Was 50 Jahre nach 1968 bleibt
Vor 50 Jahren erlebten viele Länder den Höhepunkt von Studenten- und Bürgerrechtsbewegungen. Die sogenannten 68er setzten sich in Westeuropa ein für Demokratie, gesellschaftliche Freiheit, Emanzipation und Umweltschutz. Im Prager Frühling mussten Bürgerrechtler beim Versuch einer Demokratisierung des kommunistischen Systems vor sowjetischen Panzern kapitulieren.
Antikommunismus blockiert Geschichtsaufarbeitung
In der Debatte um den Prager Frühling 1968 wird übersehen, dass damals eine liberale Zivilgesellschaft im Ostblock entstand, kritisiert Právo. Diese Einseitigkeit sei einer wahrhaften Erinnerungskultur abträglich:
„Der Prager Frühling wird immer in einem Atemzug mit der übrigen Zeit der kommunistischen Ära genannt und so auch geschichtlich erforscht. Doch der Versuch, ihn wie jede andere Epoche in der Ära des Totalitarismus zu behandeln, stellt einen Fehltritt des politischen Antikommunismus in Tschechien dar, der die Geschichte nur schwarz-weiß malt. Wie aber sollen Lehrer so den Schülern erklären, wie es möglich war, dass es damals einen so lebhaften intellektuellen Diskurs gab und so viele positive literarische, filmische oder andere künstlerische Werke entstanden, die sich bis heute nicht überlebt haben?“
Extremisten stets zum Scheitern verurteilt
Die Beschäftigung mit dem Prager Frühling macht deutlich, auf welche Widerstände auch heutige autoritäre politische Praktiken treffen können, meint Financial Times:
„Der Prager Frühling kann uns einiges lehren. Zum Beispiel, dass auf Dogmen aufbauende Ideologien und politische Praktiken die Saat des eigenen Niedergangs beinhalten - ganz gleich, ob es sich dabei um den Kommunismus im Stil der 1960er Jahre oder die intoleranten Leitlinien der heutigen radikalen Linken und Rechten handelt. Sie schlagen ungeeignete Maßnahmen zur Lösung komplexer Probleme moderner Gesellschaften vor. Sie schüchtern Kritiker ein, verhöhnen Fachleute und degradieren die Vernunft. So erzeugen sie wirtschaftliche Ineffizienz, soziale Spannungen und politische Unzufriedenheit.“
Der zweite Frühling der Völker
Dass 1968 nicht nur durch die Studentenbewegungen in Westeuropa geprägt war, sondern auch unter anderem durch die Niederschlagung des Prager Frühlings, daran erinnert El País:
„Manche Gelehrte ziehen Parallelen zwischen 1848 und 1968. Es gab Ausbrüche in verschiedenen Orten Europas, eine Reihe von Revolten gegen Absolutismus und Autoritarismus, die anscheinend untereinander in keinem Zusammenhang standen und doch viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Marx versuchte zu beweisen, dass die Vorgänge im ersten der genannten Jahre in ein gemeinsames Schema passten und dass es sich um eine Art 'Frühling der Völker' handelte. Nach dem tschechischen Experiment eines Sozialismus menschlichen Antlitzes war das magische Jahr 1968 noch nicht vorüber. Nur Wochen später, an einem vom europäischen Schauplatz weit entfernten Ort, wurden die rebellierenden mexikanischen Studenten massakriert.“
Erste Samen wurden in den USA gesät
Die linke Zeitung Birgün gedenkt der Ereignisse, die in die 68er-Bewegung mündeten:
„Die ersten Samen der 1968er-Generation wurden bereits in den 1940er Jahren in den USA gesät. Die ersten Studentenproteste, die die 1960er Jahre prägten, beginnen zu der Zeit, als die Schwarzen vom Land in die Städte ziehen. Eine Studentengeneration stellt unter Beweis, dass man sich nicht nur auf den Straßen, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene gegen die etablierte Ordnung stellen kann. Die Menschen lassen ihre Wut heraus gegenüber bestehenden Hierarchien, der Autorität, der kalten rationalen Vernunft, der Gesellschaft, in der sie leben. Eine Gesellschaft, die die Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit ignoriert, die sie selbst geschaffen hat.“
Neue Rechte als Spiegelbild der 68er-Generation
Zwischen der 68er-Generation und der heutigen neuen Rechten gibt es Parallelen, findet NRC Handelsblad:
