Wann und wie darf die Ukraine in die EU?
Ein EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag soll über die Beitrittswünsche der Ukraine und Moldaus entscheiden. Die EU-Kommission hatte zuvor empfohlen, die beiden Länder offiziell zu Beitrittskandidaten zu machen. Unmittelbar vor dem Gipfel will man sich mit den Staats- und Regierungschefs der Westbalkanländer treffen. In welcher Form und in welchem Tempo sich die EU erweitern soll, beschäftigt die europäische Presse.
Auch Langzeit-Kandidaturen haben ihren Nutzen
Der Politologe Sergej Utkin verweist in Kommersant auf den Umstand, dass sich EU-Beitritte üblicherweise lange hinziehen:
„In der EU kann niemand sagen, wann wenigstens eins dieser Länder vollwertiges Mitglied wird - die vorherigen Erweiterungsrunden haben spürbare Müdigkeit und einen Haufen Probleme mit sich gebracht, die man erstmal abarbeiten musste. ... Unter Berücksichtigung der Beispiele vieler anderer Länder kann für ein Land wie die Ukraine der Weg in die EU selbst unter allergünstigsten Umständen Jahrzehnte dauern ... Den Kandidatenstatus dennoch als reine Formalität ohne praktischen Nutzen abzutun, wäre aber auch zu einfach: Denn ein Kandidat hat allein dadurch Vorteile, dass er seine Gesetze und Standards den EU-Normen anpasst.“
Republik Moldau bittet um Hoffnung
Die Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, wirbt in mehreren Medien für einen EU-Kandidatenstatus für ihr Land. So schreibt sie bei G4Media.ro, dass jeder dritte Moldauer bereits ein EU-Bürger sei und dort beispielsweise studiere oder arbeite:
„Wahrscheinlich sind Sie uns schon begegnet - wir sind Ihr Bankangestellter, Ihre Krankenschwester, der Studienkollege Ihres Kindes. Die Moldauer leben Seite an Seite mit den Europäern, tragen zu den sozialen Sicherungssystemen bei, zahlen Steuern und bereichern das kulturelle Erbe der EU. … Wir verlangen keine Abkürzungen und wir erwarten keine Zugeständnisse. In diesen schwierigen Zeiten bittet die Republik Moldau nur um eine Gelegenheit, ihren Bürgern Hoffnung zu geben. Hoffnung, dass ein sichereres, demokratischeres und friedlicheres Moldau immer noch möglich ist.“
Wie soll die EU mit Erpressungen umgehen?
Wichtige EU-Entscheidungen werden allzu häufig von einzelnen Mitgliedsländern durchkreuzt, analysiert Népszava:
„Der Union fehlen die rechtlichen Instrumente. Sie kann auf Erpressungen nur mit Erpressungen reagieren. Das Einfrieren von EU-Geldern ist eine solche Maßnahme. Bei der polnischen Führung hat sie Wirkung gezeigt, Viktor Orbán indes ist stur geblieben. ... Aus geopolitischen Gründen will die EU ihre Tore nun für Staaten öffnen, die in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem denkbar schlechten Zustand sind. Gleichzeitig fehlen der Union aber die Mittel, um den systematischen Abbau der Rechtsstaatlichkeit in ihren Mitgliedsländern zu unterbinden. Letzten Endes wird sie eine Lösung finden müssen. Bleibt zu hoffen, dass nicht der Huxit der Preis dafür sein wird.“
Vorsichtig sein, aber nicht zu lange zögern
Dass man ein beschleunigtes Beitrittsverfahren bisher ausschließt, kritisiert Michel Ferron, Generalsekretär der französischen Europahäuser, in Ouest France:
„Diese Unflexibilität wird angesichts der dringlichen Umstände vielen Bürgern unerträglich erscheinen und sie nicht mit undurchsichtigen und distanten EU-Institutionen versöhnen. Und das zu einer Zeit, in der ein starkes Signal an das imperialistische Russland gesendet werden müsste. Was die Machtverhältnisse zwischen den Blöcken betrifft, so muss die EU natürlich auch das Risiko eines politischen Ungleichgewichts abwägen, das eine voreilige Annahme des ukrainischen Antrags mit sich bringen würde. Putin (stillschweigend unterstützt von China) würde diese als echte Provokation auffassen.“
Auf gewaltige Gewichtsverlagerung einstellen
