Vorgezogene Neuwahl in Italien
Nach dem Rücktritt des Premiers Mario Draghi hat Italiens Präsident Sergio Mattarella das Parlament aufgelöst. Die vorgezogene Neuwahl ist für September vorgesehen. Umfragen zufolge hätte eine Koalition aus rechten und extrem rechten Parteien die besten Erfolgschancen. Europas Presse ist besorgt.
Viele haben Meloni den Weg geebnet
In Ctxt.es warnt Italien-Korrespondentin und Rechtsextremismus-Expertin Alba Sidera vor einer neofaschistischen Regierung unter Giorgia Meloni:
„Dass sie es in Italien so weit gebracht hat, liegt an all denen, die sie beschönigt haben. Von den Medien, die darauf bestehen, Salvini und Meloni als Mitte-Rechts zu bezeichnen, über Berlusconi und die Grillini, die sie an die Macht gebracht haben, bis hin zu einer desorientierten linken Mitte, die sie unterschätzt und legitimiert hat. Meloni ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Seit Jahren bereitet sie sich darauf vor, Premierministerin zu werden. ... Die Postfaschisten könnten in Italien wieder regieren.“
Zu gewichtig für Experimente
Jyllands-Posten blickt mit Sorge auf die politische Instabilität und erinnert daran, dass ein Bündnis aus Populisten und Rechtsextremen jetzt so brüchig wäre wie vor vier Jahren:
„Wahlsieger waren [2018] Cinque Stelle, die ein Bürgergeld versprachen, sowie die Lega, die norditalienische Separatistenpartei, die ihr altes Paradethema eines freien Norditaliens durch klassische Kritik an EU- und Migrationspolitik und Bewunderung für Putin ersetzt hat. ... Die Regierung [zwischen Cinque Stelle und Lega] hielt 461 Tage, ehe die Lega durch die PD ersetzt wurde, die dann 527 Tage gemeinsam mit Giuseppe Conte regierte, bis auch diese Konstellation zusammenbrach und Draghi geholt wurde. ... Alles könnte anmuten wie eine Komödie, aber Italiens Wirtschaft ist zu groß, um damit zu zocken, und Europas Sicherheit zu wichtig.“
Schlechte Vorzeichen für Macron
Parallelen zwischen Italien und Frankreich erkennt Manager Bernard Spitz in einem Beitrag für La Repubblica:
„Mario Draghi kam dank zweier offensichtlicher Elemente an die Macht. Er war in den Augen der Wirtschaft, der italienischen Gesellschaft und der übrigen Welt die beste und glaubwürdigste Person, und er kam nicht aus der politischen Welt, die vor ihm regierte. Genau wie Emmanuel Macron. Draghis Abgang zeigt uns, dass dies in Zukunft nicht mehr ausreichen wird, ja, dass es jetzt schon nicht mehr ausreicht. In Frankreich ist wie in Italien ein politisches Abgleiten in Richtung der harten, populistischen Rechten zu beobachten, hier Rassemblement National, dort Lega und Fratelli d'Italia.“
Keine schädliche Kehrtwende einleiten
Italien wird den Reformkurs beibehalten, hofft The Times:
„Ein Wahlsieg der Fratelli d'Italia [Brüder Italiens] mit ihren neofaschistischen Wurzeln wäre sicherlich ein politischer Schock, allerdings kein größerer, als die früheren Erfolge der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung oder der [rechtspopulistischen] Lega. Das großzügige Zuckerbrot der EU-Fonds und die Peitsche der Volatilität der Anleihemärkte sind ein starker Anreiz für die nächste Regierung, die Reformen von Draghi fortzusetzen. Keine der Parteien fordert aktuell, dass Italien die Eurozone oder die EU verlässt. Nichtsdestotrotz bedeutet der Rücktritt Draghis, dass eine beruhigende Präsenz am Spitzentisch Europas fehlen wird, was neue Befürchtungen zum westlichen Zusammenhalt weckt – in Zeiten, in denen das von entscheidender Bedeutung wäre.“
Haarsträubendes Experiment mit offenem Ausgang
Italien-Korrespondent Julius Müller-Meiningen erwartet in Cicero eine rechtspopulistische Regierung im Stresstest:
„Die Tatsache, dass das Volk nun nach dem Politik-Theater die Stimme bekommt, ist aus demokratischer Sicht kein Drama, im Gegenteil. Nun deutet in Italien alles auf eine Rechtspopulisten-Koalition hin, bei der einem angesichts der italienischen und deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts die Haare zu Berge stehen mögen. Salvini [Lega] und Meloni [Fratelli d'Italia], vereint vom Urpopulisten Berlusconi [Forza Italia], werden dann einem Realitätstest unter schwersten Bedingungen (Ukraine-Krieg, Inflation, Rohstoffkrise, Wirtschaftskrise) unterzogen. Das politische Labor Italien schlägt das nächste Kapitel auf. Ausgang des Experiments – unbekannt.“
Wird Italien wieder pro-russisch?