„Da ist der Ruf nach mehr Demokratie. Durch den Multikulturalismus und die EU haben wir immer weniger zu sagen zur Zukunft unseres Landes, sagen sie [die neuen Rechten]. ... An der 'Stimme des Volkes' ist ihnen sehr gelegen, am Rechtsstaat weniger: Rechtspopulist Wilders etwa will in den Niederlanden die Religionsfreiheit abschaffen und der von vielen neuen rechten Politikern bewunderte Viktor Orbán versucht, die Pressefreiheit einzuschränken. ... Dem Ruf nach Demokratie verwandt ist der Kampf für Freiheit, den die Neue Rechte angeblich führt. In den 1960er Jahren musste die Freiheit gegen konservative und autoritäre Eliten erobert werden. Die neue Rechte führt ihren Protest mit Blick auf die Europäische Union, den Islam und linke Institutionen.“
Gegensätze waren damals klarer als heute
Die anhaltende Begeisterung für die Ereignisse von 1968 ist insbesondere auf den historischen Kontext zurückzuführen, glaubt der Chefredakteur von Politis, Denis Sieffert:
„Dass der Mai 1968 weiterhin eine gewisse Faszination auf die Gemüter ausübt, liegt daran, dass es damals klare Antagonismen gab, zu denen man sich klar positionieren konnte. ... Im Vietnamkrieg Partei zu ergreifen, war leichter, als heute Stellung zum Chaos in Syrien zu beziehen. Mauerfall, Internet, Globalisierung, Klimawandel und die hysterische Habgier der Finanzwelt haben unser Weltbild zerrüttet und die Rahmenbedingungen der Kämpfe verändert.“
Spaniens Feminismus stark wie nie
50 Jahre nach 1968 ist Spaniens Frauenbewegung stärker denn je, freut sich El País:
„Spaniens Feminismus ist generationenübergreifend. Dass junge Frauen abends alleine nach Hause gehen können, demonstriert ihre Freiheit. Frauen mittleren Alters demonstrieren für Lohn- und Chancengleichheit. Die Älteren beobachten das Geschehen mit einer Mischung aus Freude und Melancholie, denn es sind dieselben Plakate wie vor 40 Jahren. ... Die klassischen Akteure der Politik sollten den Moment als einen Hebel sehen. Gut funktionierende Institutionen sollten die Forderungen kanalisieren und ihnen nachkommen. ... Gerade jetzt, wo unsere Parteien vor lauter Taktiererei gelähmt sind, ist dieser gesellschaftliche Impuls eine Gelegenheit, um eine Politik zu machen, die für mehr als die Hälfte der Bevölkerung mehr Gerechtigkeit brächte.“
Die 68er sind immer noch unter uns
Die Akteure von 1968 kämpfen auch heute einen Kampf, meint János Rácz vom regierungsnahen historischen Forschungsinstitut Veritas in Magyar Hírlap:
„Was ist das Erbe von 1968? Die revoltierenden Studierenden, die neue Linke, der Liberalismus, die Kritik an der Konsumgesellschaft, die kulturelle und sexuelle Revolution? Vielleicht all das, vielleicht etwas Anderes. Wie auch immer wir diese Frage beantworten: 1968 war ohne Zweifel eine Herausforderung und es ist wichtig, die Ereignisse von damals zu kennen. Besonders, weil die Welt und Europa sich nach 1968 vollkommen verändert haben. Hinzu kommt, dass die Akteure von damals noch unter uns sind, nur sind sie jetzt Anhänger des Globalismus. Und wie schon 1968 stehen sie damit gegen den Konservatismus und die Traditionen - an einem anderen Ort, mit anderen Parolen.“
Proteste in Frankreich 2018 nur ein Abklatsch
In Frankreich berufen sich Gewerkschaften und Studenten in den seit Wochen anhaltenden Protesten auf den Mai 1968. Doch eine vergleichbare Bewegung gibt es heute nicht, meint der Deutschlandfunk:
„Die Gewerkschaften agieren als Konkurrenten und waren nicht mal am 1. Mai zu gemeinschaftlichen Kundgebungen in der Lage. ... Dass Hochschulfakultäten besetzt wurden, sorgte einige Zeit lang für spektakuläre Nachrichten, doch waren jeweils nur einige Hundert Studenten und Jugendliche beteiligt, ihre Forderungen blieben wolkig und wurden nicht öffentlich diskutiert. Als die Polizei die Hochschulen räumte, blieb das ohne jede Resonanz: Spätestens hier wurde sichtbar, dass derzeit - allen Behauptungen zum Trotz - nicht einmal ein matter Abglanz vom Geist der 68er-Revolte durch Frankreich weht.“