Was machen sechs Monate Krieg mit Europa?
Im sechsten Monat des Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine hat Russland keines seiner Ziele zurückgenommen. Nach dem anfänglichen Schock sowie der folgenden Phase von Sanktionen und Solidaritätsversprechen scheint man sich in der EU nun ernüchtert auf einen lang andauernden Krieg einzustellen. Kommentatoren beschäftigen sich auch damit, welchen Einfluss der Krieg auf Europas Gesellschaften hat.
Krieg macht alle zu Monstern
Der Fantasy-Autor Łukasz Orbitowski hinterfragt in Wprost seine eigenen Emotionen:
„Ich habe einen Hass auf die Russen entwickelt, und manchmal betrachte ich sie nicht mehr als Menschen, sondern als Orks aus Mordor. Ich habe kein Mitleid mit ihnen, wenn sie sterben. Auch Gimli hätte kein Mitleid. Ich freue mich über Nachrichten über gesunkene Schiffe, abgeschossene Flugzeuge und den Verlust von Menschenleben. Viele meiner Freunde denken das Gleiche. Sie machten einen Sekt auf, als das Auto mit Darja in die Luft flog. Es zerriss das junge Mädchen. Was ist mit uns geschehen, dass wir plötzlich Gefallen an politischen Attentaten finden? Werden wir nicht selbst zu Monstern? ... Der Krieg hat auch uns, den Bürgern eines sicheren Landes, etwas genommen, was natürlich die am wenigsten tragische Kriegsfolge ist.“
Selbstverständlichkeiten werden infrage gestellt
Einen Widerspruch in der Verurteilung von Kriegen erklärt Večer folgendermaßen:
„Viele ärgern sich darüber, dass wir in der EU Kriege mit zweierlei Maß messen. Das ist wohl richtig, denn sonst hätte die EU, wenn sie ihre proklamierten demokratischen und friedlichen Werte ernst nähme, schon längst beispielsweise amerikanischen, israelischen oder saudischen Touristen keine Einreise mehr erlaubt, wie es derzeit der Vorschlag für neue europäische Sanktionen gegen die Russen ist. ... Warum? Es geht nicht nur um Nähe. Es geht darum, dass die Europäer zunehmend hinterfragen, ob ihre Werte, ihr relativ demokratisches System, ihr Wohlstand, der jetzt wegen des Verzichts auf russische Energielieferungen bedroht ist, noch selbstverständlich sind.“
Nicht auf den Irrweg abgleiten
Welchen Einfluss der Krieg in der Ukraine auf die litauische Gesellschaft hat, analysiert der Politologe Deividas Šlekys in LRT:
„Ein Teil der Gesellschaft interessiert sich sehr für die Verteidigung, doch in all dem Enthusiasmus sehe ich auch Zeichen des schlechten pathetischen Nationalismus: alle bewaffnen, wer nicht mit uns ist, ist ein Feind und ein Verräter et cetera. ... Ich stimme zu, dass es schwierig ist, in einem Grenzstaat ein Gleichgewicht zwischen dem demokratischen Alltag und der Vorbereitung auf den Krieg zu wahren. Lasst uns die komplexe Beziehung zwischen Demokratie und Krieg aber nicht ignorieren. Wir können auf einen Irrweg abgleiten. Zuerst mit Worten, später mit Taten.“
Lage permanent auf der Kippe
Die bisherige Geschlossenheit steht auf ziemlich wackligen Füßen, sorgt sich auch Právo:
„Versuchen wir uns besser nicht im Malen von rosaroten Farben: Namentlich die Energiekrise kann zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und in der EU als solcher zu vielen Spannungen führen. Ungeachtet optimistischer Erklärungen aus Brüssel sehen wir, dass eine Reihe von Regierungen ratlos auf die Krise reagiert. Die Unwägbarkeiten sind enorm. Damit steht auch der Zusammenhalt der Union auf dem Spiel. Und die Amerikaner? Bislang engagieren sie sich sehr an der ukrainischen Front. Ohne sie würden die Waffenlieferungen nicht ausreichen. Wichtiger für die USA ist aber die 'chinesische Front'. Und für zwei Fronten hat Washington nicht die Kraft.“
Ein tägliches Ringen
