Welche Macht haben die Taliban?
Nach der Eroberung des Landes durch die Taliban-Kämpfer müssen sich Regierungen in aller Welt gegenüber den neuen faktischen Machthabern positionieren. Die Fragen, wie weit deren Macht gefestigt ist und ob man mit den Taliban verhandeln soll, beschäftigen daher die europäische Presse.
Keine scheinheilige Feindseiligkeit
Die Frauenverachtung allein bei den Taliban hervorzuheben, findet der Jurist Alexandre Guerreiro in Público scheinheilig:
„Es ist wichtig, darüber nachzudenken und endgültig zu entscheiden, ob es sinnvoll ist, Feindseligkeiten gegenüber den Taliban zu schüren, oder ob man sie nicht besser an den Verhandlungstisch bringt und über das Verhandeln eine Mäßigung erreicht. Schließlich ist die islamische Orthodoxie und die patriarchalische, Frauenrechte einschränkende Vision bereits Wirklichkeit in Staaten wie Saudi-Arabien. Und das ist ein wichtiger Verbündeter der USA und verschiedener europäischer Länder, ohne dass die frauenfeindliche Agenda den westlichen Regierungen aufstoßen würde.“
Militärisches Know-how in falschen Händen
Dass die Taliban nun Flugzeuge, Radare und weitere moderne Technik der vorher durch den Westen ausgestatteten afghanischen Streitmächte übernehmen, darüber sorgt sich Cristian Unteanu in Adevărul:
„Wie viele der Flugzeuge funktionieren noch? Niemand weiß etwas Genaues. Stattdessen kann man eine Reihe von direkten militärischen Konsequenzen erwarten: nämlich die exponentielle Stärkung der Taliban-Kräfte und die Möglichkeit, dass ein Teil der elektronischen Ausrüstung an Bord dieser Flieger unter den vielen Interessenten auf dem internationalen Markt versteigert wird, die damit in den Besitz einiger der best gehüteten Geheimnisse des US-Militärs und der Nato gelangen können.“
Lage im Innern ist längst nicht stabil
Die Macht der Taliban wird auch im Innern herausgefordert. Der Widerstand im Pandschir-Tal könnte sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten, analysiert Serhij Danilow von der Association for Middle East Studies (AMES) in Ukrajinska Prawda:
„Aufgrund der Demoralisierung vieler potenzieller Unterstützer, der logistischen Probleme und den begrenzten Ressourcen der Region sind die Chancen für den Erfolg der tadschikischen Bewegung ziemlich gering. Doch selbst solche Ereignisse könnten die prekäre Lage der ersten Tage der Macht der Taliban erheblich beeinflussen. Setzt sich der Widerstand im Pandschir-Tal fort und wird er von außen unterstützt (am wahrscheinlichsten wohl von Indien), ist ein großer Bürgerkrieg in Afghanistan nicht ausgeschlossen.“
Zur Kooperation gibt es keine Alternative
Die Grundlagen für die Zusammenarbeit mit den Taliban werden bereits gelegt, beobachtet die Süddeutsche Zeitung:
„Die Taliban vermitteln den Eindruck, dass sie ein paar taktische Zugeständnisse machen werden, dass sie vielleicht zunächst einmal sogar Mädchenschulen offenlassen könnten und die Einrichtungen in den großen Städten, auf die der Westen schauen wird. ... Wahrscheinlich ist, dass nun bald ein Tanz um die roten Linien beginnen wird - hier eine Grenzüberschreitung der Taliban, da ein Menschenrechtsverbrechen. Und so wird der Westen wortreich Gründe finden müssen, warum man jetzt mit Extremisten kooperieren muss, die man 20 Jahre lang als Feind gebrandmarkt hat. Es gibt schließlich keine Alternative dazu.“
Die Islamisten geben sich moderat
Rzeczpospolita versucht, die Zusagen der Taliban zu interpretieren:
„Eine Übergangszeit ist im Gange. Präsident Ashraf Ghani, der zuvor von den USA unterstützt wurde, ist ins Ausland geflohen, aber die Sieger haben noch nicht die Gründung eines neuen Staates angekündigt. Über die Art der künftigen Verwaltung ist wenig bekannt. ... Die Taliban versuchen zu beweisen, dass sie sich geändert haben. Sie versichern, dass sie niemandem das Eigentum wegnehmen und nicht in Häuser eindringen werden. Sie sagen sogar, dass sie diejenigen verhaften werden, die die Situation zum Plündern ausnutzen.“