Die EU muss sich auf so eine enorme Änderung erst einmal vorbereiten, erinnert Rzeczpospolita:
„Trotz der großen Erweiterung von 2004 herrscht in der EU geopolitisch eindeutig ein westeuropäisches Übergewicht: Die Länder in diesem Teil Europas sind einflussreicher und die meisten hochrangigen Beamten in den EU-Institutionen kommen von dort. Der Beitritt der Ukraine würde zu einer Gewichtsverlagerung führen. Es ist ein Land, das größer ist als Polen und im direkten Schatten Russlands liegt. Es ist auch sehr arm, was die EU zwingen würde, ihre großzügige Agrar- und Kohäsionspolitik zu ändern. Es steht daher fest, dass sich die Gemeinschaft erst selbst ändern muss, bevor die Ukraine der EU beitritt.“
Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten
Man sollte doch offen aussprechen, was sich sonst keiner traut, meint die Kleine Zeitung:
„Die groben Differenzen der alten Mitgliedstaaten mit Ungarn und Polen markieren eine tiefe kulturelle und politische Kluft zwischen Ost und West, einen grundsätzlichen Dissens, bei dem es im Kern um unterschiedliche Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung und nationaler Identität geht. Es besteht die reale Gefahr, dass die EU zum Opfer ihres Selbstverständnisses als normatives Projekt zur Schaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts wird, der grundsätzlich jedem Land offen steht. … Auch wenn es niemand offen ausspricht: Zukunft hat eine wachsende EU nur als Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Alles andere wäre fatal.“
Den Westbalkan nicht vor den Kopf stoßen
Andere Länder stehen eigentlich weiter vorne auf der Prioritätenliste, mahnt Magyar Hírlap:
„Wenn schon von einem EU-Beitritt der Ukraine die Rede ist, sollten auch die diesbezüglichen Ambitionen der Westbalkan-Länder und der Türkei berücksichtigt werden, die seit Jahren, ja Jahrzehnten in der Warteschlange stehen. ... Es geht nicht an, dass Brüssel den Westbalkan vor den Kopf stößt. ... In der westeuropäischen Presse ist zu lesen, dass in den Westbalkan-Staaten die von Brüssel erwarteten Reformen kaum vorankommen. Wenn aber die Perspektive eines Beitritts immer ferner rückt, ist das auch nicht verwunderlich. Noch dazu ist die Region des Westbalkans für die EU geopolitisch sehr wichtig.“
Der Euromaidan war der Wendepunkt
Man sollte den Weg konsequent zu Ende gehen, der 2013 mit den Massenprotesten in der Ukraine eingeschlagen wurde, rät Delfi:
„Sollte es gelingen, Kyjiw schnell und ohne lange Diskussionen in die EU aufzunehmen, wäre eine konsequente Folge des Euromaidans erreicht. Der ukrainische Euromaidan war der Wendepunkt, diese Triebfeder, die Putin zum Putler machte. Damals, es ist gar nicht so lange her, hatte Putin vorsichtig mit dem Gedanken gespielt, der EU beizutreten. Er beäugte ängstlich interessiert einen Nato-Beitritt. Aber dann passierte folgendes: Die Ukrainer jagten das KPdSU-Mitglied Janukowitsch heraus und fingen an, eine europäische Ukraine zu gestalten. Genau in diesem Moment begann Putins Verwandlung, wie bei einem Werwolf aus einem Horrorfilm.“
Kein Abrücken von EU-Grundprinzipien
Auch wenn die Ukraine und Moldau den EU-Kandidatenstatus erhalten, müssen Kernfragen berücksichtigt werden, mahnt Népszava:
„Ungeachtet des jetzigen außerordentlichen Procederes müssen auch die neuen Kandidaten sämtliche Aufnahmekriterien restlos erfüllen. Hierzu gehört die verpflichtende Klärung der Grenzstreitigkeiten, sind doch große Territorien sowohl in der Ukraine als auch in der Republik Moldauvon russischen Truppen besetzt. ... Wie die Beispiele Ungarn und Polen zeigen, besteht bei einer Erweiterung außerdem die Gefahr, dass europäische Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weiter erodieren werden. Da es sich bei den neuen Kandidaten um Staaten handelt, die keine demokratische Tradition haben, muss die EU sich vorsehen, um nicht zu zerfallen.“
