Wer erringt die Macht über Afghanistan?
Der Vormarsch der Taliban in Afghanistan verläuft schneller als erwartet. In kurzer Zeit eroberten die Kämpfer am Donnerstag die drittgrößte Stadt Herat und wenige Stunden später die zweitgrößte Stadt Kandahar. USA und Großbritannien schickten Soldaten nach Kabul, um den Abzug der Diplomaten zu sichern. Kommentatoren fragen, ob die Taliban noch zu stoppen sind.
Militärisch ein Friedensabkommen erzwingen
Die Taliban müssen mit einer begrenzten militärischen Reaktion zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden, erklärt Der Spiegel:
„Internationale Truppen müssten dazu aus der Luft, aber auch zu Boden, einen Schutzwall um Kabul ziehen, die Hauptstadt und die umliegenden Provinzen. Sie müssten den Taliban eine glaubwürdige Abschreckung vorsetzen, die einen Durchmarsch in drei oder 12 Monaten unmöglich macht. ... Ein Friedensabkommen oder eine Teilung der Macht zwischen den heutigen Kabuler Eliten und der Taliban-Führung in Katar zu erreichen, wäre immer noch das einzig sinnvolle Ziel, für das sich die westliche Militärmacht in Afghanistan jetzt noch einzusetzen lohnt. Es ... folgte gleichzeitig der Logik, dass die Afghanen nun selbst die Verantwortung für ihr Land übernehmen.“
Taliban nicht einfach das Feld überlassen
Mit politischem und gezieltem militärischem Engagement könnten die USA auch nach ihrem Abzug die Taliban in Schach halten, meint The Economist:
„Washington könnte zum Beispiel Spezialeinheiten für kurze Einsätze schicken, um die afghanische Armee zu stärken. ... Vor allem könnte Joe Biden signalisieren, dass er Afghanistan nicht seinem Schicksal überlassen will. Dieser Eindruck herrscht derzeit nämlich vor und beschleunigt mehr als alles andere den Vormarsch der Taliban. Die USA haben es in den vergangenen 20 Jahren nicht geschafft, Afghanistan in eine blühende Demokratie zu verwandeln. Doch sie können immer noch verhindern, dass das Land zu einer von Gewalt geprägten Theokratie wird.“
Verhandlungsstärke wird im Kampf entschieden
Wassili Krawzow, Ex-Diplomat und Afghanistan-Spezialist, beklagt in Nowaja Gazeta die Machtlosigkeit der Weltdiplomatie:
„Die Absprachen mit den Taliban in Doha zeugen vom Kollaps der gesamten internationalen Diplomatie in der Afghanistanfrage. Wie ein Fisch im Eimer versucht man noch etwas zu tun. Wir lesen davon in den Nachrichten aus Doha, wo angeblich ein Verhandlungsprozess läuft. ... Aber aufgrund der Zahnlosigkeit der Teilnehmer ist unweigerlich die aktuelle militärisch-politische Lage in Afghanistan entstanden. Man hätte von Anfang an einsehen müssen, dass die Verhandlungspositionen eher von der Lage auf dem Schlachtfeld bestimmt werden als von beliebigen Absprachen in fernen Ferienorten.“
Nun drängt sich China nach vorne
Afghanistan wird wieder zum Spielball der Mächte, klagt La Repubblica:
„Es sind Moskau und Peking, die mit allen Mitteln versuchen, sich das geringere Gewicht Amerikas zunutze zu machen. Während Russland in Syrien eine wichtige Rolle übernommen hat, fällt Afghanistan in den Einflussbereich Chinas. ... Das arme und gebirgige Afghanistan kann in Chinas globaler Wirtschaftsstrategie nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aber die Ablösung Washingtons als Führungsmacht des Landes ist Teil von Chinas Kalkül. Der Kreis schließt sich, wenn man bedenkt, dass die Taliban schon immer eng mit Pakistan verbunden waren, was wiederum eine symbiotische Beziehung zu China unterhält.“
Ankaras riskantes Spiel
Ankara hat sich bereit erklärt, den Flughafen Kabul nach dem Abzug der internationalen Truppen abzusichern. Zudem kündigte Erdoğan am Mittwoch an, mit der Taliban-Führung über eine Deeskalation beraten zu wollen. Ankaras Beweggründe untersucht das oppositionelle Onlineportal T24:
„Zwei der wichtigsten sind die schwere Wirtschaftskrise, in die die Regierung das Land gestürzt hat und eine falsche Außenpolitik, die die Türkei in der Welt isoliert hat. Es sieht so aus, als sei das Hauptziel dieser Afghanistanpolitik, von den USA und der EU Finanzhilfen zu erhalten und sich aus der Isolierung zu befreien. … Doch diese Politik könnte die Sicherheit des Landes und den sozialen Frieden gefährden. Die Türkei sollte ihre Afghanistan- und ihre Flüchtlingspolitik überdenken.“
Abschiebungen verantwortungslos
In Belgien prüft die Regierung derzeit einen Stopp von Abschiebungen nach Afghanistan. Bislang werden weiterhin viele Asylanträge von Afghanen abgelehnt - was einer Realitätsverweigerung gleichkommt, ärgert sich Anwältin Selma Benkhelifa in Le Vif/L'Express:
„Die Verschlechterung der Sicherheitslage ist allseits bekannt und beunruhigt alle. Außer das Flüchtlingskommissariat, das weiterhin behauptet, dass Afghanen, die in Belgien Schutz suchen, bei einer Abschiebung nach Afghanistan keine schlimmen Gefahren drohen. ... Wie kann afghanischen Frauen Asyl verweigert werden, wo man doch weiß, welche Gräueltaten die Taliban ihnen zugefügt haben? Wie kann man es ablehnen, Kinder zu schützen, wo doch das Rekrutieren von Kindersoldaten Teil der Strategie der Taliban ist?“
Den Haags billige und stinkende Lösung
Die Niederlande haben am Mittwoch einen vorläufigen Abschiebestopp nach Afghanistan erlassen, lehnen aber weiterhin die Aufnahme von ehemaligen Helfern der Armee wie etwa Dolmetschern ab. Kolumnist Julien Althuisius verurteilt in De Volkskrant diese Haltung:
„So funktioniert die politische und bürokratische Maschine: Man steckt auf der einen Seite eine klare moralische Verpflichtung rein - und am Ende läuft auf der anderen Seite eine klapprige und stinkende Lösung vom Band. Während andere Länder ihre Dolmetscher bereits aus Afghanistan geholt haben, wollten die Niederlande bis vor Kurzem noch abgewiesene asylsuchende Afghanen abschieben. Und Den Haag - in Urlaubsstimmung, schwer und faul vom Sommer - will den Ernst der Lage nicht sehen.“
Frauen und Mädchen werden verlieren
Für Hürriyet ist die Eroberung Kabuls durch die Taliban nur noch eine Frage der Zeit. Die Verliererinnen stehen aber schon fest:
„Man ist sich einig, dass mit dem Fall Kabuls und der Übernahme der Regierung durch die Taliban Errungenschaften aus der vorherigen Regierungszeit im Bereich politischer und sozialer Rechte wieder verloren gehen werden. Eine der größten Sorgen ist, dass mit der Taliban-Ideologie Frauenrechte durch die Scharia beschnitten und die Bildungsperspektiven von Mädchen rigoros behindert werden. Es kommt in Afghanistan häufig vor, dass radikal-religiöse Gruppen Bildungseinrichtungen angreifen, vor allem weiterführende Schulen für Mädchen.“