Assange frei, die Presse auch?
Nach einem Deal mit der US-Justiz ist Julian Assange auf freiem Fuß. Vor einem US-Gericht der Pazifikinsel Saipan bekannte sich der Wikileaks-Gründer der Verschwörung zur Beschaffung und Weitergabe geheimer Informationen schuldig. Seine Strafe gilt mit der fünfjährigen Haft in Großbritannien als abgebüßt, am Mittwoch wurde Assange in seiner australischen Heimat von seiner Familie in Empfang genommen.
Wir schulden ihm Dank
In Público zollt die Publizistin Carmo Afonso dem Wikileaks-Gründer Respekt:
„Assanges Einverständnis scheint ein Urteil verhindert zu haben, das die Freiheit aller Journalisten bedroht hätte. Ich spreche von einer konkreten Bedrohung: Gerichtsurteile schaffen Präzedenzfälle und beeinflussen zukünftige Entscheidungen. Julian Assange hat sich selbst gerettet, indem er diesen Deal akzeptiert hat. Aber letztlich hat er viel mehr getan als das. ... Er hat stark belastende Informationen an die Öffentlichkeit gebracht, von denen wir nie erfahren hätten. ... Dafür schulden wir ihm Dank. Und wir sind ihm auch dafür zu Dank verpflichtet, dass er gezeigt hat, dass die demokratischen Gesellschaften, in denen wir leben, keine Horte der Freiheit und der Menschenrechte sind.“
In Russland wäre er schon längst tot
Am Umgang mit Assange beweisen sich die USA als Rechtsstaat, applaudiert e-vestnik:
„Die USA führten jahrelang einen Rechtsstreit vor britischen und US-amerikanischen Gerichten, bis sie schließlich einen Vergleich erzielten und Assange freiließen. Weder wurde er vergiftet noch ist er aus dem Fenster gefallen. In Russland hätte kein Gericht ein solches Urteil gefällt. Unschuldige sitzen jahrelang mit erfundenen Anschuldigungen im Gefängnis. Hätte Alexej Nawalny geheime russische Akten ins Internet gestellt, wäre er schon längst erschossen worden.“
Spionagegesetz bedroht journalistische Arbeit
Der Fall Assange verheißt nichts Gutes für die Zukunft der Pressefreiheit, mahnt Irish Examiner:
„Es ist schwer, nicht von der Anklage des US-Justizministeriums erschüttert zu sein, zu der sich Assange schuldig bekennen musste, damit er seine Freiheit erlangen kann. Man stelle sich vor, was ein Generalstaatsanwalt einer zweiten Trump-Administration denken wird, der weiß, dass es bereits ein Schuldeingeständnis nach diesem Spionagegesetz gegeben hat. ... Das Justizministerium bestand darauf, ihn nach dem Spionagegesetz für journalistische Handlungen zu verurteilen, was viele Reporter dem gleichen Risiko aussetzen wird. ... Jetzt kann man nur hoffen, dass dieser Fall eine Ausnahme ist und kein Vorbote für das, was noch kommen wird.“
Gründliche Recherche ist das Credo
Das Webportal Documento kommentiert:
„Es war sicherlich kein Zufall, dass 2022 fünf große Medien – The New York Times, The Guardian, Le Monde, El País und Der Spiegel – die US-Regierung aufforderten, bestimmte strafrechtliche Anklagen gegen Assange fallen zu lassen, die ihn beschuldigten, durch die Veröffentlichung von Geheiminformationen gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Wie dieselben internationalen, großen Medien anmerken, kommt es vor, dass bedeutende Nachrichtenagenturen das von Zeit zu Zeit tun – ohne rechtliche Konsequenzen. Dies ist Teil ihrer Arbeit und ihrer Funktion. Und das ist es, was jeder Journalist tun sollte. Es geht darum, gründlich zu recherchieren.“
Informationen müssen eingeordnet werden
Respekt meint:
„Das Problem heute ist nicht der Mangel an Informationen, sondern deren Erfassung, Verarbeitung, Interpretation, die Fähigkeit, aus dem Chaos der Zeit eine verständliche Geschichte herauszuarbeiten. Das Problem ist nicht einmal die Geheimniskrämerei der Ministerien, sondern Desinformanten, die in den Netzwerken unendlich viel Ballast verbreiten, den die Öffentlichkeit nicht verstehen kann. Julian Assange kehrt in die Freiheit zurück, in eine Welt, die durch die Bemühungen von WikiLeaks kaum besser geworden ist. Im Gegenteil, der Hacker öffnete paradoxerweise die Tür zu einer Situation, in der eine Informationsflut ohne Interpretation und Kontext zu einem allgemeinen Verlust des Verständnisses der Welt führt.“
Die USA brauchen Australien
Biden wollte sich das Thema endlich vom Hals schaffen, glaubt La Repubblica:
„Viele Gründe sprachen dafür, den Fall vor den Wahlen im November beizulegen. Auch wenn das Weiße Haus betont, dass die Entscheidung zum Abschluss des Abkommens unabhängig vom Justizministerium getroffen wurde. Auf internationaler Ebene erschwerte das Schicksal von Assange die Beziehungen zu einem wichtigen Verbündeten wie Australien, das im Kampf gegen China besonders wichtig ist, vor allem nach der Aukus-Vereinbarung über die gemeinsame Entwicklung von Atom-U-Booten, die für Überwachung des Pazifiks benötigt werden.“
Vom Whistleblower zum Agenten Putins
Kurz vor der Freilassung kritisierte die durch eine Protestaktion im Staats-TV bekannt gewordene Journalistin Marina Owsjannikowa Assange auf Facebook:
„Er kritisierte nur stabile westliche Demokratien, vor allem die USA, aber totalitäre und autoritäre Regimes litten nicht unter seinen Aktivitäten. ... Unmerklich wurde Assange so vom nützlichen Idioten zum echten Agenten Putins. 2014 nahm der oberste Whistleblower öffentlich eine pro-russische Haltung zur Ukraine ein, und während des US-Wahlkampfs begann Wikileaks, aktiv Kompromittierendes über Hillary Clinton und die Demokratische Partei zu verbreiten. Zugleich wurde von Assange versprochenes Material, das Putin und sein Umfeld kompromittiert, nie veröffentlicht.“