten Kindern. Was sie beschlossen haben, ist Wahnsinn: Selbst wenn wir wissen, dass ein Kind mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit stirbt, so musst du es doch austragen und gebären, damit wir es taufen und beerdigen können. Das ist jenseits der Grenze von Gut und Böse in einem europäischen Land.“
Weniger Hass, mehr Verständnis
Hass und Beleidigungen haben auf den Demos nichts zu suchen, findet der Journalist Dawid Warszawksi in Gazeta Wyborcza:
„Bei den Protesten wurde der Slogan 'Verpisst euch!' inmitten des Meeres ergreifender, brillanter und kreativer Parolen manchmal sogar noch weiterentwickelt: 'Ganz Polen singt mit uns: PiS verpiss dich!'. Es ist eine Wunschvorstellung, denn nur die Hälfte Polens singt mit uns. Die andere Hälfte hat PiS gewählt. ... Ich vermute, dass die, die den Slogan singen, die andere Hälfte in Verlegenheit bringen wollen, damit sie ihre Ansichten ändert. Ich vermute jedoch, dass das ihre Ansichten stärken wird. Sie wollen nicht in unserem Polen leben und wir nicht in ihrem. Und da keine Seite gehen will, bleibt nichts anderes übrig, als die andere dazu aufzufordern. Nun, es sei denn, wir reden. Aber wie sollen sie mit uns reden, wenn wir wollen, dass sie sich verpissen?“
Kirche hat aufs falsche Pferd gesetzt
Der große Rückhalt, auf den sich die katholische Kirche in Polen stets stützen konnte, könnte nun verloren gehen, glaubt Népszava:
„Die polnische katholische Kirche ist in eine Situation geraten, von wo aus der Weg nur noch in den Niedergang führt. ... Es gibt in der Kirchenführung doch einige, die das Gefühl haben, dass sie einen fatalen Fehler machen, wenn sie diese Entscheidung, die von 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnt wird, offen unterstützen. ... Das oberste Gremium der Kirche, die Bischofskonferenz, hat eilig zum Dialog aufgerufen. Jetzt ist es aber schon zu spät. Die Kirche erfährt nun, wohin es führt, wenn sie sich nicht offen von den Extremisten distanziert, die die Religion als Instrument nutzen.“
Auch anderswo haben Frauen Angst
Auch in Rom, Lissabon und Stockholm fanden Demonstrationen für die polnischen Frauen statt. Diese Solidaritätswelle wundert die Menschenrechtsaktivistin Roxana Dumitrache überhaupt nicht, wie sie in Adevărul schreibt:
„Die Summe all dieser Ängste gibt es eben, weil Europa zu einem immer klaustrophobischeren Ort für Frauen wird. Ein Europa, in dem Staaten Gender Studies verbieten; wo Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern und Gewalt gegen Frauen weit verbreitet sind; wo Vergewaltigungen moralisch gerechtfertigt werden und die vehementesten Pro-Life-Verfechter die sind, die gar nicht gebären können: Männer. ... Es ist ein Europa, das in die düsteren Zeiten zurückkehren könnte, als Frauen ihr Leben bei Schwangerschaftsabbrüchen in Küchen verloren haben, mit Kleiderbügeln und Stricknadeln.“
Diese Geister wird Kaczyński nicht mehr los
Die landesweite Protestbewegung hat PiS-Chef Jarosław Kaczyński auf dem falschen Fuß erwischt, zeigen sich die Autoren Karolina Wigura und Jarosław Kuisz in The Guardian überzeugt:
„Diesmal geht die populistische Strategie nicht auf. Eine neue politische Bruchlinie wurde geschaffen, und Kaczyński ist nicht in der Lage zu bestimmen, wie die Sache ausgeht, oder die Geister wieder loszuwerden, die er rief. Er hat noch drei Jahre bis zur nächsten Parlamentswahl. Doch Frauen, die zuvor kein Interesse an Parteipolitik gezeigt hatten, sind hell empört und gehen auf die Straße. ... Vor fast 300 Jahren bemerkte Montesquieu, dass ein Despot, der seine Untertanen versklavt, Gefahr läuft, auch sich selbst zu versklaven. Dies ist die Falle, in die der bedrängte Kaczyński nun tappt. ... Und es könnte ihn letztlich auf den Schrotthaufen der polnischen Geschichte befördern.“
Die Mehrheit schweigt weiter
Deník glaubt nicht, dass die Proteste etwas bringen werden:
„Könnte die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes gekippt werden? Hat die PiS die imaginäre Schraube zu fest angezogen? Können aktuelle Demonstrationen Polen verändern? Kaum. Diejenigen, die seit einer Woche zu Demonstrationen für Frauenrechte gehen, hoffen darauf, aber es gibt in Polen immer noch eine große schweigende Masse derjenigen, die mit der Politik der Regierungspartei zufrieden sind. Und das ist die Mehrheit, wie all die Wahlergebnisse der letzten Jahre gezeigt haben.“
Frauenrechte gehen über Gesundheit
Die Journalistin Eliza Michalik verteidigt in Gazeta Wyborcza diejenigen, die trotz Pandemie und Ansteckungsgefahr demonstrieren:
„Das haben sie sich nicht so ausgesucht. Sie reagieren einfach auf die Situation, die das von der PiS besetzte Verfassungsgericht mit einem Urteil hervorgerufen hat, das Frauen zwingt, irreversibel beschädigte und deformierte Föten zu gebären. ... Wir Polinnen und Polen haben keine Wahl. Wenn es keine Proteste gibt, wenn wir schweigen, wird dies als Zustimmung zu weiterer Gewalt und Unterdrückung wahrgenommen werden.“
Ein globales Schlachtfeld