Auch Rzeczpospolita ist in Sorge:
„Entgegen den traditionell engen Beziehungen Italiens zu Russland unterstützte Draghi die Ukrainer nachdrücklich. Er war es, der Emmanuel Macron und Olaf Scholz überredete, im Juni gemeinsam nach Kyjiw zu reisen und dort ihre Unterstützung für die Anerkennung der Ukraine als EU-Beitrittskandidat zu verkünden. Nun könnte sich diese Politik radikal ändern. Meloni selbst vertritt zwar eine dezidiert antirussische Linie, aber Salvini hat wiederholt Sympathien für Putin geäußert und jetzt sogar einen Besuch in Moskau geplant. Auch Berlusconi unterhält enge Beziehungen zum russischen Staatschef. Darüber hinaus ist Italien nach wie vor anfällig für die Gas-Erpressung durch den Kreml.“
Energiepolitik als Kurskorrektor einsetzen
Die EU muss den Bürgern jetzt zeigen, wozu sie gut ist, fordert De Morgen:
„Europa muss den Italienern mehr denn je beweisen, warum ihre EU-Mitgliedschaft sinnvoll ist, was immer auch Italexit-Unheilpropheten propagieren. Die europäische Unterstützung für die Energiewende kann eine Riesenchance sein. Der ärmere Süden ist eine potenzielle Goldmine für Sonnenenergie, die Hügel und Ebenen im Norden für Windenergie und die Bergflüsse für Wasserkraftturbinen. Nur dürfen diese Investitionen nicht nur cleveren Geschäftsleuten zugutekommen, die ihre Gewinne offshore parken. Europa darf von den Bürgern nicht nur fordern, das Licht zu löschen oder weniger zu heizen, sondern kann auch kleine Subventionen fließen lassen, wenn sie fossilfreie Energiequellen nutzen.“
Ein Abgrund tut sich auf
La Stampa ist wütend über das Stimmverhalten der populistischen Parteien:
„Eine Schande! Es gibt kein anderes Wort, um die Art und Weise zu beschreiben, wie die Draghi-Regierung im Senat gescheitert ist. ... Es ist, als ob sich ein Abgrund aufgetan hätte, in den gemeinsam mit der Regierung der nationalen Einheit auch jener große Teil Italiens hinabgezogen wird, der bereit war, Opfer zu bringen, um in Europa und in der Welt wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, dank des Vertrauens, das auf allen Ebenen in den Mann gesetzt wurde, der gestern die Bühne verließ.“
Der italienische Drang zur Selbstzerstörung
Wenig verwundert ist Corriere della Sera:
„Selbst Draghi, der berühmteste Italiener, den wir hatten, und den wir hoffentlich bald wieder im Dienste unseres Landes sehen werden, hat den Preis für das unerbittliche Gesetz der Regierungen der nationalen Einheit bezahlt. Seine dauerte ein Jahr, fünf Monate und sieben Tage. Fünf Tage weniger als die von (Mario) Monti. ... Sieben Monate länger als die Regierung von Enrico Letta im Jahr 2013. Wie wir sehen, kommt unterm Strich immer das Gleiche heraus. Dass nämlich die Parteien in Italien ihre 'weit gefassten' oder 'sehr weit gefassten' Vereinbarungen nicht länger als ein Jahr, höchstens anderthalb Jahre, durchhalten. Dann ergreift sie ein unwiderstehlicher 'cupio dissolvi' [Drang zur Selbstzerstörung], dem selbst die Besten zum Opfer fallen.“
Ein schlechter Tag für Europa
La Vanguardia erinnert daran, wie Draghi vor zehn Jahren zum Euro-Helden wurde:
„Der Ernst der Lage lässt sich an der internationalen Reaktion ablesen, die Draghi auffordert, nicht zurückzutreten, und auch an dem Druck, der auf alle italienischen Parteien ausgeübt wird, vorgezogene Neuwahlen zu vermeiden. Der Zufall will es, dass dieser Monat Juli 2022, in dem Draghi schon einen Fuß außerhalb des italienischen Regierungssitzes hat, mit dem berühmten Satz zusammenfällt, den er vor genau zehn Jahren, im Juli 2012, als Präsident der EZB gesagt hat, um den Euro zu retten: 'Whatever it takes.' ... Draghi rettete den Euro. Jetzt will die Hälfte der europäischen Staatskanzleien alles tun, um Draghi zu retten. Paradoxien des Lebens. Es ist in der Tat ein schlechter Tag für Europa.“