EU-Parlament verliert Geduld mit Türkei
Nach dem Votum des EU-Parlaments für die Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei droht Präsident Erdoğan damit, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen. Welche Konsequenzen hat der Streit für die Beziehungen zwischen Ankara und der EU?
Bald gibt es auch türkische Flüchtlinge
Erdoğan wird seine Drohung wahrmachen, fürchtet die Frankfurter Rundschau:
„Die Annahme, Diplomatie habe etwas mit vornehmen Ausdrucksweisen und Zurückhaltung zu tun, muss aus einer anderen Epoche stammen. Seit einiger Zeit wird gepöbelt und von Staatsbänken gewütet. So darf man die Drohung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Grenzen gen Westen für Flüchtlinge zu öffnen, als weiteren Versuch werten, die Empörung gegenüber jedweder Kritik in Wallung zu halten. ... Die Beziehungen zur Türkei bleiben beschädigt. Deutschland und die EU werden sich darauf einstellen müssen, dass das Flüchtlingsabkommen nicht mehr lange bestehen wird. Der Wüterich vom Bosporus denkt sich das als Strafe für eine Union, die die Türkei seit jeher auf Distanz gehalten hat. Den Schaden hat vor allem die türkische Zivilgesellschaft. Die Flüchtlingszahlen werden steigen. Unter den Fliehenden werden Türken sein, die in ihrem Land wirtschaftlich darben und politisch verzweifeln.“
Westen ist das falsche Feindbild
Der Graben hat sich seit Jahren durch ein falsches Verständnis von der EU in der Türkei vertieft, analysiert Hürriyet Daily News:
„Der Westen wurde nie für seine Werte geliebt oder gehasst, sondern für seine Macht. Der Groll gegenüber dem Westen spiegelte immer auch die Unzufriedenheit wider, die seine Macht über andere hervorrief. ... Das Problem ist, dass die Mehrheit in der Türkei und anderswo die 'westlichen Werte' Demokratie, Menschenrechte und Freiheit mittlerweile als Waffe wahrnimmt, um die eigene Position zu schwächen. Das wahre Problem ist, dass wir nicht erkennen, dass es auch im Interesse unserer nicht-westlichen Gesellschaft wäre, solche Werte zu umarmen, um eine friedliche und prosperierende Zukunft zu schaffen. ... [Die Herrscher der Türkei] haben nie verstanden, dass sie genug Macht erlangen konnten, um zu herrschen, aber daran scheiterten, eine komplizierte Gesellschaft zu regieren.“
Gespräche dürfen nicht abreißen
Ungeachtet der Probleme zwischen der EU und der Türkei dürfen die Gespräche nicht abgebrochen werden, mahnt Kaleva:
„Jahrelang wurden die Beitrittsverhandlungen ohne merkliche Fortschritte geführt. In der EU hat man sich schon gefragt, wie ernst es der Türkei mit einem EU-Beitritt ist. Auch in der Türkei wird überlegt, ob die EU die Verhandlungen ernst nimmt. Die EU und die Türkei sind aber [in der Flüchtlingsfrage] voneinander abhängig. Ein Abbruch der Gespräche wäre nach jahrzehntelanger Annäherung ein herber Rückschlag. ... Die Menschenrechtsverstöße der Türkei sind zu verurteilen. Ein Aussetzen der EU-Beitrittsverhandlungen wäre aber dennoch schädlich. Es muss an Gesprächen festgehalten werden. Zu überlegen wäre auch, ob die Beziehungen auch anders entwickelt werden können, als nur mit dem ewigen Lockmittel der EU-Mitgliedschaft.“
Wendet sich Erdoğan endgültig ab von Europa?
