Impfstoffe: Die Welt zwischen Hoffnung und Skepsis
Nachdem Biontech und Pfizer und kurz darauf auch der US-Konzern Moderna einen Durchbruch bei der Entwicklung hochwirksamer Corona-Impfstoffe vermeldet hatten, ist die Hoffnung auf eine Überwindung der Pandemie durch flächendeckende Immunisierung gestiegen. Während einige Kommentatoren geradezu euphorisch werden, sehen andere noch erhebliche Hürden und Gründe für Skepsis.
Das ging verdächtig schnell
Gerade Freunde der Wissenschaft haben allen Grund, an den jetzt entwickelten Impfstoffen zu zweifeln, argumentiert der Journalist Henrique Raposo in Expresso:
„Ich bin nicht misstrauisch gegenüber diesen Impfstoffen, weil ich gegen die Wissenschaft oder gegen die Pharmazie wäre. Im Gegenteil. Ich bin misstrauisch, weil ich an das Protokoll der Wissenschaft glaube, das von der Politik, den Medien und der kollektiven Angst, die nach einer wundersamen Heilung verlangt, absurd gehetzt wurde. Ein mentaler Zustand, in dem man den Impfstoff annimmt, ohne Fragen zu stellen, und davon ausgeht, dass schon alles gut werden wird. Das scheint mir eine gefährliche Illusion zu sein, für die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft und für das Konzept der Wahrheit an sich.“
Zunehmende Ablehnung ist kein Zufall
Laut einer aktuellen Umfrage ist die Impfbereitschaft gegenüber Juni, als es noch keinen Impfstoff gab, in allen befragten Ländern gesunken. La Stampa fragt nach den Gründen:
„Welchen Einfluss hat das Vertrauen in die Regierungen, die wissenschaftlichen Institutionen und ihren Umgang mit der Pandemie? Welche Rolle spielt das Medienspektakel, das von Spaltungen und Kontroversen zwischen Wissenschaftlern und Experten genährt wird? Mit der daraus erwachsenden Desorientierung, was die Verlässlichkeit von Informationen und Daten betrifft? … Nicht umsonst äußerte sich eine Mehrheit in vier der fünf Länder, die von der Umfrage erfasst wurden, besorgt über die Sicherheit der Impfstoffe und stellte das Tempo des Entwicklungsprozesses und der Produktion in Frage. Dazu kommt die Angst vor Nebenwirkungen.“
Weg frei für produktive Welle
Die Impfstoffentwicklung sollte uns Hoffnung auf ein neues Zeitalter machen, schreibt hingegen Wirtschaftsjournalist David McWilliams auf seinem Blog:
„Impfung beschleunigt den Weg zur Herdenimmunität. Danach kann sich die Gesellschaft neu berappeln, wie nach anderen Pandemien. Die Geschichte zeigt, was hier vor uns liegen könnte. So war die wirtschaftliche, technologische und kommerzielle Reaktion auf die spanische Grippe von 1918-1921 äußerst beeindruckend. ... Denken Sie an Licht per Knopfdruck, den Ford T als erstes erschwingliche Auto, an das Radio, das Millionen von Menschen Nachrichten brachte, oder an das Telefon. ... All diese Erfindungen wurden durch eine Welle des Optimismus vorangetrieben, die das Ende einer globalen Pandemie und eines Weltkrieges mit sich brachten. Ähnliches könnte in den 2020er Jahren passieren.“
Wettbewerb ist für alle gut
Der Tages-Anzeiger jubelt über die Bekanntgabe von Moderna:
„Die vorläufigen Forschungsresultate der Biotech-Firma Moderna machen so optimistisch, weil sie auch die Studie des Konkurrenten Biontech glaubwürdiger machen. Denn beide Impfungen funktionieren nach demselben, genbasierten Prinzip. Und beide belegen eine überaus hohe Wirksamkeit ..., und das ohne bislang bekannte Nebenwirkungen. ... Optimismus ist auch angebracht, weil mit dem zweiten ermutigenden Impfprojekt nun ein wirklicher Wettbewerb in Gang kommt. ... Die Firmen sind so gezwungen, zu zeigen, dass ihr Impfstoff keine Risiken birgt. ... Die Konkurrenz der beiden sich ähnelnden Covid-Vakzine wird auch verhindern, dass die Firmen astronomische Preise verlangen.“
Es gibt zu viele Zauderer