Innerhalb der EU hat der Widerstandswille gegenüber dem russischen Regime stark abgenommen, klagt The Daily Telegraph:
„In den vergangenen zwei Monaten hat kein EU-Mitglied der Ukraine neue materielle Unterstützung zugesagt. Der EU-Außenbeauftragte, Josep Borrell, gestand diese Woche ein, dass es ein 'tägliches Ringen' sei, den Block zusammenzuhalten. ... Die weitere Unterstützung der Ukraine durch Großbritannien und osteuropäische Staaten, so stark diese auch sein mag, wird nicht reichen. Ohne geeinte westliche Unterstützung wird sich Wladimir Putins zentrales Kalkül als richtig erweisen: Dass sein Siegeswille größer ist als der Widerstandswille des Westens.“
Wende jetzt konsequent durchziehen
Der Ukraine muss endgültig zum Sieg verholfen werden, meint der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Rational gesehen muss man zu dem Schluss kommen, dass der Westen, der seine Positionen in den letzten sechs Monaten zu langsam, zögerlich und schrittweise angepasst hat, nun eine endgültige Kehrtwende vollziehen muss, die Ukraine entschlossen aufzurüsten, und ihr dabei zu helfen, die Invasoren zu vertreiben. ... Ein solcher Sieg würde die globale neototalitäre Allianz stark entmutigen. Angesichts einer klaren russischen Niederlage könnten sich entscheidende Teile der Streitkräfte und der Geheimdienste auf den 'Patriotismus' berufen, um Putins Herrschaft ein Ende zu bereiten.“
Friedliche Koexistenz ist nicht mehr möglich
Der Westen muss sich darauf einstellen, dass er Kyjiw noch lange beistehen muss, betont die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Das ist nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber einer angegriffenen Demokratie (wie unvollkommen auch immer sie vor dem Krieg war). Die Kompromisslosigkeit, die der ukrainische Präsident in seiner Ansprache an den Tag gelegt hat, ist auch im westlichen Interesse. Was für die Ukraine gilt, gilt nämlich auch für den Rest Europas: Eine friedliche Koexistenz mit den gegenwärtigen Herrschern Russlands ist nicht mehr möglich, weil diese daran nicht interessiert sind.“
Das Ende des "europäischen Hauses"
Die Politologin Sandra Fernandes erinnert in Expresso an optimistischere Zeiten:
„Der eindeutige Bruch in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland, den beiden größten Nachbarn des Kontinents, macht die Idee eines 'gemeinsamen europäischen Hauses' zunichte. Der Bau dieses von Gorbatschow erdachten 'Hauses' erwies sich im Kontext der 1990er Jahre, in denen Moskau aufgrund seiner schwachen Position de facto gemeinsame Bedingungen auferlegt wurden, als ein etwas naives Ideal. Das neue postsowjetische Russland beanspruchte nach wie vor seine Zugehörigkeit zu Europa und seine wichtige Rolle in einem gemeinsamen Kontinent. Inzwischen präsentiert es sich als ultranationalistisch und isolationistisch.“
Sehnsucht nach der Komfortzone
Club Z befürchtet:
„Die wohlhabende Welt akzeptiert den Krieg allmählich als einen von vielen Konflikten außerhalb ihrer Komfortzone, selbst wenn das bedeutet, dass sie diese Zone einengen muss. Ja, die Ukraine ist weder Somalia noch Jemen, und der Krieg dort ist der größte in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, aber er ist nicht der einzige - der blutige Zerfall des ehemaligen Jugoslawien liegt noch nicht so weit zurück. Das Gefühl, dass gerade etwas Außergewöhnliches passiert, das von uns Anstrengungen und Opfer abverlangt, weicht allmählich unserem Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität.“
Vielversprechende Verbrüderung
Polityka sieht eine neue Qualität der polnisch-ukrainischen Beziehungen:
