Deutschland steht vor der Wahl

Am Sonntag wählen die Deutschen vorzeitig einen neuen Bundestag. Die letzten Umfragen sehen die Unionsparteien CDU/CSU mit rund 30 Prozent vorne – vor der rechtspopulistischen AfD mit gut 20, der Kanzlerpartei SPD mit ca. 15 und den Grünen mit 13 bis 14 Prozent. Chancen auf den Einzug ins Parlament haben auch Die Linke (6-8 Prozent), das Bündnis Sahra Wagenknecht (4-5 Prozent) und die FDP (4-5 Prozent). Was steht für Deutschland und Europa auf dem Spiel?

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The Irish Times (IE) /

Kaum Hoffnung auf starke Regierung

Deutschland könnte eine Phase politischer und wirtschaftlicher Instabilität bevorstehen, befürchtet The Irish Times:

„Friedrich Merz' Mitte-rechts-Programm wird Bemühungen, eine Mehrheitskoalition zu bilden, erschweren. Ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor ist die Frage, wie viele kleinere Parteien die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Bundestag überwinden werden. Sollte sich Merz dazu entscheiden, eine Minderheitsregierung anzuführen, die sich mit Unterstützung von SPD und Grünen von einer Abstimmung zur nächsten hangelt, stehen Deutschland weitere Jahre des Dahintreibens bevor. ... Diese Wahl könnte es schwierig machen, eine starke Regierung zu bilden.“

Seznam Zprávy (CZ) /

Keine Zeit für Technokraten

Seznam Zprávy beurteilt die Arbeit von Bundeskanzler Olaf Scholz so:

„Er regiert technokratisch und gewissermaßen autoritär – genau wie Angela Merkel vor ihm. Dieser trockene und undramatische Stil wurde von den Deutschen lange Zeit geschätzt, aber leider reicht er angesichts zusammenbrechender Gewissheiten und großer Veränderungen nicht mehr aus. ... In Zeiten einer transatlantischen Spaltung, eskalierender geopolitischer Spannungen, der Erschöpfung des bestehenden Wirtschaftsmodells und einer Umweltkrise bräuchte Deutschland einen Anführer, der sich über diese überwältigenden Umstände erheben kann. Der gemäßigte Technokrat Olaf Scholz war das nicht. ... Doch die Nachfolge von Scholz wird es nicht einfacher haben, eher im Gegenteil. Die Krise der internationalen Ordnung eskaliert weiter.“

Tvnet (LV) /

Wohl keine Koalition mit der AfD – noch

TVnet analysiert die Aussichten der deutschen Rechtspopulisten:

„Trotz ihrer wachsenden Popularität schließen die anderen großen deutschen Parteien eine Regierungsbildung mit der AfD nach wie vor aus. Selbst wenn die AfD eine signifikante Zahl an Sitzen im Bundestag erringen sollte, wären ihre Chancen auf einen Regierungseintritt gering. ... Sollten sich die traditionellen Parteien allerdings nicht auf eine stabile Koalition einigen können, besteht die Möglichkeit, dass sich die Einstellung gegenüber einer Zusammenarbeit mit der AfD in Zukunft ändern könnte – vor allem, wenn deren Popularität weiter steigt.“

Libération (FR) /

Prüfung für deutsche Widerstandsfähigkeit

Die Wähler stimmen indirekt auch über die neue US-Politik ab, erläutert Libération:

„Der internationale Hintergrund, vor dem die Bundestagswahl an diesem Wochenende stattfindet, macht sie noch entscheidender als ohnehin schon. … Am Sonntag wird insbesondere der Aufstieg der extremen Rechten genau beobachtet werden. Denn das Ergebnis der AfD wird neben der innenpolitischen Komponente, insbesondere in der Migrationsfrage, auch als Indikator dafür gelten, wie widerstandsfähig Deutschland gegenüber den düsteren politischen Strömungen aus den USA ist - denn Elon Musk und Vizepräsident J.D. Vance haben der deutschen Rechtsaußenpartei ihre Unterstützung ausgesprochen.“

G4Media.ro (RO) /

USA hoffen auf die Rechten

In Washington erwartet man das Ergebnis gespannt, ist auch G4Media überzeugt:

„Vertreter der Trump-Administration haben sich vor der Wahl offen auf die Seite der extremistischen AfD gestellt, denn eines der Ziele des US-Präsidenten ist es, die Solidarität innerhalb der EU zu schwächen, indem man Parteien unterstützt, die auf Abschottung setzen. Wenn die Wahl eine solide Pro-EU-Mehrheit bestätigt, dann wird Deutschland weiterhin als Motor der Union gelten. Wenn dagegen die AfD zu einer Partei wird, an der bei der Bildung einer Regierungskoalition kein Weg vorbeiführt, werden die USA ein neues politisches Druckmittel in der EU haben.“

Financial Times (GB) /

Weg mit der Schuldenbremse!

