Erdoğan-Gegner festgenommen: Was ist in der Türkei los?
Trotz Versammlungsverbots haben auch am Donnerstag Tausende Menschen in Istanbul gegen die Festnahme von Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu und die Aberkennung von dessen Hochschulabschluss protestiert. Sie sehen darin einen Versuch von Präsident Erdoğan, seinen gefährlichsten Konkurrenten auszuschalten. Die oppositionelle CHP will Imamoğlu am Sonntag zu ihrem Präsidentschaftskandidaten 2028 küren, ein Diplom ist Voraussetzung dafür.
Auf die Barrikaden oder in den Bau
Gegen ein solches Vorgehen der Regierung kann man sich nur noch auf der Straße wehren, kommentiert Evrensel:
„Nur der Zusammenhalt der Opposition kann eine Regierung in die Knie zwingen, die eben diesen Zusammenhalt fürchtet und mit ihren Panzern, Kanonen und der Justiz dagegen schießt. Eine Regierung, die den Teil des Volkswillens anerkennt, der ihr passt, und den Teil, der ihr nicht passt, nicht anerkennt, lädt die Menschen zu einem Kampf außerhalb der Wahlurnen ein. Wenn Sie diesen Putschversuch als Provokation bezeichnen und starke Proteste auf der Straße als 'anderen auf den Leim gehen' ansehen, dann bleiben Sie zu Hause sitzen und warten Sie auf den Morgen, an dem man Sie abholen wird!“
Vom Machthunger erdrückt
Die Festnahme von Imamoğlu ist für die Wirtschafts-Professorin Özge Öner in einem Gastbeitrag für Svenska Dagbladet der jüngste Beweis für die Schieflage der Türkei:
„In den letzten zehn Jahren haben wir erlebt, wie Anstand und Rationalität aus der politischen Sphäre verschwunden sind. Die Fassade der Demokratie hat Risse bekommen und ein System offenbart, das auf Vetternwirtschaft, Eigennutz und Autoritarismus beruht. Wir leben heute in einer Türkei, in der politische Gegner als 'Terroristen' und 'Kriminelle' abgestempelt, Journalisten zum Schweigen gebracht und abweichende Meinungen im immer festeren Griff nach der Macht erdrückt werden. Es ist ein Land, in dem der unstillbare Machthunger von Erdoğan den Begriff der Legitimität entstellt hat.“
Schicksal der Proteste hängt von Imamoğlu ab
24tv.ua versucht den Blick in die Zukunft:
„Das Potenzial des 'türkischen Maidan' bleibt zurzeit noch unbekannt. ... Es könnte sich ein 'georgisches Szenario' entwickeln, wo sich die Regierung entschied, einfach abzuwarten, und davon zu profitieren scheint. Aber die Georgier hatten keinen Anführer. ... Die Türken hingegen haben einen Anführer, nämlich Ekrem Imamoğlu (die CHP hat bereits angekündigt, dass sie ihn trotz der Aberkennung seines Hochschulabschlusses und der Festnahme am 23. März zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ernennen wird). Das Schicksal der Proteste wird also davon abhängen, wie er in den kommenden Tagen handeln wird. Für den Moment haben die Proteste den Präsidenten eindeutig durcheinandergebracht und einfache Menschen ihre eigene Stärke erkennen lassen.“
Einst war Erdoğan in seiner Rolle
Diena blickt zurück:
„In der Türkei werden Parallelen zwischen den jüngsten Ereignissen und jenen der späten 1990er Jahre gezogen, als Kemalisten den damaligen Bürgermeister von Istanbul, Erdoğan, wegen der Verbreitung islamistischer Ideen verhafteten. Diese Verhaftung machte Erdoğan äußerst populär und ermöglichte wenig später seinen Wahlsieg. Nun hoffen Imamoğlus Anhänger, dass sich das Szenario wiederholt. ... Die Proteste kann der derzeitige Präsident aufgrund seiner Kontrolle über die Machtstrukturen wohl unterdrücken. ... Allerdings verspricht die Absicht, Istanbul unter externe Verwaltung (Kayyım) zu stellen, verbunden mit wachsenden wirtschaftlichen Problemen und der Ermüdung der Bevölkerung durch imperialistische Pläne aller Art, der Türkei zunehmende Instabilität.“
Trumps Schamlosigkeit macht Schule
Dass Erdoğan gerade jetzt so reagiert, dürfte kein Zufall sein, schreibt der Spiegel:
„Schon jetzt lässt sich beobachten, wie Trumps Schamlosigkeit Schule macht, nicht nur in der Türkei. In Israel fühlt sich Premier Benjamin Netanyahu ermutigt, den Krieg in Gaza erneut aufzunehmen, womöglich mit noch größerer Härte. ... Und Russlands Diktator Wladimir Putin fühlt sich weniger denn je genötigt, in seinem Feldzug gegen die Ukraine Kompromisse zu machen ... . Die USA waren in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Ordnungsmacht. Durch den Rückzug unter Trump bleiben Unordnung, Chaos, Anarchie. Es ist ein Umfeld, wie geschaffen für Gewaltherrscher wie Putin und Erdoğan.“