„Was als Putins Blitzkrieg gedacht war, entpuppte sich als Russlands größtes geopolitisches Desaster nach dem Zerfall der Sowjetunion. ... Heute betrachtet die überwiegende Mehrheit der Ukrainer die Polen als Freunde und sogar als Brüder, auch wenn Russland ihnen eingetrichtert hat, dass ihre Brüder die Russen seien. Diese radikale Verbesserung des Bildes der Polen in den Augen der Ukrainer birgt ein großes politisches Potenzial: Es ist möglich, darauf eine ganz neue Partnerschaft zwischen unseren Völkern und Staaten aufzubauen.“
Verheerende Bilanz für alle Seiten
El Periódico de Catalunya fordert sofortige Friedensverhandlungen:
„Die Bilanz ist verheerend. ... Für die Ukraine, die Opfer schrecklicher Zerstörungen wurde, aber auch für Russland, das unter noch nie dagewesenen Sanktionen und einer enormen internationalen Isolierung leidet. Die Länder der EU stellen sich auf einen der härtesten Winter seit dem Zweiten Weltkrieg und der Ölkrise von 1973 ein. ... Die Auswirkungen des Konflikts betreffen auch viele Entwicklungsländer. ... Angesichts einer solchen Katastrophe kann es keine andere Politik geben, als die Bemühungen und die Diplomatie zu verstärken, um der Aggression ein Ende zu setzen. ... Alle müssen gemeinnützig handeln und sich schnellstens auf einen für beide Seiten akzeptablen Waffenstillstand einigen.“
Frieden rückt in weite Ferne
Russland hat in sechs Monaten jedes Vertrauen verspielt, meint dagegen die Neue Zürcher Zeitung:
„Das allgegenwärtige Misstrauen macht eine Friedenslösung fast undenkbar. Auch hier liegt die Schuld bei Russland, das noch 1994 die Grenzen der souveränen Ukraine im Gegenzug für deren Aufgabe der Atomwaffen garantiert hatte. ... Die Ukraine im Rahmen eines künftigen Abkommens - etwa über einen neutralen Status - von neuen internationalen Garantien für ihre territoriale Unversehrtheit zu überzeugen, wird deshalb schwierig sein. Sie hat gelernt, dass nur militärische Stärke Schutz bietet gegen den unberechenbaren Nachbarn. Da keiner Seite gegenwärtig akut eine Niederlage auf dem Schlachtfeld droht, rückt der Frieden in der Ukraine in weite Ferne.“
Nun kommt der Ermüdungskrieg
Damit Russland den Krieg verliert, muss der Westen noch einiges auf sich nehmen, ist Berlingske sicher:
„Putin hat den Blitzkrieg verloren, nun folgt der Ermüdungskrieg. Beide Seiten haben große Verluste erlitten. Von nun an wird der Krieg dadurch entschieden werden, wer sich am längsten auf den Beinen halten kann. ... Dieser Krieg hat die Welt verändert - und er hat uns verändert. Er hat unser Bild von Russland als militärische Großmacht angekratzt, in dieser Hinsicht hat Putin bereits verloren. Aber wenn die Ukraine die kommenden sechs Monate des Kriegs gewinnen soll, wird dies der Welt und uns noch mehr abverlangen.“
Diktaturen knicken zuerst ein
Im geostrategischen Ringen zwischen westlich geprägten Demokratien und autokratischen Regimen wie Russland und China haben Erstere den längeren Atem, glaubt Financial Times:
„Historische Daten legen nahe, dass die autoritäre Front zuerst einbrechen wird - wenn nicht wegen des Kriegs gegen die Ukraine, dann aus einem anderen Grund. Liberale Staaten sind meist grundsätzlich ähnlich. Diktaturen hingegen sind oft sehr unterschiedlich und passen schlecht zusammen. Der ethnische Chauvinist hasst den universellen Marxisten. ... Zwei Theokratien verschiedener Konfessionen können einander nicht ausstehen. 'Achse' war im Zweiten Weltkrieg eine positive Bezeichnung für die kriegführenden Staaten Deutschland, Italien und Japan. Doch diese sahen einander selten als ebenbürtig.“
Beide Seiten haben den Finger auf dem Knopf
Večernji list befürchtet das Schlimmste:
„Jeder Krieg ist gefährlich. Aber der Krieg in der Ukraine ist gefährlicher als die anderen, da er sich in einen Weltkrieg auswachsen kann, in dem die verheerendsten Waffen benutzt werden. Das Drama mit dem Atomkraftwerk in Saporischschja zeigt, dass beide Seiten den Finger auf dem Knopf haben. … Das Potential für eine Zuspitzung des Kriegs ist noch nicht ausgeschöpft: Die Ukrainer kämpfen ums Überleben, das Recht auf einen Staat. Die Russen haben es verpasst, am eigenen Beispiel zu lernen, wie es ist, wenn die Okkupation droht. Sie haben sich in Okkupatoren verwandelt.“
Moskau ist in der Defensive
Der Krieg läuft für Putin alles andere als nach Plan, schlussfolgert Rzeczpospolita:
„Die Ukrainer haben begonnen zuzuschlagen. Und das an Putins empfindlichstem Punkt: der Krim. Und wieder einmal hat sich gezeigt, dass die russische Korruption und die mangelhaften Waffen gegenüber den Technologien, die Kyjiw vom Westen erhält, den Kürzeren ziehen. ... Am Samstagmorgen meldete die russische Regierung, dass eine Drohne direkt über dem Dach des Hauptquartiers der Schwarzmeerflotte abgeschossen wurde. ... Man kann sich kaum vorstellen, was Putin tun würde, wenn die Ukrainer die von ihm gebaute Krimbrücke zerstört hätten. Eine Generalmobilmachung? Die Ausrufung eines weiteren Vaterländischen Krieges? Er befindet sich in der Defensive.“
Putin will sich bald als Sieger feiern lassen
Moskau mag seine ursprünglichen Kriegsziele in der Ukraine verfehlt haben, das ist aus propagandistischer Sicht aber nicht weiter schlimm, analysiert Kolumnist Philip Short in The Guardian:
„Moskau muss nicht viel erreichen, damit Wladimir Putin den Sieg für sich beanspruchen kann. Russland würde es reichen, den gesamten Donbass und die Landbrücke zur Krim zu kontrollieren. Putin hätte bestimmt gerne mehr. Wenn russische Truppen Odessa und die angrenzende Schwarzmeerküste einnehmen, würde dies die Ukraine zu einem Vasallenstaat machen. Aber selbst bescheidenere Erfolge würden die Grenzen der US-Macht aufzeigen. Es ist möglich, dass die Ukraine dies mit solider westlicher Unterstützung verhindern kann. Doch es ist alles andere als sicher.“
Niemand spricht mehr von Waffenstillstand
Nach sechs Monaten Krieg steht für Birgün folgendes fest:
„Auch wenn der Krieg auf ukrainischem Territorium stattfindet, die Entscheidung über die Beendigung des Kriegs oder einen Waffenstillstand wird nicht in Kyjiw, sondern in Washington und Moskau getroffen, da es sich um eine Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland handelt. Es ist offensichtlich, dass die USA, die Nato und das westliche Bündnis planen, den Krieg um Jahre zu verlängern, um Russland zu schwächen. Niemand spricht mehr von Waffenstillstand oder Frieden, auch wenn beide Seiten schwere menschliche, militärische und materielle Verluste erlitten haben. Sowohl Kyjiw als auch Moskau glauben, dass sie den Krieg zu ihren Gunsten beenden können.“
Energie ist entscheidend
El País meint, dass die Rolle Europas für die Ukraine gerade jetzt extrem bedeutend ist:
„Die Ukraine hat den Vormarsch der Invasoren so weit gebremst, dass sie seit Mitte August die Initiative auf dem Schlachtfeld übernommen hat. ... Ein endgültiger Sieg würde die vollständige Rückgewinnung der seit 2014 von Russland besetzten Gebiete bedeuten, einschließlich der Krim, und das kann Putin kaum hinnehmen. ... Hier wird die Rolle der Länder, die Kyjiw unterstützen, extrem wichtig. ... Und das erklärt [Putins] aktuelle Entscheidung, seine Energiewaffe mit dem klaren Ziel einzusetzen, weitreichende soziale Unruhen zu provozieren und Selenskyj zu einer Art Abkommen mit Moskau zu zwingen. ... Mehr noch als im militärischen Bereich liegt hier der Schlüssel zu Sieg oder Niederlage.“