Vor der nötigen Durchimpfung muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, mahnt The Guardian:
„Was Experten im Gesundheitswesen nachts wach hält, sind nicht die paar Menschen, die überzeugt sind, dass Bill Gates ihnen unsichtbare Mikrochips injizieren möchte. ... Es sind vielmehr die 'Impfstoff-Zauderer'. ... Nur sieben Prozent würden laut einer Umfrage von JL Partners aus der vergangenen Woche einen Covid-Impfstoff definitiv ablehnen. Aber jeder Fünfte zeigt sich zögerlich. Frauen glaubten dabei häufiger als Männer, dass der Impfstoff nicht genug getestet wurde. Diese schwankenden 'Impfstoff-Zauderer' könnten leicht von etwas beeinflusst werden, dass Freunde auf Facebook posten. Sie warten lieber und sehen, was passiert, wenn andere geimpft werden.“
EU ist zum ersten Mal wirklich vereint
Die EU-Kommission hat mit Biontech und Pfizer einen Vertrag über den Kauf von bis zu 300 Millionen Dosen Impfstoff ausgehandelt. Massimo Riva lobt dies in seiner Kolumne in La Repubblica:
„Vor allem mit Blick auf die Entwicklung im föderalen Sinne der EU gewinnt die Initiative der Kommission an Bedeutung. Es handelt sich um einen echten Akt der Außen- und Sicherheitspolitik. Vielleicht der erste wirkliche Akt, mit dem die Union auf der internationalen Bühne kompakt und mit einer Stimme auftritt, um das politische Gewicht und die wirtschaftliche Stärke optimal zu nutzen.“
Wissenstransfer ermöglichen
In Le Temps werben Ex-Ministerin Ruth Dreifuss und Gesundheitsexperte Patrick Durisch für einen Antrag Indiens und Südafrikas bei der WTO, die geistigen Eigentumsrechte auf Arzneimittel und Technologien gegen Covid-19 vorübergehend auszusetzen:
„Die WHO hat zwar auf Solidarität ausgerichtete Initiativen lanciert, darunter Covax für Impfstoffe, doch diese globalen Mechanismen stoßen auf ein großes Hindernis: das geistige Eigentum, das Patente, Knowhow und vertrauliche Daten umfasst. Es verhindert das Teilen von Wissen und die schnelle Vermehrung von Produktionsstätten dringender medizinischer Güter. … Die Schweiz wäre gut beraten, dem Aufruf der Zivilgesellschaft und der WHO zu folgen und den Antrag auf Aussetzung der Patente zu unterstützen. ... Millionen von Leben stehen auf dem Spiel. Die Schweiz kann zu ihrer Rettung beitragen.“
Paris muss sich mit Patentschutz befassen
Greift die französische Regierung jetzt nicht entschlossen ein, drohen Verzögerungen bei der Verteilung des Impfstoffs, mahnt Matthieu Dhenne, Anwalt für geistiges Eigentum, in Les Echos:
„Der Staat kann zwar die Einführung einer Zwangslizenz fordern, um den Zugang zu den Patenten sicherzustellen, doch diese Prozedur ist sehr schwerfällig. … Anders als andere Akteure des Sektors haben sich Pfizer und Biontech nicht dazu verpflichtet, unter gewissen Bedingungen kostenfreien Zugang zu ihrem geistigen Eigentum im Zusammenhang mit Covid-19 zu gewähren. ... In einem Stadium, wo die Forschungen allmählich Ergebnisse erreichen, ist es höchste Zeit, dass die französische Regierung sich mit diesen Fragen zum geistigen Eigentum befasst, wenn man einen Engpass verhindern will, der an das Maskenchaos im vergangenen Frühjahr erinnert.“
Gelder für Forschung sichern statt kürzen
Die Ankündigung eines Impfstoffes durch Biontech und Pfizer ist für Politiken ein Triumph der Wissenschaft:
„Eine solch effektive Impfung in weniger als einem Jahr in einer Welt des Lockdowns zu entwickeln, ist einzigartig. Ein Triumph der Wissenschaft und etwas, das alle Politiker in den kommenden Jahren im Hinterkopf behalten müssen, wenn die Forschungsmittel verteilt werden. Die Zivilisation ist auf Wissenschaft und Forschung aufgebaut und das, was kurzfristig wie eine Einsparung aussieht, kann langfristig sehr schnell sehr teuer werden.“
Europa braucht schleunigst einen Plan
Der Tagesspiegel fordert, sich schon jetzt Gedanken über die Kriterien der Verteilung in Europa zu machen:
