Gaza, Libanon, Iran: Droht Krieg in ganz Nahost?
In Nahost brodelt es nach wie vor: Die Gefechte zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah gehen weiter, Israels Kampf gegen die Hamas in Gaza ebenfalls. Kurz vor dem Wochenende hatte die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den Anschlag mit mehr als 90 Toten im iranischen Kerman auf einer Gedenkfeier für Qassem Soleimani für sich reklamiert. Nun warnte US-Außenminister Antony Blinken vor einer Eskalation in der Region.
Alle wollen, aber keiner hat die nötigen Mittel
El País erkennt eine tragische Dynamik, die einer Eskalation aber im Wege steht:
„Zum derzeitigen Gefühl des Kontrollverlusts im Nahen Osten kommt das Bestreben aller Akteure, sich auf Kosten ihrer Nachbarn durchzusetzen. Eigentlich tun sie das schon seit Jahrzehnten, aber jetzt, im Kontext des Kriegs, ist dieses Streben nach Vorherrschaft noch offensichtlicher, allen voran bei den USA, Israel und Iran. ... Alle wollen, aber keiner hat die nötigen Mittel. ... Daraus lässt sich ableiten, dass niemand - außer dem IS und anderen, die an 'je schlimmer, desto besser' glauben - daran interessiert ist, eine regionale Eskalation zu provozieren. ... Es ist eher so, dass jeder von dem träumt, was er nicht ist, gefangen in einer Tragödie, in der er das Feuer schürt und hofft, dass der Wind zu seinen Gunsten weht.“
Ausweitung wäre jetzt unlogisch
Auch die Aargauer Zeitung glaubt nicht an einen Flächenbrand:
„Höchstwahrscheinlich hatte die Hamas am 7. Oktober gehofft, mit dem Massenmord an Zivilisten in Israel die Hisbollah und den Iran in einen grossen Krieg gegen den Judenstaat hineinzuziehen. ... Damals war Israel überrascht und befand sich im Schock. ... Ein Mehrfrontenkrieg mit der Hamas in Gaza und der Hisbollah im Südlibanon hätte Israel wahrscheinlich überfordert. Dieser für die Hamas günstige Zeitpunkt ist nun aber längst vorbei. So gesehen wäre es unlogisch, wenn der Iran und die Hisbollah derzeit interessiert wären, einen grossen Krieg gegen Israel auszulösen.“
Teherans Einfluss schwächen
Politologe Wolodymyr Wolja analysiert in Unian, was einen stabilen Frieden in der Region gewährleisten könnte:
„Einer der Faktoren ist die Neutralisierung des Einflusses vom Iran. ... Diese Angelegenheit kann durch die Schaffung einer Architektur der politischen Macht im Gazastreifen und die Entsendung einer Sicherheitsmission gelöst werden. Es wäre vernünftig, die arabischen Staaten daran zu beteiligen. Sie würden nicht als Besatzer angesehen und könnten die Verantwortung dafür übernehmen, dass es zu keinem groß angelegten Wiederaufleben der Hamas-Aktivitäten in diesem Gebiet kommt.“
Vervielfachung der Krisenherde
Wenn immer mehr Akteure im Krieg mitmischen, ist das Schlimmste zu befürchten, warnt Avvenire:
„Selbst wenn sich die dschihadistische Matrix des Attentats im Iran bestätigt, wird deutlich, wie die Gefahr wächst, dass sich die Region in einen immer breiteren Konflikt ohne Regeln mit einer Vervielfachung der Krisenherde und der beteiligten Akteure verwandelt. ... Und dies trotz der alles in allem pragmatischen Linie des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah. … Denn wenn sich das geopolitische Szenario in der Region immer mehr aufheizt, ist ein Abgleiten in das Schlimmste unvermeidlich. ... Zumal die israelische Ultra-Rechte die Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland schürt und offen von ethnischer Säuberung spricht, mit angedeuteten Deportationen.“
Eskalation nicht ausgeschlossen
Die Gemengelage wird immer explosiver, meint auch die Aargauer Zeitung:
