Nahost: Was, wenn es zum Großkrieg kommt?
Israel setzt seine Angriffe im Libanon am Boden und in der Luft fort. Auch im Westjordanland flog es erstmals seit mehreren Jahren einen Luftangriff. Umgekehrt wird das Land weiter von der Hisbollah beschossen. Weiter unklar ist, wie Israel auf Irans Raketenangriffe vom Dienstag reagieren wird. Europas Presse debattiert vor allem, was ein direktes militärisches Vorgehen Israels gegen die Islamische Republik bedeuten würde.
Irans großer Fehler
Nun hat Israel das moralische Recht, offensiv gegen Teheran vorzugehen, schreibt der Filmregisseur Olexander Rodnjanskyj in Gordonua.com:
„Die iranische Führung hat offensichtlich einen schrecklichen Fehler gemacht. Einen erzwungenen: Sie konnten nicht umhin, auf die Ermordung der Hisbollah-Führer und den Angriff auf die Huthis im Jemen zu reagieren – sie sind ja 'verantwortlich für diejenigen, die sie gezügelt haben'. Doch das war ein großer Fehler. Israel hat die moralische und rechtliche Befugnis bekommen, zu handeln. Es kann nun das Atomprogramm des Iran, seine Ölterminals und Seehäfen zerstören. Es kann dem Terrorregime einen schweren Schlag versetzen.“
Israel braucht Unterstützung
Eine Schwächung des iranischen Regimes wäre im Interesse aller, betont Weekendavisen:
„Israels Showdown mit dem Iran zeigt einmal mehr, dass wir im Westen keine Strategie haben dafür, die Iraner und den Rest der Welt von der Zerstörung zu befreien, die die klerikale Herrschaft anrichtet. ... Wir sollten Israels jahrelange Hinweise ernst nehmen, dass iranische Atomwaffen für das Regime zur Lebensversicherung werden, so wie sie es für Nordkorea geworden sind. Es liegt im Interesse Israels, unseres Landes und des iranischen Volkes, dieses Atomprogramm deutlich zu schwächen. Der Iran hat sich als Papiertiger erwiesen. ... Israel leistet gerade harte Arbeit und braucht jede Hilfe, die wir geben können.“
Eskalation bringt selbst Netanjahu nichts
Habertürk warnt:
„Wie Israels frühere Staatsführer es bereits durch eigene Erfahrung gesehen haben und wie Netanjahu eines Tages feststellen wird, kann man durch Bombenangriffe und Massaker nichts erreichen. ... Die Geschichte wird auch Netanjahu eines Besseren belehren. Diese Militäraktion, die er für einen Sieg hält, wird Israel mehr Unsicherheiten bringen als die Sicherheit, die es anstrebt.“
Zarte Hoffnung auf Frieden
Ein hartes israelisches Vorgehen ist zwar aus humanitärer Sicht problematisch, könnte langfristig aber eine gute Nachricht sein, analysiert Sydsvenskan:
„Es gibt Berichte über viele zivile Opfer im Libanon, und es wird noch mehr geben, wenn der Krieg anhält oder sich ausweitet. Hier trägt Israel in diesem dicht besiedelten Land eine Verantwortung. Auch die Zahl der Todesopfer in Gaza steigt täglich. Aber auch außerhalb Israels, im Libanon und anderswo im Nahen Osten feiern die Menschen, dass die Schreckensherrschaft des iranischen Regimes angegriffen wird. Neben der Angst vor einem großen Krieg keimt auch die Hoffnung auf Veränderung, auf Frieden und Freiheit. Das dürfte die Führung in Teheran mehr als alles andere in Angst und Schrecken versetzen.“
Eine globale Sicherheitsbedrohung
To Vima blickt auf die Auswirkungen über den Nahen Osten hinaus:
„Der Ölpreis ist gestiegen (und wird weiter steigen, wenn die Ölanlagen im Iran getroffen werden), und die Folgen eines Angriffs auf die iranischen Atomanlagen, in denen das Regime in Teheran Uran für den Bau einer Atombombe anreichert, sind nicht absehbar. Eine Ausweitung des Krieges würde eine Flüchtlingswelle nach Europa auslösen, gegen die die Krise von 2015 verblassen würde. Schätzungen zufolge sind im Libanon mehr als eine Million Menschen auf der Flucht, davon mehr als 100.000 nach Syrien. Es ist ein Krieg, der die globale Sicherheit bedroht und sich auf das tägliche Leben aller Menschen auswirken wird.“
EU muss Haltung beziehen
Europa zeigt sich im Nahen Osten auffällig uneins, moniert The Guardian:
„Nach monatelangen Meinungsverschiedenheiten zum Thema Waffenstillstand in Gaza ist sich die EU einig, dass es einen geben sollte, aber kaum ein Mitglied ist bereit, etwas dafür zu tun – zum Beispiel durch die Aussetzung von Waffenlieferungen an Israel. ... Auf der UN-Generalversammlung unterstützte die überwiegende Mehrheit der Länder eine Resolution, die die Meinung des Internationalen Gerichtshofs teilt, wonach Israel das Völkerrecht in den besetzten palästinensischen Gebieten einhalten muss. Europas Auftritt war erneut erbärmlich: 13 Länder stimmten dafür, 12 enthielten sich und zwei – Ungarn und die Tschechische Republik – stimmten gegen die Resolution.“
Der Ball liegt bei den arabischen Staaten
HuffPost Greece hat eine Idee, wer am ehesten etwas bewegen könnte:
„Vielleicht ist es an der Zeit, dass die arabische Welt ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und dass die Länder, die in der Region ein besonderes Gewicht haben (Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien und Katar), eine offizielle und offene Haltung einnehmen und versuchen, die Grundlagen für eine neue Realität in der gesamten Nahostregion zu schaffen. Keine der direkt beteiligten Parteien (Hamas, Israel, Hisbollah, Iran, Huthis) scheint bereit zu sein, sich an einen Tisch zu setzen und den Teufelskreis der Gewalt zu beenden.“
Teherans Hardliner erhöhen den Einsatz
Indem der Iran sich in den Konflikt einmischt, riskiert es einen Großkrieg im Nahen Osten, meint Die Presse:
„Der iranischen Führung war klar, dass eine Reaktion Israels folgen würde. Doch nach dem israelischen Luftangriff in Beirut, bei dem Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und offenbar auch ein hoher iranischer Offizier ums Leben kam, wollten die Hardliner im Regime nicht länger warten. Ihr Durst nach Rache musste gestillt werden. Zugleich fürchteten sie, nach all den erfolgreichen israelischen Aktionen gegen ihre Verbündeten langsam ihr Gesicht zu verlieren. Aber nun haben sie mit dem Angriff auf Israel den Einsatz in ihrem Machtspiel erhöht – und das könnte auch für sie gefährlich werden.“
Ohnmächtige Mullahs schlagen um sich
Iran zeigt mit diesen Angriffen nicht Stärke, ganz im Gegenteil, meint The Daily Telegraph:
„Gedemütigt durch die Enthauptung der Hisbollah, ihrer Handlanger, schlagen die Mullahs um sich – aber sie zeigen Ohnmacht, nicht Stärke; Inkompetenz, nicht Können. ... Diese klägliche, jähzornige Reaktion des Iran ist nicht in derselben Liga [wie Israels Angriffe im Libanon]. Und weil sie eine Antwort auf das Vorgehen gegen die Hisbollah ist, wird bestätigt, was jeder weiß: dass wir keinen Unterschied zwischen den Stellvertretern des Iran und seinen Revolutionsgarden machen sollten. Die Hisbollah ist im Grunde eine iranische Besatzungsarmee im Libanon, und je schneller das libanesische Volk von ihr befreit werden kann, desto besser.“
Der Showdown läuft
Für La Repubblica stellen sich zwei Fragen:
„Die erste betrifft Teheran. Die Entscheidung, Raketen auf Israel abzufeuern, wurde zweimal innerhalb von fünf Monaten vom Obersten Revolutionsführer getroffen. ... Aber repräsentiert sie wirklich das gesamte schiitische Regime oder offenbart sie nicht eher eine strategische Schwächung der Theokratie, die mit einer maroden Wirtschaft und einer unaufhaltbaren Revolte der Frauen gegen den Hidschab zu kämpfen hat? Die zweite Frage betrifft Israel. Wird es, nachdem es die Hisbollah und die Hamas erstmals seit 18 Jahren in die Defensive gedrängt hat, die Gelegenheit ergreifen, iranische Militärbasen und Atomanlagen anzugreifen, oder wird es sich für die vom scheidenden Joe Biden angemahnte Deeskalation entscheiden? ... Der Showdown zwischen dem jüdischen Staat und dem schiitischen Iran ist in vollem Gange.“
Irrsinn hat freien Lauf
Für die taz ist der Krieg schon längst entgrenzt:
„Es gab in den vergangenen Tagen israelische Luftangriffe auf Jemen und Syrien und Drohungen gegen Iran, im Gegenzug erlitt Israel Drohnenbeschuss unter anderem aus dem Jemen und Irak. Radikale Islamisten prophezeien die bevorstehende Selbstzerstörung Israels – Eiferer in Israel verbreiten Karten von einem Groß-Israel, das vom Nil bis zur iranischen Grenze reicht. Der Irrsinn hat freien Lauf. Die Welt sieht ohnmächtig einer Tragödie zu, deren Fortgang man erahnt. Noch ist das Ende offen. Bald könnte es zu spät sein.“
US-Beteiligung immer wahrscheinlicher
Večernji list fürchtet eine weitere Eskalation:
„Viele Analytiker warnten, dass der israelische Premier zum Ziel hat, Iran in den Konflikt zu ziehen, um eine Beteiligung der USA zu provozieren. ... Setzt der Iran die Angriffe auf israelische Ziele fort und Israel ersucht um militärische Unterstützung, könnten sich die USA aktiv beteiligen und Militärpersonal und -ausrüstung nach Israel schicken. Die US-Armee könnte Angriffe auf iranische Ziele durchführen und die Nato aufgerufen werden, Israel zu unterstützen. Die Beteiligung der USA würde den Konflikt schnell eskalieren lassen, vielleicht sogar mit globalen Folgen. Der Iran könnte darauf mit Angriffen auf US-Stützpunkte in der Region antworten.“
EU kann Führungsstärke beweisen
NRC erkennt eine Aufgabe für Brüssel:
„Die abwesende Haltung der USA kann zur Chance für die Europäische Union werden. Innerhalb der EU sind die Meinungen über Israel geteilt, aber eine größere europäische diplomatische Beteiligung ist dringend notwendig, vor allem da jetzt die Lage im Libanon eskaliert und das Drama im Gazastreifen andauert. Die EU ist Israels größter Handelspartner und hat noch etwas mehr Kredit in der Region als die USA. Durch die Androhung neuer Sanktionen und aktiven diplomatischen Druck auf die Hauptakteure kann EU-Außenchef Josep Borrell tun, was die USA schon seit Jahren unterlassen: Führungsstärke beweisen.“