EU-Impfziel erreicht: Und jetzt?
Viel wurde über das Impftempo in der EU geschimpft, doch jetzt wurde das von der Kommission gesteckte Ziel erreicht, bis zum Ende des Sommers 70 Prozent der Erwachsenen zu impfen. Allerdings ist die Impfquote in den Mitgliedstaaten höchst unterschiedlich, in Bulgarien etwa liegt sie bei 17, in Rumänien bei 27 Prozent. Nicht nur deshalb herrscht in den Kommentarspalten keineswegs Feierstimmung.
Endlich den Mut zur Impfpflicht aufbringen
Tschechien gehört zu den Ländern, die das Impfziel der EU bislang nicht erreicht haben. Das kann für Deník nur eine Konsequenz haben:
„Nicht einmal 60 Prozent in unserem Land sind zweimal geimpft. Ärzte sagen, dass die Delta-Variante erst gestoppt werden kann, wenn 85 bis 90 Prozent ihre Injektionen erhalten haben. ... Die Regierung will nun eine neue Überzeugungskampagne für das Impfen starten. Das wird aus Sicht des Vorsitzenden der Ärztekammer, Milan Kubek, nicht ausreichen. Und er fügt hinzu, dass aus medizinischer Sicht eine Impfpflicht für alle das Beste wäre. So ist es. Warum, zum Teufel, hat die Regierung nicht den Mut dazu?“
Leider typisch Rumänien
Die schlechten Impfquoten unter den Rumänen haben Tradition, seufzt der Journalist Ovidiu Nahoi bei RFI România:
„Anfang 2008 stellte sich die HPV-Impfung, die Mädchen zwischen 11 bis 14 Jahren von der WHO empfohlen wird [unter anderem, um Gebärmutterhalskrebs vorzubeugen], als Misserfolg heraus. Zehntausende Dosen wurden allein im ersten Jahr der Impfkampagne weggeworfen. … Die Masernepidemie von 2016 bis 2019 sorgte für zahlreiche Opfer unter ungeimpften Kindern. Laut Unicef-Daten wurden in dieser Zeit über 18.000 Masernfälle gezählt, die 64 Todesfälle zur Folge hatten. ... All das zeigt die tiefgreifenden Probleme der rumänischen Gesellschaft, die uns immer noch deutlich vom zivilisierten Europa trennen.“
Darwinismus statt Kampagne
In Kroatien sind knapp 40 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Die Regierung hat es offensichtlich aufgegeben, diese Quote weiter zu erhöhen, stellt Večernji list trocken fest:
„Das Ziel einer hohen landesweiten Durchimpfung sollte ermöglichen, zumindest halbwegs zur Normalität zurückzukehren und den Haushalt zu retten. Doch nun, da feststeht, dass das Misstrauen der Impfgegner so hoch ist, dass dieses Ziel im Bereich von Science Fiction liegt, hebt die kroatische Regierung pragmatisch die Hände in die Höhe, wirft die Impf-Flinte ins Korn und gesteht die Niederlage ein. ... Die Devise ist nun darwinistisch: Jeder Neuinfizierte, der nicht geimpft ist und im Krankenhaus landet, ist selbst schuld. Man wird ihm die Krankenversicherung zwar nicht aberkennen, aber auch nicht nachweinen.“
Gesellschaft hat Solidarität verlernt
Die Impfkampagne gibt ein ernüchterndes Zeugnis ab, wie egoistisch viele Europäer denken, meint Die Presse:
„Lockdowns und Ausgangssperren hinzunehmen war zweifellos für alle enervierend, aber für einen Teil stand nur noch ihre eigene Freiheit im Fokus. Irgendwann waren sie nicht mehr bereit, an den Bemühungen zur Eindämmung der Pandemie mitzuwirken. ... Das mag zahlreiche Gründe haben – auch berechtigte. Aber es schwingt eine mangelnde Bereitschaft mit, zur Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Problems einen persönlichen Anteil zu leisten. ... Seit Jahrzehnten gilt Individualität und Durchsetzungsvermögen als Voraussetzung für privaten und beruflichen Erfolg, Teamfähigkeit und Rücksichtnahme hingegen als 'nette', jedoch wenig kompetitive Eigenschaften. Das rächt sich.“