„Der radikal-sunnitische IS hatte bereits im vorigen Jahr und 2022 Bombenanschläge im schiitischen Iran verübt. Soleimani befehligte vor zehn Jahren den Feldzug iranischer Truppen gegen den IS im Irak und hatte grossen Anteil an der Vertreibung des IS aus dem Land. ... Der Terror von Kerman ist der neue Höhepunkt einer Eskalationsspirale in Nahost, die mit dem Gaza-Krieg im Oktober begann. ... Doch auch wenn Israel und der Iran kein Interesse an einem neuen Krieg haben, wächst die Gefahr, dass sie wegen der Spannungen um den Gaza-Krieg in einen bewaffneten Konflikt hineinstolpern. Anschläge wie der von Kerman bergen das Risiko weiterer Eskalationen.“
Verlorene Sicherheitsgarantien wiederherstellen
Es liegt im Interesse des Westens, die Region trotz aller Schwierigkeiten in Schach zu halten, meint Politikanalyst Cristian Unteanu in Adevărul:
„Die Erklärung dafür liegt in der enormen Abhängigkeit des superindustrialisierten Westens von den Ressourcen der Länder des Nahen und Mittleren Ostens. Auch sorgt man sich um die Sicherheit des Warenverkehrs. ... Die US-Bündnisse mit den Staaten in der Region, die bisher die quasi-absolute Sicherheitsgarantie waren, sind nach der Niederlage in Afghanistan und dem Scheitern des 'Kriegs gegen den Terror' geschwächt oder sogar in gefährlicher Weise aufgelöst worden. Mehr noch: Nicht nur haben die terroristischen Bewegungen in den verschiedenen Ländern überlebt, sie haben sich sogar zu unabhängigen, nicht-staatlichen militärischen Kräften mit eigener Agenda entwickelt.“
Halbherzige Solidarität zwischen Konfessionen
Hamas und Hisbollah sind sich nicht so grün, wie man meinen könnte, erklärt Corriere della Sera:
„Bei der Beerdigung von Scheich Al-Aruri waren gestern in Beirut Dutzende von Hamas-Fahnen zu sehen, einige wenige der rivalisierenden palästinensischen Fraktion Fatah, und keine, nicht einmal eine, von der Hisbollah. ... Es war eine sunnitische Zeremonie in einer sunnitischen Moschee, in einem sunnitischen Viertel. Die Schiiten der Hisbollah, die gleichwohl Al-Aruri in ihrem Viertel der libanesischen Hauptstadt beherbergt hatten, waren nur mit zwei Vertretern anwesend. Dabei hatte der libanesische Schiitenführer Hassan Nasrallah in seiner Rede am Mittwoch laut getönt.“
Interesse an einem regionalen Konflikt?
Ohne zu benennen, wer die Drahtzieher sein sollen, vermutet Dnevnik, dass die gesamte Region in einen Krieg hineingezogen werden soll:
„Der Tod von Al-Aruri, bei weitem nicht der wichtigste Hamas-Führer, ist vor allem wegen des Ortes von entscheidender Bedeutung. ... Eine Drohne tötete ihn im Süden Beiruts, wo die Hisbollah ihr Hauptquartier hat. Der Angriff war eine offene Herausforderung an die Hisbollah, in den Krieg einzutreten. ... Als gestern im iranischen Kerman mehr als 80 Menschen getötet wurden, haben sich die Umrisse einer Politik gezeigt, die die sogenannten 'Rebellenkräfte' (Hamas, Hisbollah, Iran und die Huthis) in einen offenen regionalen Konflikt locken will.“
Bedrohung für den Weltfrieden
Die aktuellen Kriege haben alle das Potenzial, weiträumig zu eskalieren, fürchtet El País:
„Wenn der Krieg [in der Ukraine] nach Russland vordringt, steigert er die nukleare Bedrohung. Im Gazastreifen weitet er sich über die libanesische Grenze aus, mit den Raketen und Drohnen der Hisbollah; im Westjordanland mit den Provokationen extremistischer Siedler; im Libanon mit der gezielten Ermordung von Saleh al-Aruri; an der Küste des Jemen mit den Aktionen der Huthi-Rebellen. ... Und diesen Mittwoch im Iran. ... Washington konzentriert sich bei beiden Kriegen auf ein strategisches Ziel: zu verhindern, dass sie aus dem Ruder laufen, den Weltfrieden bedrohen und seine Truppen in ein Wespennest locken - wie bei so vielen anderen im letzten Jahrhundert. Alle großen Kriege begannen als lokale Fehden.“