Afghanistan: Profitieren Moskau und Peking?
Durch die Machtübernahme der Taliban werden die geopolitischen Karten in Zentralasien neu gemischt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf China und Russland gelegt, die neben Pakistan als einzige ihre Botschaften in Kabul geöffnet halten. Doch wie viel Verantwortung Moskau und Peking tatsächlich übernehmen und ob ihnen das Vorteile bringt, ist umstritten.
Xi und Putin reiben sich die Hände
China und Russland werden mit den Taliban lukrative Deals aushandeln, prophezeit La Stampa:
„Die Gaspipelineprojekte und die afghanischen Seltenen Erden, an denen die Vereinigten Staaten keinen Cent verdient haben, könnten zu 'Made in China' werden. Die Taliban schlagen Xi vor, jegliche Unterstützung für die Proteste der uigurischen Muslime einzustellen, wenn sie im Gegenzug dafür Investitionen erhalten. Putin wird Waffen und Berater schicken und Zugang zu den Stützpunkten verlangen, die die Rote Armee 1989 geschlagen zurückgelassen hat.“
Wer die wahren Verlierer sind
Die USA haben vom Aufstieg der Taliban weniger zu befürchten als die umliegenden großen Staaten, meint The Daily Telegraph:
„China und Russland sehen sich - anders als die USA - auf ihren Territorien mit irredentistischen islamischen Bewegungen konfrontiert. Sie haben von der dschihadistischen Destabilisierung Zentralasiens letztendlich mehr zu befürchten. Der Iran steht mit den Taliban bereits auf Kriegsfuß, weil diese die Hazara-Schiiten verfolgen, an denen laut Amnesty International bereits wieder Morde verübt werden. Ist ein Sieg der Taliban wirklich im Interesse einer der umliegenden Mächte?“
So schlimm wird es schon nicht werden
Übertriebene Ängste vor einer drastischen Änderung des regionalen Machtgefüges beruhigt Neatkarīgā:
„Die Sorgen, dass von Afghanistan radikale islamische Ideologien exportiert werden könnten, die die Sicherheit und die Stabilität in Zentralasien gefährden, werden derzeit etwas genommen. Denn die Taliban zeigen sich bereit zu pragmatischen Entscheidungen in Bezug auf die zentralasiatischen Nachbarn, wie auch auf die Beziehungen zu Russland und China. Derzeit haben die Taliban genug Arbeit damit, die afghanische Gesellschaft nach ihren religiösen Prinzipien umzugestalten. Daher ist es derzeit nicht möglich, konkrete Vorhersagen über die langfristige Regionalpolitik der Taliban zu treffen.“
USA bleiben in Afghanistan
Dnevnik erinnert an einen anderen Fall, in dem die USA ihre Truppen aus einem Land abzogen:
„Nach dem öffentlichkeitswirksamen US-Rückzug aus dem Irak Ende 2011 musste Obama zweieinhalb Jahre später Truppen zurückschicken, um sich dem Islamischen Staat zu widersetzen. Der Kontext in Afghanistan ist natürlich anders, aber zumindest solange diese Gefahr besteht, werden US-Militär und Geheimdienste vor Ort bleiben. Die Bedrohung durch eine neue radikalere Terrorgruppe, die im Gegensatz zu den Taliban globale Ambitionen hat, ist real. Deshalb können die USA ihre Präsenz in Afghanistan und Zentralasien nicht aufgeben.“
Anerkennung der Taliban bringt Stabilität
In den internationalen Beziehungen wird man sich sehr bald mit den Taliban-Führern arrangieren, prophezeit die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah:
„Wahrscheinlich werden China und Russland die Taliban-Herrschaft bald anerkennen und gemeinsam mit Iran und Pakistan Verantwortung für die politische Stabilität und das wirtschaftliche Wohl Afghanistans übernehmen. ... Man sollte nicht vergessen, dass man in Afghanistan kein Machtvakuum will. Daher werden es viele Staaten mit internationalem oder regionalem Einfluss vorziehen, zur politischen Stabilität des Landes beizutragen, um negative Folgen der Krise abzumildern. Beispielsweise könnten europäische Länder, die keine neue Welle afghanischer Flüchtlinge nach Europa wollen, die Taliban-Herrschaft in Afghanistan anerkennen.“
Keine Macht ohne die Last der Verantwortung