„Welche Länder bekommen zuerst, was sie zu brauchen behaupten? Deutschland, weil es Millionen Fördergelder in die Impfstoffentwicklung gepumpt hat, oder Polen, weil die Bevölkerung dort mehr als die in Deutschland unter Corona leidet? Das Land mit den wenigsten Intensivbetten, weil da Geimpftsein potenziell lebenserhaltender ist als dort, wo es viele Intensivbetten gibt? Es wäre schön, wenn die Debatte um eine gerechte Impfreihenfolge rasch konkreter würde. Auch, um den Eindruck zu zerstreuen, man laufe den Ereignissen wieder hinterher. Denn - auch das ist klar - eine solcher Impfplan hätte längst fertig sein müssen.“
Durchdachte Strategie für Impfgegner
Ein Impfstoff gegen Covid-19 wird nur dann hilfreich sein, wenn er möglichst vielen Menschen verabreicht wird, schreibt Webcafé und fordert eine Aufklärungskampagne für Impfgegner:
„Jetzt ist es an der Zeit, gegen die Impfstoff-Gegner vorzugehen. Wenn die Impfung erst einmal vollständig fertig entwickelt ist, wird es zu spät sein. Jeder, der mit einem Verschwörungsfan oder einem ausgesprochenen Impfgegner gesprochen hat, weiß, dass diese Art von Skeptikern äußerst schwer von ihrer Meinung abzubringen sind. Deshalb muss für sie eine sorgfältig durchdachte Strategie entwickelt werden, die buchstäblich Leben retten wird.“
Erfolgreiche Wissenschaft kennt keine Grenzen
Migration und Zusammenarbeit über Grenzen hinweg haben diesen Durchbruch möglich gemacht, freut sich Kolumnist David Aaronovitch in The Times:
„Eine große wissenschaftliche Anstrengung ist eine Unternehmung, die jenseits von Grenzen und weitgehend jenseits von Vorurteilen stattfindet. Die klügsten jungen Wissenschaftler wollen dorthin gehen, dort arbeiten und dort studieren, wo die interessanteste Arbeit gemacht wird. Als ich 2016 nach Südfrankreich reiste, um den Physiker Carlo Rovelli zu interviewen, war ich persönlich beeindruckt von den Orten, an denen er gearbeitet hatte, und von den Teams, mit denen er gearbeitet hatte. Wissenschaft auf diesem Niveau erfordert wechselseitige Befruchtung. Sie erfordert Mobilität und Migration. Es braucht Zusammenarbeit und Austausch.“
Skeptiker müssen dringend überzeugt werden
Upsala Nya Tidning blickt mit Sorge auf die vielen Impfgegner, die eine ausreichende Durchimpfung der Gesellschaft behindern:
„Alle Impfprogramme basieren auf einem bestimmten, relativ hohen Prozentsatz der Teilnehmer und darauf, dass es eine staatsbürgerliche Pflicht gibt, sich solidarisch impfen zu lassen. Impfgegnerschaft ist eine separate Nische im Internet, die mit Populismus und Fehlinformationen einhergeht. Nach Beginn der Impfung muss der Kampf dagegen parallel zum Kampf gegen das Coronavirus fortgesetzt werden. Niemand will das Corona-Jahr 2020 noch einmal erleben, denkt man. Deshalb ist es von größter Wichtigkeit, dass Wissen und korrekte Informationen jetzt Vorrang haben. “
Jetzt bitte nicht noch mehr Leichtsinn
Die Menschen müssen trotz aktueller Erfolge noch eine Weile Disziplin zeigen, betont To Vima:
„Experten bestätigen, dass der Impfstoff kein Allheilmittel sein wird. Um ein Aufflammen der Epidemie zu verhindern, müssen wir die Schutzmaßnahmen beibehalten. Mit anderen Worten, wir müssen lernen, viel länger mit COVID-19 zu leben. Selbst jetzt, inmitten eines Lockdowns und angesichts von Zahlen toter und intubierter Patienten, die einen Rekord nach dem anderen brechen, scheinen viele unserer Mitbürger die kritische Situation nicht verstanden zu haben und versuchen, die Regeln geschickt zu umgehen. Das Bild in Athen am ersten Tag des Lockdowns [7. November] sah überhaupt nicht nach Lockdown aus und war überhaupt nicht mit dem im März vergleichbar.“
Konkurrenz aus dem Osten nicht verteufeln
