Wo steht Europa in einer umformatierten Welt?

"Der Westen" scheint nicht mehr wie gehabt zu existieren: Die jüngste Abstimmung im UN-Sicherheitsrat, die Vance-Rede in München, neue Zölle und die Wiederbelebung der russisch-amerikanischen Beziehungen haben gezeigt, wie sehr die USA unter Präsident Trump ihre internationale Politik umkrempeln. Die Medien erörtern, welche Konsequenzen Europa daraus ziehen sollte - und wo sich neue Partner anbieten.

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Élet és Irodalom (HU) /

Endlich politische Führungsmacht

Europa trägt nun große Verantwortung, meint der ehemalige ungarische Finanzminister Lajos Bokros in Élet és Irodalom:

„In den kommenden vier Jahren wird die Rolle der EU und der europäischen Nato-Mitglieder in spektakulärer Weise aufgewertet werden. ... Es wird vor allem vom Verhalten der europäischen Länder – und natürlich dem von Japan, Südkorea, Kanada, Australien usw. – abhängen, ob von der regelbasierten westlichen Weltordnung etwas übrig bleibt, bzw. ob sie je wiederhergestellt werden kann. Europa bekommt jetzt das, wonach es sich lange gesehnt hat: die Rolle des zivilisierten und verantwortungsvollen politischen Anführers der freien Welt. Ihm fällt diese riesige Chance in den Schoß, aber auch die damit verbundene historische Verantwortung. Wir können nur hoffen, dass es sich in der Lage zeigt, sie zu ergreifen.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Es geht um Einflusssphären

Trump und Putin haben für die bestehende Weltordnung nichts übrig, betont der Politologe Ulrich M. Schmid in der Neuen Zürcher Zeitung:

„König Donald und Zar Wladimir verbindet eine prekäre Bromance. Beide denken in Einflusssphären. Die Souveränität von Nachbarstaaten ist für Trump und Putin das Resultat einer historischen Fehlentwicklung, die sie nicht hinnehmen wollen. Die EU mit ihren 450 Millionen Menschen ist ein Konstrukt, das in Washington und Moskau wenig gilt. Trump und Putin wollen nur bilaterale Kontakte mit den europäischen Hauptstädten. Ihre grosse Chance erblicken sie im Ausnutzen und Verschärfen innereuropäischer Konflikte. Trumps einziges Interesse an Europa ist der Ausgleich der Handelsbilanz.“

Daily Sabah (TR) /

Ein militärisch starker Partner steht bereit

Europa sollte die sicherheitspolitische Kooperation mit der Türkei vertiefen, schlägt Daily Sabah vor:

„Insbesondere Trumps Sichtweise in der Ukraine-Frage hat den europäischen Ländern gezeigt, dass die USA jeden Verbündeten in einer Krise allein lassen können. ... Verständlicherweise sind die europäischen Länder nun skeptischer gegenüber dem Sicherheitsschirm der USA. Letztlich müssen sie andere Alternativen für die Zukunft ihrer jeweiligen nationalen Sicherheiten finden. Die Türkei mit ihren gestiegenen militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten und ihren effektiven Investitionen in die Verteidigungsindustrie ist eine dieser alternativen regionalen Kräfte, an die sich Europa in naher Zukunft erinnern könnte.“

La Repubblica (IT) /

China reicht Europa die Hand

La Repubblica ruft die Worte von Chinas Außenminister Wang Yi auf der Münchner Sicherheitskonferenz in Erinnerung:

„Er schloss mit einem Appell an die Europäer, die noch immer von den harschen Worten des US-Vizepräsidenten J.D. Vance traumatisiert sind, sich zur Zusammenarbeit mit China zu verpflichten, um die Komplexität der internationalen Konjunktur gemeinsam zu bewältigen. Ein Appell, vielleicht vage im Inhalt, aber klar in der Absicht. Angesichts der epochalen Umwälzungen, die durch die Sprengstoff bergenden Initiativen der neuen US-Regierung ausgelöst wurden, haben die Chinesen und die Europäer ein gemeinsames Interesse daran, nach Konvergenz und Gründen für eine Zusammenarbeit zu suchen. Und China präsentiert sich als zuverlässiger und beruhigender Gesprächspartner.“

Le Temps (CH) /

Russland ist und bleibt ein Nachbar

Europa darf sich einem Dialog mit Moskau nicht verweigern, warnt Le Temps:

„Egal wie es weitergeht, es wird notwendig sein, mit Russland Regeln für ein Zusammenleben auf unserem Kontinent zu vereinbaren. Unter diesen Umständen bedeutet eine Verweigerung jeglichen Dialogs, Besuchs und Verständnisses für die Sichtweise des Gegners, wie sie Europa bisher stur gezeigt hat, dass es sich selbst davon ausschließt, Teil der Lösung zu sein. Indem Europa einen radikalen Ansatz predigte, den es sich nicht leisten kann, hat es sich von vornherein jeder Vermittlerrolle beraubt. ... Auch wenn Donald Trump einen großen Anteil an der aktuellen Katastrophe hat, sind die Europäer sicherlich auch nicht ganz unschuldig.“

Visão (PT) /

Zeit, sich zu trennen

Europa muss nun konsequent die Trennung von den USA vollziehen, fordert Visão:

„Seit der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus sind Europa und die USA de facto getrennt. Die Unterschiede zwischen beiden Seiten werden immer deutlicher, man ist sich in fast allem uneinig und hat eigentlich kein Interesse mehr an einer weiteren Zusammenarbeit. Europa darf sich nicht länger mit dem Trugbild eines Bündnisses mit oder den Schutz durch die USA täuschen. ... Es ist an der Zeit, mit der Trennung zu beginnen – wie es der nächste deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz anmahnt, der davon ausgeht, dass seine 'absolute Priorität' darin besteht, die 'Unabhängigkeit von den USA' zu gewährleisten.“

hvg (HU) /

Schnell auf Machtvakuum reagieren

In manchen Teilen der Welt muss Europa die USA ersetzen, meint hvg:

„Trumps Amerika will nicht mehr besser und sympathischer sein als Russland oder China. Das Aufbauwerk vergangener Jahrzehnte ist in Gefahr. ... Wo sich die USA zurückziehen, drängen andere Mächte in das Vakuum. An den glücklichsten Orten wird es die EU sein – sofern sie sich binnen eines Jahres zusammenreißt und erkennt, dass sie sowohl USAID als auch CIA und das FBI ersetzen muss. Anderswo werden China und Russland eindringen und sich nehmen, was sie können. Wie das Amerika großmachen soll, weiß Trump selbst nicht.“

Corriere della Sera (IT) /

Not schweißt EU und UK wieder zusammen

Corriere della Sera spekuliert:

„Vergessen wir den Brexit. Das Vereinigte Königreich kommt zurück, und die EU rückt davon ab, London für die Trennung von 2016 blechen zu lassen. Natürlich wird es nicht um die Rückkehr Großbritanniens in die Paläste von Brüssel gehen. Und es wird auch keine plötzliche Innigkeit geben. Aber vielleicht einen solideren Pragmatismus, zu dem Donald Trump beide Seiten des Ärmelkanals zwingt. ... Die Wiederaufnahme einer starken Beziehung zwischen der EU und Großbritannien ist eine der ersten Auswirkungen der neuen transatlantischen Realität.“