Die Niederlage der USA in Afghanistan bringt China, Russland und Iran nur kurze Genugtuung, glaubt Zeit Online-Kolumnist Matthias Naß:
„Bisher konnte China in Afghanistan wirtschaftlich aktiv sein, ohne politische Verantwortung für das Land zu tragen. Das ändert sich jetzt. ... Wenn die Regierung in Peking nun Wiederaufbauhilfe in Afghanistan ankündigt und das Land dabei stärker in seine Seidenstraßen-Pläne einbinden will, weiß sie um die Gefährlichkeit dieses Vorhabens. ... [A]uch in Moskau und in Teheran [ist man] auf der Hut. Man gönnt den USA ihr Scheitern, fürchtet aber das sich daraus ergebende Machtvakuum. ... [D]ie Gegner des Westens ... triumphieren nur verhalten. Amerikas Niederlage bürdet ihnen eine Verantwortung und eine Last auf, die sie nicht wollten und die auch sie niederdrücken kann.“
Das chinesische Jahrhundert ist nicht ausgemacht
Wie stark China künftig wird, fragt sich Historiker Timothy Garton Ash in La Repubblica:
„'Amerika ist zurück', sagte Präsident Joe Biden in diesem Jahr, und die ganze demokratische Welt atmete auf. Doch angesichts des Debakels des chaotischen US-Abzugs aus Afghanistan - Kabul ist Saigon 2 - flüstert uns eine geisterhafte Stimme ins Ohr: Was, wenn Amerika nicht zurückkehrt? ... Hätten wir dann das chinesische Jahrhundert? China wird mit ziemlicher Sicherheit eine dominierende Macht in Asien werden. Aber es wird keine absolute Dominanz haben. Japan, Indien und Australien, ganz zu schweigen von den USA, die weiterhin im indopazifischen Raum präsent sind, werden alles tun, um dies zu verhindern. ... In China selbst werden die Widersprüche früher oder später zu einer internen Krise führen.“
USA werden sich ihrer Führungsrolle besinnen
Die USA sollte als wichtigster Global Player nicht abgeschrieben werden, glaubt The Times:
„Die Welt braucht mehr amerikanische Führung und mehr Globalisierung, nicht weniger. Der Klimawandel kann nicht von einem Land allein gelöst werden, dafür braucht es offensichtlich eine globale Antwort. Gleiches gilt für die Pandemie, die mehr Internationalismus erfordert. ... Amerika hat mehr Energie übrig, als es derzeit scheinen mag. Außerdem ist die USA psychologisch nur schlecht dafür gewappnet, sich mit dem Platz des Zweitbesten zufrieden zu geben. Eines Tages wird sich das Land darauf besinnen. Und die Welt wird entdecken, dass Amerikas Abwesenheit auf der Weltbühne die Welt teurer zu stehen kommt als seine Anwesenheit.“
Pakistan hat seine Sympathien nie verhehlt
Was die neuen Machtverhältnisse in Kabul für Pakistan bedeuten, überlegt Ex-Diplomat Božo Cerar in einem Kommentar für Portal Plus:
„Nach dem Abzug der Amerikaner wird der Einfluss Pakistans, Irans und Chinas sicherlich zunehmen. Das entstehende Vakuum wird von jemandem gefüllt werden. Pakistan hat sich seit Langem den US-Abzug gewünscht und hat aus seiner Sympathie und Unterstützung für die Taliban nie einen Hehl gemacht. ... Die Verschärfung der Lage in Afghanistan bedeutet auch mehr Flüchtlinge in Pakistan. Die vollständige Rückkehr der Taliban in die Regierungsgebäude Kabuls könnte in Pakistan, das über Atomwaffen verfügt, Extremisten ermutigen, die Macht in Islamabad zu übernehmen.“
Taliban bleiben eine lokale Bewegung
Dass von den Taliban keine große Gefahr für die Weltgemeinschaft ausgeht, glaubt Ihor Semiwolos, Direktor der ukrainischen Association for Middle East Studies (AMES), in NV:
„Was die Auswirkungen der Eroberung Afghanistans durch die Taliban auf die Region betrifft, ist es wichtig zu verstehen, dass die Taliban keine extraterritoriale islamistische Bewegung sind. Sie sind nicht Al-Qaida und auch nicht die IS-Miliz, die sich als eine Art islamische Internationale verstehen, die Scharia auf der ganzen Welt aufbauen und im Nahen Osten ein Kalifat ausrufen wollen. ... Die Taliban sind eine lokale afghanische Bewegung. Ja, sie sind von islamistischen Ideen inspiriert und leben immer noch im Mittelalter, aber diese Bewegung ist lokal.“