Der weibliche Körper wird weltweit noch immer als Austragungsort für ideologische Kämpfe missbraucht, konstatiert der Tages-Anzeiger:
„Die reklamierte 'Schutzpflicht für das ungeborene Leben' ist immer auch: Entmündigung von Frauen. Bei einer der persönlichsten und schwierigsten Entscheidungen, die eine Frau treffen kann, zählt ihr eigener Wille - nichts. Oberhalb der persönlichen Ebene stehen die Verschärfungen der Abtreibungsgesetze weltweit sinnbildlich für die immer noch ungleich verteilten Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen. Die 'Babyfabriken' von Menschenhändlern in Nigeria, die systematische Vergewaltigung von Jesidinnen oder aktuell die zum Gebären gezwungenen Polinnen - der weibliche Körper ist Austragungsort ideologischer Feldzüge.“
Zahl illegaler Abbrüche wird weiter steigen
Nun werden noch mehr Polinnen außerhalb der Legalität abtreiben, ist die Neue Zürcher Zeitung überzeugt:
„Der Chef der Regierungspartei PiS und starke Mann Polens, Jarosław Kaczyński, hatte schon vor vier Jahren erklärt, worum es geht: Das Kind solle noch getauft werden, bevor es begraben wird. Was die Eltern wünschen, spielt keine Rolle. Das ist unmenschlich. ... Polen hat bereits jetzt eine Abtreibungsgesetzgebung, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ignoriert. ... Offiziell verzeichnete das Land im letzten Jahr zwar nur 1.100 Schwangerschaftsabbrüche. Die Frauenorganisation Federa schätzt aber, dass über 100.000 Polinnen jährlich abtreiben lassen - im benachbarten Ausland oder unter Inkaufnahme gesundheitlicher Risiken in der Illegalität. Diese Zahl wird nun ohne Zweifel steigen.“
Eine Gefahr für den inneren Frieden
Für die Berliner Zeitung bestätigt die Entscheidung des Verfassungsgerichts die schlimmsten Befürchtungen:
„[D]ass die Justizreform mit dem Ziel durchgeführt wurde, das Oberste Gericht zu politisieren. 14 von 15 Verfassungsrichtern wurden von einem Parlament ernannt, in dem die PiS-Regierung über die absolute Mehrheit verfügt. Jetzt hat das Verfassungsgericht gezeigt, dass es nicht abwägt, nicht den Kompromiss sucht, sondern bloß ein Machtinstrument der Konservativen ist. Dieses Urteil gefährdet Polens inneren Frieden.“
Adieu, liberales Europa
Für Le Monde bewegt sich Polen in besorgniserregender Weise rückwärts:
„Von den etwa 1.100 legalen Abtreibungen, die 2019 durchgeführt wurden, waren 98 Prozent auf fötale Missbildungen zurückzuführen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts kam daher einem faktischen Verbot des Rechts auf Abtreibung für polnische Frauen gleich. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass sich das Polen von Jarosław Kaczyński von den liberalen Sitten in der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten entfernt. ... Der Rückschritt in sozialen Fragen geht so weit, dass selbst Präsident Andrzej Duda, obwohl er ein waschechter Konservativer ist, sich diese Woche vom Bildungsminister Przemysław Czarnek distanzieren musste, der behauptet, Frauen seien geschaffen worden, um Kinder in die Welt zu setzen.“
Kirche mischt sich immer mehr in Politik ein
Der Vorsitzende der ungarischen Bischofskonferenz, András Veres, hat künstliche Befruchtung kürzlich als schwere Sünde bezeichnet und ein Verbot gefordert. Weit ist Ungarn nicht von polnischen Zuständen entfernt, warnt Mérce:
„Wir sind also so weit gekommen, dass die Kirche, die gegen Abtreibung ist und die reproduktiven Rechte der Frauen abschaffen oder beschränken will, sich auch bei uns direkt in die Politik einmischt. ... Das ist eine ernste Warnung für uns alle, dass die Kirchen auch in Ungarn in eine Entscheiderrolle zurückgekehrt sind. Vom Prinzip der wünschenswerten Trennung von Staat und Kirche sind wir immer weiter entfernt.“
Ein Kalkül von zynischer Perfidie
Das Urteil ist ein Skandal, empört sich die Süddeutsche Zeitung:
„Die Entscheidung kommt nicht von ungefähr ausgerechnet jetzt. Die von Kaczyńskis nationalpopulistischer Partei PiS geführte Regierung ist durch etliche Skandale beschädigt. Zudem ist sie nach monatelangen Versäumnissen in Polens Krankenhäusern und Verwaltungen nun mitverantwortlich für einen explosionsartigen Anstieg der Zahl der Covid-19-Infizierten. Ein Ablenkungsmanöver ... kommt da gerade recht. Ohne die Corona-Beschränkungen würden wohl wieder Zehn- oder Hunderttausende Polinnen gegen das Abtreibungsverbot auf die Straße gehen. So aber wird es erst einmal keinen Massenprotest geben - ein Kalkül von zynischer Perfidie, das längst ein Merkmal dieser Regierung ist.“
Die Mehrheit will das nicht
Das Onlineportal OKO.press appelliert an die Opposition, sich des Themas nun verstärkt anzunehmen:
„Die Mehrheit der Polen ist definitiv gegen so eine Verschärfung des derzeit geltenden Abtreibungsgesetzes. Ob sich der heutige brutale Angriff auf die Rechte der Frau in neuer Unterstützung der Polen für die Opposition niederschlägt, hängt nun ganz davon ab, wie gut die Opposition es hinbekommt, die Wähler davon zu überzeugen, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts keine technische Frage ist, sondern vom politischen Willen der Regierungspartei abhängt.“