Gaza: Die ersten Geiseln sind frei – und nun?
Die zunächst sechswöchige Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas ist am Sonntag in Kraft getreten. Die Terrororganisation übergab drei israelische Geiseln, am Samstag sollen weitere freikommen. Vermutlich 95 Menschen befinden sich seit der Geiselnahme vom 7. Oktober 2023 noch in der Gewalt der Hamas. Der Vereinbarung entsprechend entließ Israel 90 palästinensische Gefangene. Erleichterung, aber auch Skepsis bei Kommentatoren.
Wiedergutmachung und Versprechen
Die Grundwerte des Staates Israel stehen noch immer auf dem Spiel, meint Eszter Korányi, Ko-Vorsitzende der israelisch-palästinensischen Zivilorganisation Combatants for Peace, in hvg:
„Wenn wir daran glauben, dass Israel geschaffen wurde, um die Juden vollumfänglich zu schützen, müssen wir sagen, dass es das nicht geschafft hat. Es hat nicht nur am 7. Oktober 2023 versagt, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten. Die Heimholung der Geiseln ist eine Wiedergutmachung und ein Versprechen. Wenn es gelingt, die anderen Menschen, die noch in Gefangenschaft sind, nach Hause zu holen, dann bedeutet das, dass es gesellschaftliche Solidarität und ein Schutznetz gibt und dass die Werte, auf denen Israel gründet, gültig sind. ... Das ist, was auf dem Spiel steht.“
Jedes Abkommen besser als dieser Krieg
Newsweek Polska ist froh, dass das Blutvergießen in Gaza beendet ist:
„Nicht jeder Krieg endet mit einem dauerhaften Frieden. Nicht jeder Frieden ist gut; manche führen zu einem noch blutigeren Krieg. Im Fall des Gaza-Krieges ist aber selbst der schlechteste Waffenstillstand besser als weiteres Blutvergießen. Mehrere Hunderttausend Palästinenser, darunter Frauen und Kinder, wurden zu Geiseln in einem Kampf auf Leben und Tod, der für keine der beiden Seiten mit einem Sieg enden konnte.“
Extremisten können noch alles torpedieren
La Stampa fragt sich, ob die Waffenruhe hält:
„Erst am 16. Tag sollen die Verhandlungen über die Bedingungen der zweiten Phase beginnen. Dieser lange Zeitraum reicht aus, um extremistischen Gruppen, sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite, die Möglichkeit zu geben, das Abkommen in den kritischsten Momenten zu schwächen und die nachfolgenden Phasen platzen zu lassen. Dies geschah bereits bei den Osloer Friedensvereinbarungen in den 1990er Jahren, als jeder Schritt in Richtung Frieden von Gegnern des Kompromisses zunichte gemacht wurde. ... Heute könnten israelische Siedler, die nur auf die Zerstörung der Hamas und die Wiederbesiedlung des Gazastreifens abzielen, und palästinensische Extremisten, die die Waffenruhe als Sieg darstellen, die Oberhand über den Friedensprozess gewinnen.“
Teuer erkauft
Dass Israel im Austausch für seine Geiseln erneut Terroristen freilassen will, so wie 2011 den späteren Hamas-Anführer Jahia Sinwar, könnte noch ein böses Nachspiel haben, schreibt Observador:
„Welcher der Männer, zu deren Freilassung sich Israel im Rahmen dieser Waffenruhe verpflichtet hat, wird der nächste Sinwar sein? Nassim Zaatari, der Mann, der für den Anschlag auf einen Bus in Jerusalem verantwortlich ist, bei dem 23 Menschen getötet wurden? Wael Qassem, der Attentäter von 2002 auf die Hebräische Universität in Jerusalem? Tabet Mardawi, der für Anschläge verurteilt wurde, bei denen 20 Israelis getötet und 150 verletzt wurden? ... Im Gegensatz zu 2011 glaubt diesmal niemand, weder das [israelische] Militär noch die Familien der Geiseln, dass diese Männer auf Waffen verzichten werden, sobald sie nach Gaza zurückkehren.“
Es braucht eine politische Perspektive
Kein echter Friedensprozess ohne internationale Unterstützung, so Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Von Anfang an war Netanjahus große Schwäche, dass er keinen Plan für den 'Tag danach' hatte. … Nun rückt dieser Tag näher und die Natur scheut das Vakuum. Wer wird Gaza kontrollieren, seine Verwaltung, seinen Wiederaufbau, seine Sicherheit? Ein Waffenstillstand ohne anschließende politische Perspektive ist die Garantie für eine Wiederholung der Schrecken, die diese Region gerade erst erlebt hat. Das Fehlen einer politischen Lösung beseitigt die Probleme nicht, sondern verschärft sie – das ist die Lehre aus Jahrzehnten der Geschichte im Nahen Osten, die viel zu lange ignoriert wurde. Die Rolle der internationalen Gemeinschaft wird wichtig sein, um diesen kleinen Hoffnungsschimmer nicht zu zerstören.“
Große Hoffnungen sind unbegründet
Die Kombination Netanjahu-Trump dämpft für Népszava die Aussicht auf Frieden:
„Die Bevölkerung auf beiden Seiten feiert und hofft, aber mit den derzeitigen Führungen gibt es keinerlei Chance auf eine langfristige Regelung. ... Trump, der für einen Helden des Abkommens gehalten wird, ist keine Garantie für eine Lösung, er war augenscheinlich nur daran interessiert, diese Trophäe am Tag seiner Amtseinführung präsentieren zu können. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat er nur von den israelischen Geiseln gesprochen, ohne ein einziges Wort über die Beendigung des Leidens der palästinensischen Zivilisten und die Beachtung ihrer Menschen- und Völkerrechte zu verlieren. Ohne Druck aus Washington und ohne einen Regierungswechsel in Israel wird der Krieg weitergehen.“
Ohne robuste Realpolitik geht es nicht
Nach der vereinbarten Waffenruhe muss der Kampf gegen die Hamas weitergehen, schreibt die Welt:
„[S]onst bleibt jeglicher Friedensversuch eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Erst wenn sämtliche Terrorzellen der Hamas aus dem Gazastreifen verschwunden sind, lässt sich über multilaterale Truppen und eine Übernahme durch eine frei gewählte palästinensische Regierung debattieren. Davor sollte man den Israelis das nötige Geschick wünschen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Im Nahen Osten kommen die Dinge leider nicht mit Wünschen und Wollen voran, sondern hauptsächlich mithilfe robuster Realpolitik.“
Mehr als ein Kriegsschauplatz
La Vanguardia setzt das Abkommen in Bezug:
„Der Gaza-Konflikt hat Israel dazu gedient, andere Fronten im Libanon und im Iran zu eröffnen, die [Netanjahu] wiederum günstige Veränderungen gebracht haben. Er hat einen Regierungswechsel in Beirut herbeigeführt und das Regime in Teheran geschwächt. Möglicherweise intensiviert Israel den Krieg mit dem Ajatollah-Regime in diesem Jahr. Unterm Strich bedeutet der Waffenstillstand nicht das Ende des Gaza-Konflikts. Netanjahu wird nicht aufhören, bis er seine Ziele erreicht hat. Das ist leider nur ein neues Kapitel.“