Fragwürdiger Partner für EU und Nato
Die Festnahme schwächt die Türkei in einem kritischen Moment, findet El Mundo:
„Die Verhaftung des bekanntesten Vertreters der türkischen Opposition verschärft Erdoğans autoritären Kurs und bringt die Türkei in die Nähe der Autokratien, die die Demokratie bekämpfen. ... Auch wenn Imamoğlu von einem Richter des Terrorismus und der Korruption beschuldigt wird, ist die Gewaltenteilung in der Türkei so geschwächt, dass die Verhaftung nur als Angriff Erdoğans auf seinen Hauptkonkurrenten für die Präsidentschaftswahl 2028 gedeutet werden kann. ... Die Inhaftierung droht die Türkei politisch und wirtschaftlich zu schwächen, und zwar zu einem heiklen Zeitpunkt: Europa und die Nato brauchen das Land als verlässlichen Partner, um den Rückzug der USA auszugleichen.“
Nichts kann diese Regierung noch retten
Erdoğan und Co. kämpfen mit allen Mitteln um ihr Überleben, kommentiert Birgün:
„Dies ist ein Staatsstreich aus der Hand der Regierung. Sie wollen alle Hindernisse aus dem Weg räumen, um das Regime zu konsolidieren und Erdoğan wiederwählen zu lassen. ... Diese Regierung hat dem Land nichts mehr zu bieten. Sie hat keine Chance, politisch zu überleben. ... Es ist für sie unmöglich, wieder auf die Beine zu kommen, die Dinge wieder zum Laufen zu bringen oder dem Volk auch nur Hoffnung zu geben. Selbst wenn alle Oppositionellen festgenommen und verhaftet werden, wird sich daran nichts ändern. ... Das Gute wird über das Böse siegen, die Demokratie über die Tyrannei, das Volk über das Ein-Mann-Regime.“
Ankara nutzt die Gunst der Stunde
Financial Times sieht den Schritt im Kontext aktueller Überlegungen, dass EU und Türkei stärker zusammenrücken sollten:
„Die Kritik aus Europa wird gedämpft ausfallen. Denn dort besteht die Hoffnung, dass es einen spürbaren türkischen Beitrag zur Verringerung der sicherheitspolitischen Abhängigkeit des Kontinents von den USA gibt. Solche Überlegungen kombiniert mit Trumps Rückkehr ins Weiße Haus könnten den Erdoğan-Apparat tatsächlich davon überzeugt haben, es sich leisten zu können, einen Rivalen ins Visier zu nehmen. … Ein weiterer demokratischer Rückschritt in diesem 85-Millionen-Einwohner-Land wäre ein trauriges Zeichen dafür, wie Trump 2.0 die globalen Beziehungen auf den Kopf stellt – und autoritäre Führer stärkt.“
Die ewige Präsidentschaft ist das Ziel
Erdoğan will der Opposition Stimmen kurdischer Wähler abspenstig machen, argumentiert der Türkei-Korrespondent des Tages-Anzeigers, Raphael Geiger:
„Sein Spiel geht so: Er hat einen Friedensprozess mit der kurdischen PKK-Miliz begonnen, viele kurdische Wähler neigen dem beliebten Imamoğlu zu. Sollte die CHP nicht Imamoğlu aufstellen, sondern zum Beispiel den Bürgermeister von Ankara, den eher nationalistischen Mansur Yavaş, dann könnte die CHP die Unterstützung der Kurden verlieren. Manche kurdische Wählerinnen und Wähler würden Erdoğan vorziehen, der ihnen Frieden verspricht. Es ist die ewige Präsidentschaft, die Erdogan so sucht. Und es sind Taktiken wie diese, mit denen er sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht hält.“
Es dürfte das übliche Prozedere folgen
Von Brüssel erwartet die Frankfurter Rundschau nichts:
„Europa [ist] mehr denn je auf Erdoğan angewiesen. Nach dem Wegfall der USA als zuverlässigem Partner brauchen die europäischen Nato-Staaten an ihrer Südostflanke die Türkei, die die zweitgrößte Armee in dem Verteidigungsbündnis stellt. Die Türkei beherbergt zudem Millionen Flüchtlinge, von denen befürchtet wird, sie könnten weiter nach Europa ziehen. So kommt es auch dieses Mal wieder zum üblichen Prozedere: EU-Staaten wie Deutschland kritisieren Erdoğans Vorgehen, worauf dieser in der Regel mit Vorwürfen an die Adresse der Europäer reagiert. Nach verbalen Schlagabtauschen geht man dann wieder zum Alltag über.“
Vom Reformer zum Autokraten
Erdoğan stand einst für ganz andere Werte, blickt Naftemporiki zurück:
„Wie viel sich in 22 Jahren ändern kann. Als die AKP 2002 an die Macht kam, setzte sie fünf Reformpakete durch, darunter die Minderheitenrechte und das Justizsystem. In seinen ersten zwei Jahren an der Macht hatte der damalige 'Reformer' Erdoğan alle Bedenken hinsichtlich der Bedeutung des politischen Islams weitgehend beiseitegeschoben und die Türkei zu einem 'Modell' für demokratische Staatsführung in der muslimischen Welt gemacht. In den letzten Jahren ist der Staatschef immer mehr in den Autoritarismus abgerutscht.“