Bei aller Skepsis sollte Europa auch russische oder chinesische Impfstoffe weiterhin in Betracht ziehen, meint Gyula Hegyi, Publizist und ehemaliger EU-Abgeordneter, in Népszava:
„Impfstoffe sind, wie alle Medikamente, eine riesengroße Geschäftsmöglichkeit. Die westlichen Medien berichten immer wieder über schwerwiegende Skandale, die mit großen westlichen Medikamentenherstellern verbunden sind, die einen Extraprofit erzielen. Es ist sehr richtig, dass die EU die Impfstoffe, die von außerhalb der Union kommen, einer strikten wissenschaftlichen Prüfung unterzieht. Es wäre jedoch wünschenswert, zu vermeiden, dass in der heutigen Krisensituation die eigensüchtigen Marktinteressen westlicher multinationaler Firmen den Import billigerer und effektiver Vakzine verhindert.“
Nicht immer nur schwarzmalen
Les Echos sieht in der Ankündigung einen wichtigen Etappensieg:
„Es ist noch zu früh zum Feiern. Aber es ist nie zu spät für eine Rückkehr der Hoffnung. In einer von Pessimismus und Skepsis geplagten Welt, die Verschwörungstheoretikern aller Art, die an der Wissenschaft zweifeln, viel zu viel Aufmerksamkeit schenkt, schaffen Pfizers Ankündigungen mehr, als nur die Laune an den Weltbörsen zu heben. ... Die ermutigenden Ergebnisse dieses Anti-Covid-Medikaments sind auch eine Gelegenheit, uns daran zu erinnern, dass die Wissenschaft eine wirksame Waffe im Dienste der Menschheit ist. ... Wir sollten uns jetzt nicht in einen verblendeten Optimismus stürzen, aber anerkennen, dass auch nicht immer der schlimmstmögliche Fall eintreten muss.“
Doping für Börsen und Airlines
Während die Börsen nach den US-Präsidentschaftswahlen nach Gründen für Optimismus suchten, kam die positive Überraschung von unerwarteter Seite, heißt es in Hospodářské noviny:
„Völlig neu gemischt wurden die Karten durch die Nachricht vom Montag über den experimentellen Impfstoff gegen Corona mit mehr als 90-prozentiger Wirksamkeit. An den europäischen Börsen löste das Euphorie aus. Und Amerika zog nach. Der rasche Einsatz eines so wirksamen Impfschutzes könnte beispielsweise die Fluggesellschaften vor dem Todesstoß bewahren, ja der ganzen Wirtschaft würde eine Last genommen. Das ist letztendlich ein stärkerer Impuls als alle politischen Umwälzungen.“
Jetzt nicht blauäugig werden
Auch De Morgen zeigt sich erleichtert, warnt aber vor zu großem Optimismus:
„Vorsicht bleibt geboten. Die Ziellinie ist noch nicht in Sicht. Aber es ist kein Zufall, dass nicht nur Anleger, sondern auch andere Menschen weltweit so begeistert auf diese Nachricht reagieren. ... Endlich gibt es Hoffnung. ... Und an Hoffnung hat es uns in den vergangenen Monaten so gefehlt. Falsche Hoffnungen waren es allerdings auch, die Regierende in Belgien und dem Rest von Europa [im Sommer] in die Irre geführt haben. Im Kampf gegen das Coronavirus haben sie Hoffnung verwechselt mit Naivität, Selbstüberschätzung und Hochmut. Das hat uns eine zweite Infektionswelle eingebracht, die in mancherlei Hinsicht genauso schlimm oder sogar schlimmer ist als die erste.“
Zahlreiche Hürden bleiben
Vor verfrühter Euphorie warnt Financial Times:
„Die globale Verteilung des Impfstoffes wird sich als komplexes Unterfangen erweisen, wenn die Hersteller nicht eine Lösung für das Problem finden, dass der Impfstoff derzeit bei minus 80 Grad Celsius gelagert werden muss. Es wird viel Geld brauchen, um sicherzustellen, dass die Schwellenländer über ausreichende Mengen dieses oder anderer Impfstoffe verfügen, um spätere Infektionswellen zu verhindern, die Tausende weitere Menschen töten und das Virus weiter verbreiten könnten. Eine Mutation, die ihren Ursprung in Nerzen hatte, ist ein weiterer Grund zur Sorge, dass die Natur die Wissenschaft noch überlisten könnte. ... Bis Präparate gegen das Virus weit verbreitet sind, gibt es keine Veranlassung, weniger vorsichtig zu sein.“