Franzosen sind die neuen Musterschüler
In Frankreich haben nun bald 50 Millionen Menschen die Spritzen bekommen, was einer Impfquote von rund 75 Prozent entspricht. Le Monde erklärt den Stimmungswandel:
„Das Land, das oft als Nation von Rebellen dargestellt wird, schneidet besser ab als das Vereinigte Königreich, ein Vorreiter und langjähriger europäischer Champion, besser als Deutschland, die USA und sogar Israel, das einst als Vorbild galt. ... Der Ansturm auf die Impfstellen nach der Rede des Präsidenten verdeutlicht ein französisches Paradoxon. Die Bürger, die angeblich der politischen Reden überdrüssig sind, haben die Rede des Präsidenten gehört und gehorchen weitgehend seinen Anweisungen. Ganz so, als ob sie die Erklärung von ganz oben gebraucht hätten, um zu verstehen, was bei der Impfung auf dem Spiel steht.“
Gesundheitspass wird zur Gefahr
Dass drei Viertel der Franzosen geimpft sind, hilft nicht viel weiter, glaubt Contrepoints:
„Geimpfte, die mit dem Virus infiziert sind, aber von allen Vorsichtsmaßnahmen ausgenommen sind, werden wie Virusbomben in die freie Wildbahn entlassen. Innerhalb weniger Wochen hat sich der Gesundheitspass vom Schutzmechanismus zu einem anerkannten Gefahrenfaktor für die Übertragung entwickelt. Selbst der wissenschaftliche Rat hat schließlich gemerkt, dass die Wirksamkeit der Impfung nachlässt, und forderte die Regierung auf, ihre Haltung zu ändern, um auf politisch korrekte Weise zu erklären, dass der Pass nutzlos und geradezu gefährlich ist.“
Ohne hohe Quote keine Sicherheit
Polens Präsident Duda hat sich gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, was Polityka entsetzt:
„Viele Menschen haben noch immer nicht verstanden, dass eine gemeinsame Massenimpfung allen einen breiten Schutz bietet, und auch der polnische Präsident hat hier offenbar seine Hausaufgaben nicht gemacht. Epidemiologen nennen dies 'Cocooning'. Es kann verhindern, dass Viren in eine Bevölkerungsgruppe eindringen, in der es auch Menschen mit geschwächtem Immunsystem oder sogenannte Non-Responder gibt, die nie die erforderlichen Antikörper entwickeln werden. Je dichter wir diesen Kokon weben, also je mehr Menschen wir impfen, desto weniger Gelegenheit hat das Virus, anzugreifen und zu mutieren. Und diese Mutationen sind es schließlich, die wir am meisten fürchten.“
Impfung ist vor allem Selbstschutz
In den Niederlanden stockt das Impftempo, während die Zahl der Neuinfektionen nicht abnimmt. Viele Vorwürfe gegen Ungeimpfte sind allerdings nicht haltbar, erklärt NRC Handelsblad:
„Eine Herdenimmunität gegen das Coronavirus wird es wohl kaum geben. Entsprechend kann es auch gar keine Trittbrettfahrer geben. ... Die Impfung ist vor allem für einen selbst. Weil man kein Risiko einer schweren Corona-Infektion eingehen will. Was den Schutz Anderer betrifft, hilft die Impfung zwar etwas, ist aber keine Garantie. ... Und wird das volle Krankenhaus zu einem schwer nach Luft ringenden Covid-Patienten, der sich bewusst nicht hat impfen lassen, sagen: 'Sorry, selber schuld'? Nein. Das geschieht auch nicht bei betrunkenen Autofahrern, Rauchern und stark übergewichtigen Patienten.“