Humanitäre Hilfe als Druckmittel
Afghanistan befindet sich in einer Notlage, die die internationale Gemeinschaft gegenüber den Taliban nutzen sollte, findet der Kurier:
„Was Afghanistan abseits von Krieg, Machtergreifung der Taliban und Massenflucht sonst noch quält, ist eine katastrophale Dürre. ... [M]ögen die Taliban auch grausam, gewalttätig, frühmittelalterlich, despotisch und extrem intolerant sein - sie werden nicht daran interessiert sein, die Hälfte ihrer Bevölkerung verhungern zu lassen. ... Um die dringend benötigte humanitäre Hilfe ins Land zu holen, werden auch die Taliban Zugeständnisse und Konzessionen gegenüber den westlichen Gebern eingestehen müssen. Hier ließe sich Druck machen. Etwa: Hilfe ja, wenn Frauenrechte geschützt werden.“
Teheran signalisiert Unterstützung
Eine überraschende Annäherung beobachtet Birgün:
„Obwohl die Taliban andere islamische Schulen nicht tolerieren und seit ihrer Gründung brutale Angriffe und Massaker gegen Schiiten verübt haben, sticht die Islamische Republik Iran unter den Ländern hervor, die argumentieren, dass sich die Taliban geändert hätten. Während man dachte, die vom Iran unterstützten Schiitenmilizen [in Afghanistan] würden bis zum Tode gegen die Taliban kämpfen, kam es zu keinen Kampfhandlungen. In Qom und Teheran nahm die iranische Regierung sogar Frauen fest, die gegen die Taliban protestierten. Teherans Sicht auf die Taliban hat sich seit dem Aufkommen des IS geändert und signalisiert in den letzten Jahren einen konzilianteren Kurs gegenüber den Taliban.“
Nicht alle Brücken abbrechen
Dass Afghanistan sich nun nicht völlig abkapselt, hofft Turun Sanomat:
„Der Zusammenbruch der alten Regierung und der Abzug der westlichen Truppen bedeutet, dass die Taliban nun selbst entscheiden können, ob sie in Zukunft mit der übrigen Welt verhandeln und in Kontakt bleiben wollen. Hoffentlich wollen sie, denn eine Isolation Afghanistans würde den Interessen aller zuwiderlaufen. Die Erfahrungen der letzten 20 Jahre haben gelehrt, dass es besser ist, mit radikalen Organisationen zu verhandeln als es nicht zu tun.“
Großer Terror steht bevor
In den kommenden Monaten werden die Zeichen ganz und gar nicht auf Dialog stehen, befürchtet Webcafé:
„[Die Taliban] werden ihre eigene Version der Volksgerichte einführen und hunderte, wenn nicht tausende Menschen als Unterstützer des gestürzten Regimes verurteilen. Was bedeutet das? Schauprozesse, Deportationen, Lager, Massengräber, Hinrichtungen und so weiter. Unternehmer, Intellektuelle, Lehrer, Studenten, überhaupt alle Andersdenkenden, werden herausgesiebt werden. ... Für das afghanische Volk, das in seiner Geschichte viel Leid und Kämpfe erlebt hat, wird dies eine weitere, wenn nicht die größte Tragödie in seiner Geschichte sein.“
Diese Mörder verstehen nur eine Sprache
Die radikal-islamische Miliz kann man nur besiegen, nicht überzeugen, argumentiert der ehemalige Südasien-Korrespondent Hasnain Kazim auf Zeit Online:
„Die Taliban, so hoffen auch manche in Deutschland, könnten für Stabilität sorgen. ... Den Taliban ist egal, was die Welt über sie denkt, sie sind so oder so erfolgreich. Die Realität ist: Die Taliban sind da, man kommt nicht um sie herum. Man sehe mir nach, dass ich nach all den Erfahrungen mit ihnen niemals glauben werde, dass ein Frieden mit ihnen möglich ist. Es gibt keine 'guten Taliban', wie es manchmal heißt. Es gibt keine Taliban, mit denen man reden, verhandeln kann. Es gibt nur mörderische, mittelalterlich bis steinzeitlich denkende, primitive Taliban. Man kann sie nur bekämpfen.“