Ein Bruch mit der Türkei infolge der Forderung der EU-Abgeordneten könnte schwerwiegende Folgen haben, konstatiert Ouest France:
„Sich von Erdoğan abzuwenden, heißt auch zu riskieren, dass sich der Gatekeeper gegenüber den Flüchtlingsströmen laxer verhält. Das beunruhigt sowohl Berlin als auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Der türkische Präsident plant außerdem ein Referendum über den EU-Beitritt für den Fall, dass von Brüssel kein Signal kommt. Eine solche Abstimmung hätte den Vorteil, dass die Beziehung zwischen den Europäern und Ankara endlich von der Illusion eines möglichen Beitritts befreit würde. Wie Erdoğan verlauten ließ, könnte das Votum die Türkei aber auch dazu veranlassen, sich stärker Moskau und Peking zuzuwenden. ... Die Türkei ist ein wichtiger Akteur mit Blick auf das Schicksal des Iraks und Syriens. Und Erdoğan geht es nur um eins: Er will sich an der Macht halten.“
Abgeordnete haben nichts aus Geschichte gelernt
Die Forderung des EU-Parlaments wird einen Bumerang-Effekt haben, glaubt Hürriyet:
„Indem man die Rechts- und Freiheitsverletzungen der türkischen Regierung bestrafen will, verletzt man zugleich den Stolz des türkischen Volks. ... Wenn die EU-Parlamentsmitglieder auf diese Weise Präsident Erdoğan und die AKP-Regierung wieder 'auf Linie' bringen wollen - auch wenn im heutigen Europa unklar ist, was diese Linie eigentlich sein soll - dann träumen sie. Erdoğan verkündete schon vor der Entscheidung, dass diese keine Bedeutung haben werde. ... Falls die EU-Abgeordneten glauben, dass sie mit dem Einfrieren der Verhandlungen dafür sorgen, dass das türkische Volk sich gegen seine Regierung auflehnt, dann haben sie aus der Geschichte nichts gelernt. Die Wut wird sich gegen sie selbst richten.“
Parlament treibt EU in den Selbstmord
Kein Verständnis für den Türkei-Beschluss des Europaparlaments hat Sme:
„Die Abstimmung ist Ausdruck von Inkompetenz in den großen Weltfragen. Darüber, dass die Türkei nicht einmal das Minimum an Anforderungen an einen Beitragskandidaten erfüllt, muss man keine langen Debatten führen. Das Land wird auch bis 2050 nicht aufgenommen werden. Das weiß jeder, nur nicht dieses Parlament. ... Und zweitens: Die Abstimmung ist ein Russisch Roulette mit Europa, da der Deal mit Erdoğan das einzige funktionierende Instrument gegen die destabilisierende Migration darstellt. Erdoğan ist nicht berechenbar. Wenn er den Pakt mit Merkel aufkündigt, dann hat das EU-Parlament nichts Geringeres versucht, als dem Selbstmord Europas zu assistieren.“
Ankara hat längst andere Partner gefunden
Eine Aussetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei würde den türkischen Präsidenten vollkommen kalt lassen, prophezeit Adevărul:
„Auf welche Machtbasis setzt Erdoğan, dem offenbar völlig egal ist, was die Europäer sagen und sich extrem irritiert davon gibt, mit welcher 'Herablassung' sein Land von Brüssel behandelt wird, wo sich doch die Türkei seit elf Jahren in den Beitrittsverhandlungen mit der EU engagiert? Ganz einfach: Übereinstimmende Quellen sagen, dass er auf seinen alten Wunsch, einen anderen Partner als die EU zu finden, eine Antwort gefunden hat, die für ihn mehr als ermutigend ist. Der türkische Präsident sagte wiederholt: 'Warum sollte die Türkei nicht zur [von China und Russland angeführten] Shanghai Five-Gruppe gehören?' … Die entscheidende Frage ist: Wären die europäischen Anführer gewappnet, käme es zu diesem absolut spektakulären Schritt?“
Verrat an Millionen von Türken
Ein Abbruch der Verhandlungen wäre ein Verrat an den freiheitlich gesinnten Bürgern des Landes, meint der Tagesspiegel:
„Wer die Türkei endgültig aus Europa ausschließt, trifft Millionen von Türken, die Europa zugewandt sind. Er machte ihre Hoffnungen zunichte, Teil einer aufgeklärten, von humanistischen Werten geprägten Weltregion bleiben zu können, der sie sich heute schon zugehörig fühlen. Und er liefert schließlich Erdoğan auch die ihm gerade passend kommende Ausrede für die Gründe sich anbahnender wirtschaftlicher Probleme der Türkei. An denen wäre dann die EU schuld, nicht etwa seine eigene, sprunghafte, von Rachegefühlen geprägte Außen- und Militärpolitik.“
Der Westen versteht Erdoğan einfach nicht
Erdoğan hat am Mittwoch verkündet, die Entscheidung des EU-Parlaments habe keine Bedeutung für sein Land. Denn der Westen verkennt, dass Erdoğan eine neue Welt errichtet, betont die regierungsnahe Tageszeitung Star:
„Diese neue Welt wird die islamische Welt sein. Es ist klar, dass man Erdoğan auf allen Straßen dieser Welt mit offenen Ohren lauschen wird. Denn diese Welt hat genug davon, immer das Opfer zu sein. Die Türkei erachtete unter der Führung von Erdoğan auch die Beziehungen zum Westen als wichtig. ... Doch wenn der Westen will, dass der Islam weiter in seinem halb offenen, halb versteckten kolonialen Status verbleiben soll, ist dies nicht länger tragbar. Seit einer Weile hat in dieser Region die 'Wiederauferstehung' begonnen, und Tayyip Erdoğan ist ihr Sprecher. Der Westen ist gezwungen, eine menschlichere Kommunikation zu entwickeln. Diese Region wird nicht zustimmen, dass man Tayyip Erdoğan in die Knie zwingt.“