Ukraine: Die Welt nach einem Jahr Großoffensive
Am 24. Februar jährt sich der russische Angriff auf die gesamte Ukraine. Ein Ende ist nicht in Sicht: Russland bombardiert weiterhin ukrainische Stellungen, Zivilisten und Infrastruktur. Kyjiw verteidigt sich standhaft mithilfe fortgesetzter westlicher Waffenlieferungen. Über 7.000 Zivilisten sind laut bestätigten UN-Zählungen bisher ums Leben gekommen. Kommentatoren ziehen Bilanz und erörtern langfristige Perspektiven.
Der Krieg kann noch Jahre dauern
Rzeczpospolita sieht eine Pattsituation:
„Moskau hoffte, Europa und insbesondere Deutschland in die Knie zwingen zu können, indem es die Gaslieferungen über Nacht unterbrach. Dies ist nicht geschehen: Berlin wird wahrscheinlich eine Rezession vermeiden. Aber auch die Sanktionen des Westens haben nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt: Letztes Jahr schrumpfte sie um knapp zwei Prozent, dieses Jahr wächst sie wieder. Beide Seiten haben also gelernt, mit dem Krieg zu leben - und zwar auf Jahre hinaus.“
Waffenlieferungen sorgfältig dosieren
Neatkarīgā zählt notwendige Zielmarken auf:
„Im Moment stellt sich die Welt allmählich auf einen langfristigen Krieg ein, in dessen Verlauf erstens die Ausweitung der Feindseligkeiten über die Grenzen der Ukraine hinaus nicht zugelassen werden darf. Zweitens bedeutende militärische Erfolge Russlands nicht zugelassen werden dürfen. Drittens eine schnelle Niederlage der russischen Armee auf dem Schlachtfeld, die eine unverhältnismäßige Reaktion Putins provozieren könnte, nicht wünschenswert wäre. Putin wird verschwinden. Wie, das ist eine andere Frage. Bis dieser Moment kommt, muss die Welt überleben, daher muss das Volumen der Waffenlieferungen an die Ukraine sehr sorgfältig dosiert werden. Um das strategische Gleichgewicht nicht zu stören.“
Nicht ganz eindeutige Folgen
Über die veränderte russische Wirtschaftslage reflektiert Kauppalehti:
„Zu den Auswirkungen der Sanktionen gibt es widersprüchliche Informationen. Im vergangenen Jahr förderten russische Unternehmen so viel Öl wie seit zehn Jahren nicht mehr, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Andererseits hat das russische Finanzministerium mitgeteilt, dass die Öl- und Gaseinnahmen im Januar um 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen sind. … Es scheint, dass die Einnahmen aus den Energieexporten nicht mehr ausreichen, um die wachsenden Kriegsausgaben zu decken. … Die Exportbeschränkungen für Technologie hat Russland mittels Zwischenhändlern umgangen und zum Beispiel in China Alternativtechnologien gefunden.“
Vernichtung der Infrastruktur als Genozid?
Lrytas wirbt für den Vorschlag des belgischen Geografieprofessors Jan Nyssen, der über den Tigray-Krieg in Äthiopien forschte:
„Man hat sich sehr bemüht, die akademische Welt davon zu überzeugen, die Initiative zu ergreifen, um die Zerstörung der Infrastruktur als Völkermord einzustufen. Bislang wurde dies nicht gemacht. Vielleicht sind mehr Beispiele nötig? ... Und nicht irgendwo weit weg in Afrika. Litauen ergreift viele gute Initiativen in Bezug auf den von Russland geführten Krieg in der Ukraine. Der Aggressor muss bestraft werden und es ist zu hoffen, dass die internationalen Gerichte etwas zu tun haben werden. Litauen könnte sich auch an den Bemühungen von Herrn Nyssen beteiligen, die Zerstörung der Energieversorgung in der Ukraine als Völkermord zu behandeln.“
Selenskyj ist ein Glücksfall
Der ukrainische Präsident verhält sich seit Beginn des Krieges vorbildlich staatsmännisch, lobt Publizist Paul Lendvai in Der Standard:
„Der Komiker und Unternehmer ... mit russischer Muttersprache, erwies sich im Verteidigungskrieg als ein Glücksfall für den ums Überleben kämpfenden Staat. Der kleingewachsene Mann mit Stoppelbart, stets in olivgrüner Militärkleidung, ist in diesem Jahr zum Staatsmann und weltweit wirkenden Kommunikator geworden. ... Seine jüngsten Blitzreisen nach London, Paris und Brüssel, seine Reden ... mit großer emotionaler Kraft und geschichtlicher Symbolik bestätigen den Eindruck, dass er selbst zu einer Hauptfigur der Geschichte wurde.“
Gefährlicher Utilitarismus
US-Medien sollten sich hüten, den Krieg als Geschäft darzustellen, rät der Ökonom István Dobozi in Élet és Irodalom:
„Das Wall Street Journal, die einflussreichste Wirtschaftszeitung, wies in einem Leitartikel darauf hin, dass die Hilfe für die Ukraine keineswegs ein schlechtes Geschäft für Amerika ist: die Kosten sind im Vergleich zum Nutzen unbedeutend. ... Dieser kaltblütige Utilitarismus eines der führenden amerikanischen Medienorgane ist erschreckend angesichts eines so tragischen Krieges. ... Diese Haltung spielt ungewollt der Kriegspropaganda des Kremls in die Hände, die immer wieder behauptet, Washington verzögere die Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine und verlängere die Leiden des Krieges aus reinem Eigeninteresse.“
Russland wird zum Vasallen Chinas
Die westlichen Sanktionen treiben die russische Wirtschaft in die Arme Pekings, beobachtet Trends-Tendances:
„Russische Ingenieure verlassen das Land in Windeseile. ... Russland importiert zwei- bis dreimal so viele chinesische Autos wie früher, und bald, so berichtet der Wirtschaftswissenschaftler Eric Chaney, wird auch der Luftfahrtsektor betroffen sein. Zu Maos Zeiten waren es die Russen, die China mit neuen Technologien versorgten, heute ist es genau umgekehrt - die alten Herren des Kreml dürften sich im Grabe umdrehen. ... Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, macht sein Land zu einem Satelliten des chinesischen Reiches. Er wollte größer, stärker, unabhängiger und freier sein, aber am Ende hat er nur den Herrn oder die Leine gewechselt.“
Süd- und Ostmitteleuropa gewinnen Bedeutung
In El País vergleicht der Politologe Luuk van Middelaar 2022 mit 1989:
„Ein Jahr nach der russischen Invasion verändert sich die strategische Karte Europas. Die Grenzen verhärten sich. Die Macht verlagert sich nach Osten. Diese Dynamik behagt dem deutsch-französischen Paar nicht und eröffnet neuen Raum für Schlüsselländer wie Spanien. ... Das Jahr 2022 sollte als eine Art 'Mini-1989' betrachtet werden. Die Invasion ist die größte geostrategische Umwälzung auf dem europäischen Kontinent seit dem Fall der Berliner Mauer. ... Auf der neuen Landkarte Europas steht der Osten bei der Verteidigung an vorderster Front, während der Süden im Zentrum der Energiewende steht. Man sollte diese doppelte Machtverschiebung im Auge behalten.“