Es kann auch schnell gehen
Es ist durchaus möglich, dass die Ukraine die Anforderungen an ein EU-Neumitglied sehr zügig umsetzt, schreibt das Handelsblatt:
„Wie die Ukrainer derzeit gegen den äußeren Feind kämpfen, werden sie auch gegen innere Bedrohungen für ihre Zukunft kämpfen müssen. Sie müssen die Oligarchen entmachten, denen ihr Reichtum noch immer viel zu viel Macht über den Staat verleiht. Sie müssen Korruption verhindern und den Rechtsstaat stärken. So etwas kann viele Jahre dauern, und es kann Rückschritte geben. Aber es kann auch schnell gehen, wenn das Volk entschlossen und motiviert ist. Und das lässt sich den Ukrainern kaum absprechen. Die EU sollte sich darum durchringen, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen und sie nicht auszubremsen.“
Absage an Georgien ist gefährlich
Onet bemängelt, dass die EU-Kommission für Georgien keinen Kandidatenstatus empfohlen hat:
„Dass Georgien nicht den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten hat, ist ein historischer Fehler. Wenn der russische Krieg in der Ukraine kein ausreichendes Argument dafür ist, dass Putin nur die Macht politischer Fakten versteht, was dann? Sollte der Europäische Rat Georgien nicht den Status eines Kandidaten zuerkennen, wird die Entscheidung im Kreml so interpretiert werden: 'Wir haben im Kaukasus freie Hand, die Tür steht offen.' Dies könnte zu einer Eskalation des Krieges führen, dieses Mal im Kaukasus. Liegt es im Interesse des Westens, Schritt für Schritt die Kontrolle über das Schwarzmeerbecken an Putin abzugeben?“
Auf der Überholspur
Berlingske zählt die Bedenken gegenüber einem EU-Beitritt der Ukraine auf:
„Der Krieg verhindert für viele Jahre eine normale Entwicklung und Reformen. Es gibt Länder, die wie Dänemark befürchten, dass der Krieg der Ukraine einen unverdienten schnellen EU-Beitritt bescheren könnte. Dass Emotionen die Vernunft antreiben, und dass die Ukraine in sechs Monaten auf eine Überholspur der Sympathie gebracht wird, mit den Folgen, die das haben wird. Die Ukraine wird eines der größten Länder sein, die in die EU integriert werden.“
Ein Nein wäre herzlos und undankbar
De Standaard sieht weitaus mehr Argumente, die dafür sprechen, dass die Ukraine jetzt bereits den EU-Kandidatenstatus bekommt:
„Die europäische Tür vor der Nase zuzuschlagen, wäre fast ein Akt der herzlosen Undankbarkeit, die uns die Ukrainer nie vergeben würden. Wer aber entzückt wäre über eine neue ukrainische Verletzung und einen spalterischen europäischen Streit wäre Wladimir Putin. ... Moskau kann nur träumen von einer Situation, in der sowohl Präsident Selenskyj, der ukrainische zivile Widerstand als auch die ukrainische Armee einen ungeahnten moralischen Rückschlag verarbeiten müssten. Eigentlich kann Europa diese historische Entscheidung nur mit einem großzügigen Herzen treffen und die Ukraine in der Familie willkommen heißen.“
Desaströse Schwächung der Gemeinschaft
Ein Beitritt der Ukraine gemeinsam mit den acht weiteren Staaten im Vorzimmer der EU, wäre fatal, meint der Politologe Mario Telo in The Conversation France:
„Die Aufnahme von neun weiteren Staaten würde nach Ansicht vieler Beobachter und sicher auch vieler Bürger zu einer Lähmung der EU-Institutionen führen, insbesondere im Bereich Außenpolitik. Diese wird einstimmig beschlossen. … Neun Länder hinzuzufügen (einschließlich Serbien, das Russland besonders nahesteht), von welchen sich jedes je nach Gelegenheit den Gemeinschaftsentscheidungen entgegenstellen könnte, scheint ein Widerspruch zur absoluten Notwendigkeit einer effizienteren und stärkeren Außenpolitik zu sein. Das gilt auch für die Verteidigungspolitik.“
Das Symbolische zählt
Es geht momentan nur um den Kandidatenstatus, nicht um die Mitgliedschaft, erinnert The Economist:
„Die Kleinmütigen werden einwenden, dass die Ukraine zu arm, zu korrupt und jetzt zu kriegsgeschädigt ist, um dem kuscheligen EU-Club beizutreten. Das stimmt, aber darum geht es nicht. Niemand glaubt, dass die Ukraine bald für eine Mitgliedschaft bereit sein könnte. Dazu muss sie noch viele Hürden nehmen. Wenn die Ukraine keine ausreichenden Fortschritte macht, sollte sie nicht aufgenommen werden. Die Entwicklung vom Kandidaten zum Mitglied ist keineswegs vorbestimmt: Die Türkei wartet seit 1987. ... Aber die Symbolkraft eines solchen Schrittes wäre riesig.“
Viele Zweifler am Schnellverfahren
Da kommt eine neue Zerreißprobe auf die EU zu, prophezeit La Stampa:
„Auf der einen Seite stehen die Befürworter eines schnellen Beitritts - in erster Linie Polen und die baltischen Republiken - und auf der anderen Seite diejenigen, die der Meinung sind, dass die Beitrittsphasen ausnahmslos für alle gleich sein sollten. Frankreich hat es klar und deutlich gesagt, und Clément Beaune, der neue bestätigte Europaminister, bekräftigte dies gestern. Auch andere haben, wenn man sie gefragt hat, dies bezeugt - etwa die Niederlande und Dänemark. Gestern stellte sich zudem Deutschland offiziell auf die Seite Frankreichs. Macron versucht, seine westlichen Verbündeten zu beruhigen und gleichzeitig den dünnen Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen zu lassen.“
Dringend benötigter Anker
Eine Beitrittseinladung sowohl an die Ukraine als auch die Republik Moldau und Georgien wäre jetzt angebracht, meint die Politologin Alina Mungiu-Pippidi in România Curată:
„Ich glaube, dass die EU mit dem Austausch von Fragebögen mit der Republik Moldau und der Ukraine (und Georgien) Zeit verliert. Selenskyj hat zwar nicht Recht, wenn er meint, dass wir wegen der russischen Lobby zögern würden, aber er hat Recht, dass eine sofortige Einladung das Einzige ist, was wir tun können. ... Wir sollten alle drei in die EU einladen, so wie es einst mit Rumänien und Bulgarien geschehen ist, die damals von Nationalismus im eigenen Land bedroht waren. ... Eine solche Einladung ist ein politischer und wirtschaftlicher Anker, ohne den man das Abdriften und die Panik nicht stoppen kann.“
Am besten Schritt für Schritt
Der Politiker Ramón Jáuregui plädiert in eldiario.es wie zuvor Macron für eine Art Vorzimmer der EU:
„Die Ukraine wird europäisch sein, oder sie wird aufhören, zu existieren. Der Beitrittsprozess wird sehr, sehr lange dauern. ... Moldau und Georgien befinden sich im selben Prozess. ... Europa muss die Zukunft dieser Länder im Blick behalten, denn es geht um seine nachbarschaftlichen Beziehungen und seinen geopolitischen Einfluss. Dies kann jedoch nicht um den Preis geschehen, dass wir unsere Ansprüche zurückschrauben. ... Wir brauchen uns nur an die Schwierigkeiten zu erinnern, die durch die massive Integration der osteuropäischen Länder entstanden sind. ... Aus all diesen Gründen ist es sinnvoll, an eine Europäische Politische Gemeinschaft zu denken, die die Länder schon im Beitrittsprozess integriert.“
Potenzielle Kandidaten nicht demotivieren
Die EU sollte für sie wichtige Nicht-EU-Länder stärker fördern, fordert die Ökonomin und ehemalige Abgeordnete des portugiesischen Parlaments Inês Domingos in Observador:
„Angesichts der Dringlichkeit für die Ukraine ist es sinnvoll, die wirtschaftlichen Beziehungen und die institutionellen und finanziellen Unterstützungsprogramme in den Nachbarländern, die für die Europäische Union von strategischer Bedeutung sind, zu stärken. ... Erstens, weil es angesichts der Gefahr zunehmender Konflikte im Osten aus Sicherheitsgründen eine Priorität ist, die schwächeren Demokratien in unserer Umgebung zu unterstützen. Aber auch, weil ein zu frühes Beitrittsverfahren die Gefahr birgt, die derzeitigen und potenziellen Kandidaten zu demotivieren, und das kann kontraproduktiv sein für die Reformen, die wir zu fördern versuchen.“