Regierungskrise in Frankreich: Wie geht es weiter?
Frankreichs Regierung ist gleich mit zwei Misstrauensanträgen konfrontiert, über die voraussichtlich am heutigen Mittwoch entschieden wird. Sollten die linken Oppositionsparteien zusammen mit dem rechtspopulistischen RN gegen das Kabinett von Barnier stimmen, müsste Präsident Macron einen neuen Regierungschef ernennen. Dessen parlamentarische Mehrheit könnte wieder unsicher sein. Kommentatoren blicken mit Sorge auf das Land.
Den Ernst der Lage begreifen
Für Niklas Záboji, Wirtschaftskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Paris, wird deutlich, dass nicht allein Macron für alles Unheil in seinem Land verantwortlich ist:
„Vielmehr muss sich die gesamte politische Elite die Frage stellen, ob sie sich des Ernstes der Lage bewusst ist. Frankreich sitzt auf Europas höchstem Schuldenberg und muss sparen, um sich Haushaltsspielräume zu bewahren und das angekratzte Vertrauen von Ratingagenturen und Anleihemärkten nicht zu verspielen. An Warnschüssen mangelt es nicht. Und klar ist auch: Das taumelnde Frankreich ist in den kommenden Monaten noch eingeschränkter handlungsfähig als ohnehin. Das ist schlecht für Europa, das mit Blick auf die geopolitischen Herausforderungen gerade eigentlich andere Sorgen haben sollte.“
RN schneidet sich ins eigene Fleisch
Das Vorhaben des RN, die Regierung Barnier durch ein Votum für den Misstrauensantrag der Linken zu Fall bringen zu wollen, schadet der Partei, analysiert der Jurist Jean-Philippe Derosier in Le Nouvel Obs:
„Die Ernennung eines neuen Premiers und einer neuen Regierung würden den Einfluss der Partei von Marine Le Pen sicher deutlich verringern. Derzeit ist allen klar, dass die Zukunft der Regierung in ihren Händen liegt, da diese sich nur dank ihres Wohlwollens halten kann. Sie weiß dies zu nutzen, indem sie weiter pokert. Sollte in naher Zukunft eine neue Regierung ernannt werden, egal ob auf einer gemeinsamen (zweifellos linkeren) Basis oder als technische Regierung, wäre ihr Einfluss deutlich geringer oder gar auf null reduziert.“
Die Märkte wissen es besser
To Vima analysiert die Situation in Frankreich vor dem Hintergrund der Erfahrungen Griechenlands mit der Schuldenkrise:
„Die erste Phase einer negativen Situation besteht nach Ansicht der Psychologen darin, nicht zu akzeptieren, wie schwierig die Situation ist. In dieser Phase interpretiert man alle Ereignisse so, als ob sie kein Problem darstellen würden. Aber die 'verdammten' Märkte wissen es. ... Und wenn man die Kontrolle über die Situation verliert und sie den Märkten überlässt, gibt es selten noch ein Weg zurück. Selbst wenn man die zweite Volkswirtschaft in der Eurozone ist, das mächtige Frankreich. Aus den Daten der französischen Zentralbank geht hervor, dass japanische Anleger in den letzten Tagen massenhaft französische Anleihen verkauft und sicherere Häfen gesucht haben.“
Europas demokratische Kräfte sind gefordert
Für die Europäische Union kommt die französische Krise zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, schreibt El Periódico de Catalunya:
„Kurz vor dem Amtsantritt von Donald Trump und kurz bevor Deutschland wählt. ... Europa verliert an Wettbewerbsfähigkeit und hat Schwierigkeiten, sich zu erneuern. Da sind die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der beiden Pole der deutsch-französischen Achse eine schreckliche Nachricht. Die französische Krise ist auch eine Belastung für die neue Europäische Kommission von Ursula von der Leyen. ... In dieser Situation sollten die wichtigsten politischen Kräfte, die die EU getragen haben – Sozialisten, Volkspartei, Liberale und Grüne – darüber nachdenken, wie man den Populismus bekämpfen kann, der ihren Fortbestand bedroht.“
Desaströs für die Wirtschaft
Michel de Rosen, Verwaltungsratsvorsitzender des großen französischen Automobilzulieferers Forvia, warnt in Les Echos vor einem Regierungssturz:
„Die Zinssätze würden steigen. Die Finanzmärkte sorgen sich um Frankreich. Sie wissen nicht, wohin unser Land steuert. … Frankreichs Attraktivität würde schwinden. In den vergangenen Jahren, und zwar seit 2015, hat sich Frankreichs Attraktivität bei ausländischen Investoren verbessert. ... Seit der Parlamentsauflösung fragen sich die Investoren: Sollen sie woanders investieren? Sollen sie abwarten, um zu sehen, ob Frankreich weiterhin gastlich bleibt? Einige Projekte wurden bereits abgeblasen, andere verringert oder vertagt. Der Sturz der Regierung Barnier würde diese Misstrauensspirale weiter nähren.“