Die darniederliegende deutsche Wirtschaft wird sich nur dann erholen, wenn die nächste Regierung Investitionen im großen Stil ermöglicht, meint Financial Times:

„Deutschland hatte zuletzt zwei Jahre in Folge ein negatives Wirtschaftswachstum. Das Land schnitt damit schwächer ab als die USA und sogar als die Eurozone in deren Gesamtheit. Diese düstere Lage erfordert marktorientierte Reformen zur Förderung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit sowie die Abschaffung der ultravorsichtigen, verfassungsmäßig verankerten Schuldenbremse, die Investitionen verhindert. Die wesentlichen Parteien sind geneigt, diesen Schritt zu gehen, doch das Zögern des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz gibt Anlass zur Sorge.“

Český rozhlas (CZ) /

SPD klammert sich an letzten Strohhalm

Bundeskanzler Scholz versucht im Wahlkampf-Finale die Glaubwürdigkeit von CDU-Chef Merz infrage zu stellen, beobachtet Český rozhlas:

„Merz hat dieser Tage unzählige Male öffentlich erklärt, dass er nach der Wahl nicht die Absicht habe, direkt oder indirekt mit der AfD zusammenzuarbeiten. Die regierenden Sozialdemokraten, die scheinbar keine Chance haben ihren Sieg von 2021 zu verteidigen, säen weiterhin Zweifel. Auf den letzten Metern ist ihr Wahlkampf endgültig monothematisch geworden, richtet er sich doch ganz gegen Merz persönlich aus. Die SPD tut dies im vollen Bewusstsein, dass sie wohl mit ihm über die künftige Regierung verhandeln muss. Von außen mag das kurzsichtig erscheinen, aus der Perspektive eines Ertrinkenden, der nach Strohhalmen greift, ist es aber einigermaßen verständlich.“

La Vanguardia (ES) /

Das Land braucht kollektive Wiederbelebung

La Vanguardia sieht enorme Herausforderungen:

„Trotz all der Parolen der AfD ist das besorgniserregendste Problem Deutschlands derzeit vielleicht gar nicht die Einwanderung, sondern die Identitätskrise, weil das deutsche Wunder schwächelt; die Autoindustrie, die für sechs Prozent des BIP und 870.000 direkte Arbeitsplätze verantwortlich ist, hat mit Trumps Zöllen und der chinesischen Autoindustrie zu kämpfen. ... Diese Industriekrise wird wahrscheinlich schwieriger zu überwinden sein als die gesellschaftliche. ... Der Wahlsieger muss sich darüber im Klaren sein, dass er vor allem das Land aufrichten und das Vertrauen wiederherstellen muss. Und das in einem Europa, das so einsam ist wie nie zuvor. ... Deutschland braucht eine echte kollektive Wiederbelebung, um zu seiner Bestform zurückzukehren.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Moskau stellt sich auf das Schlimmste ein

Radio Kommersant FM erwartet, dass sich die deutsch-russischen Beziehungen unter einem Kanzler Merz verschlechtern werden:

„Im schlimmsten Fall lässt Merz seinen Worten Taten folgen und setzt sein Wahlprogramm um, ohne auf die SPD Rücksicht zu nehmen, die traditionell eine ausgewogenere Politik gegenüber Moskau verfolgt. In diesem Fall erhöht Deutschland drastisch seinen Militäretat (zunächst auf bis zu 3 Prozent des BIP, was Scholz ablehnt), stockt die Hilfsleistungen für Kyjiw weiter auf, nähert sich in der Frage der Entsendung europäischer Truppen in die Ukraine London und Paris an und unterstützt in Brüssel die maximal möglichen antirussischen Sanktionen, wobei es sich hierbei mit Polen und den baltischen Staaten verbündet.“