Eindämmung hat nicht funktioniert
Frankreichs Präsident hat kurzsichtig gehandelt, schreibt das Webportal In:
„In dem Maße, in dem Macron sich dafür entschieden hat, keine Regierung rund um die Nouveau Front populaire zu bilden, die linke Koalition, die die meisten Abgeordnetensitze gewonnen hat, beruht Barniers Regierung auf der Duldung des Rassemblement National. Das heißt, die Entscheidungen Macrons – der Parlamentswahlen ausrief, angeblich um auf das beeindruckende Abschneiden der extremen Rechten bei den Europawahlen zu reagieren – machten die extreme Rechte im Wesentlichen zum Regulator der politischen Entwicklungen. ... Was für die extreme Rechte sehr praktisch ist, denn gleichzeitig kann sie sich auf die Präsidentschaftswahlen 2027 vorbereiten, während sie ihren Anhängern mitteilt, dass es dank ihres Drucks zu konkreten Ergebnissen gekommen sei.“
Le Pen stürzt das Land in Schwarzes Loch
Die ehemalige RN-Chefin verhält sich verantwortungslos, kritisiert Le Figaro:
„Die Patronin des RN wollte immer mehr, auf die Gefahr hin, sich ihren Sieg zu vermiesen. Sie hat beschlossen, die Regierung von Michel Barnier zu Fall zu bringen. Sie wird Frankreich in große politische und finanzielle Ungewissheit stürzen. Sie setzt die Einkommensschwächsten den mechanischen Effekten eines Behelfshaushalts aus. Sie öffnet den Sozialisten einen Türspalt zum Amt des Regierungschefs, was ihre Wählerschaft nicht begeistern dürfte. … Wir brauchen einen Haushalt und etwas Stabilität. Marine Le Pen hat abenteuerliche Brüche den Vorteilen der ruhigen Kraft vorgezogen. Sie hat ihre roten Linien vervielfacht auf die Gefahr hin, Frankreich in ein Schwarzes Loch zu stürzen.“
Botschaft der Wähler nicht vergessen
Libération warnt vor weiteren Zugeständnissen Barniers an die Rechtspopulisten:
„Michel Barnier scheint zu vergessen, dass er nur aufgrund eines ganz bestimmten Ergebnisses bei den Parlamentswahlen im Juli im Matignon sitzt. Und was war die wichtigste Botschaft dieser Wahlen? Die massive Ablehnung einer Regierung mit dem RN. … Im Rahmen einer beeindruckenden 'republikanischen Front‘ stimmten Millionen von Wählern der Linken für rechte Kandidaten und Millionen von Wählern der Rechten für linke Kandidaten. Der Chef der schwachen Mehrheit sollte sich daher, wie versprochen, um die Meinung der Linken kümmern, um Mehrheiten für seine Vorlagen zu erhalten, anstatt sich dem RN zu beugen.“
Das könnte kaltes Kalkül sein
Die Galionsfigur des Rassemblement National könnte ganz persönliche Gründe für ihr Vorgehen haben und auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen setzen, mutmaßt La Stampa:
„Marine Le Pen wird beschuldigt, Gelder des Europäischen Parlaments veruntreut zu haben, und muss mit einer fünfjährigen Haftstrafe und einer fünfjährigen Sperre [dem Ausschluss vom passiven Wahlrecht] rechnen. Das Urteil wird für das Frühjahr erwartet und könnte sie daran hindern, bei den Präsidentschaftswahlen 2027 zu kandidieren. Indem sie eine Parlamentskrise provoziert und die Bildung einer neuen Regierung verhindert, könnte sie hoffen, eine Staatskrise zu provozieren (Emmanuel Macron kann das Parlament nicht vor Juni nächsten Jahres auflösen), indem sie den Rücktritt des derzeitigen Staatschefs und die Einberufung einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl in den kommenden Monaten fordert.“
Die Moral von der Geschichte
Macron hat sich das Dilemma selbst zuzuschreiben, findet La Repubblica:
„Vielleicht, wenn es erlaubt ist, in solch dramatischen Momenten eine Moral zu ziehen, hat sich sein Übermaß an programmatischem Europäismus, gepaart mit einem Mangel an pragmatischem Europäismus, letztlich gegen ihn gekehrt. Wenn es ihm gelungen wäre, wenigstens einen Teil der angekündigten Projekte zu verwirklichen, wenn er es wirklich gewagt hätte, die militärische und nukleare Vormachtstellung, die er in Europa innehat, mit seinen Verbündeten zu teilen, wären Frankreich und Europa selbst heute nicht in diesem miserablen Zustand.“