Kertsch-Krise: Gibt es einen Ausweg?
Im Konflikt um das Asowsche Meer ist bislang keine Lösung in Sicht. Mit der aktuellen ukrainischen Regierung könne es keinen Frieden geben, sagte Putin auf dem G20-Gipfel. Nach Einführung des Kriegsrechts in der Ukraine wurde ein Einreiseverbot für alle russischen Männer zwischen 16 und 60 Jahren verhängt. Journalisten diskutieren Ursachen des Konflikts und malen ein düsteres Zukunftsszenario.
Putin treiben mehrere Motive
Dass Russland die ukrainische Schiffe attackiert hat, basiert nach Ansicht von Evenimentul Zilei auf folgenden Überlegungen:
„Erstens: Putin fühlt sich isoliert und will wieder ernst genommen werden. Nicht umsonst jetten Putin und Premier Medwedew durch die Welt - ohne jedoch große außenpolitische Erfolge zu erzielen. Der zweite Grund sind die stark sinkenden Beliebtheitswerte. Putin hat im Zuge seiner Rentenreform 20 Prozent in den Umfragen verloren. Schlussendlich: Dass die Ukraine einen Passus in ihre Verfassung eingeführt hat, wonach die Integration in EU und Nato das Ziel ist, hat bei Putin riesigen Verdruss erzeugt. Und er wurde noch verdoppelt durch die Abspaltung der ukrainischen Kirche vom Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche. Dies war ein Schlag auf kultureller und spiritueller Ebene.“
Gefahr einer russischen Winteroffensive
Hintergrund des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine in der Bucht von Kertsch könnte der ukrainische Flottenstützpunkt am Asowschen Meer sein, meint der russische Militärexperte Pavel Felgenhauer in Postimees:
„Seit dem Sommer 2015 wurden in der Nato und im Pentagon unzählige Debatten darüber geführt, ob Russland eine Invasion plant, um die Krim über den Landweg anzuschließen. Es mag sein, dass nach der Errichtung der Krim-Brücke dieses Gedankenspiel nicht mehr aktuell ist. Deshalb ist es unklar, ob der Flottenstützpunkt in Berdjansk Moskau wirklich so erschreckt hat oder ob es Probleme mit der Brücke gibt, die erstmal geheim gehalten werden. Man kann nicht ausschließen, dass in naher Zukunft eine Winterinvasion beginnt, um die Ukraine endgültig vom Asowschen Meer zu verdrängen.“
Bald hasst man sich aus purer Gewohnheit
Kommentator Anton Orech von Echo Moskwy ist betrübt über die neue Eskalation im russisch-ukrainischen Konflikt:
„Alles begann mit der Krim. Es ging mit dem Donbass weiter und jetzt kann man schon nicht mehr aufhören. Zwei Nachbarn, zwei Brudervölker sind angelangt bei Krieg und gegenseitigem Hass. Diejenigen, die das alles angerichtet haben, sind nicht ewig. Historisch gesehen werden sie nicht so lange auf der politischen Bühne bleiben. ... Doch der Hass wird als Vermächtnis vom Großvater auf den Vater, vom Vater auf den Sohn übergeben werden. Sie werden sich hassen, nur weil ihre Vorfahren sich hassten. Weil es üblich ist, das Hassen. Nun sind wir also schon so weit gekommen, dass wir einander nicht mehr besuchen können. Dankeschön, dass man sich wenigstens noch nicht gegenseitig den Krieg erklärt hat.“
Ukraine stutzt sich selbst die Flügel
Die Ukraine wird noch lange an den Folgen der Verhängung des Kriegsrechts zu knabbern haben, meint der Parlamentsabgeordnete Serhij Leschtschenko in Nowoje Wremja:
„Es versetzt der Wirtschaft einen vernichtenden Schlag. Ich weiß, dass eines der größten skandinavischen IT-Unternehmen ihren Mitarbeitern verboten hat, Kiew zu besuchen. Auf dem Währungsmarkt herrscht Panik. Der Markt für private Kredite, auf dem die Ukraine im vergangenen Monat Dollar-Kredite zu gerade noch 9,75 Prozent aufnehmen konnte, wird jetzt komplett für das Land geschlossen sein. Die Ukraine, die um jeden Investitionsdollar kämpft, hat sich selbst die Flügel gestutzt. ... Daher sind Wahlen nicht nur einfach notwendig, sie sind der einzige legitime Weg des Abgangs dieser Leute aus der Regierung.“
Nord Stream 2 sofort stoppen
Der Deutschlandfunk fordert ein klares Signal an Putin:
„Ein Kriegsschiff der Nato oder der USA im Schwarzen Meer wäre so ein Signal. 2008 beim Krieg in Georgien waren die USA nicht so zögerlich. Man sieht ja in Syrien, dass Russland die direkte Konfrontation mit den USA scheut. ... Noch klüger aber wäre es, endlich Nord Stream 2 zu stoppen, den zweiten Strang der Gaspipeline durch die Ostsee. Das nämlich würde ins Herz von Putins Machtclique treffen: die Oligarchen, das Staatsunternehmen Gazprom. ... Nord Stream 2 wird gebaut, um den Gastransit durch die Ukraine überflüssig zu machen. Für die Ukraine aber ist der Gastransit sicherheitsrelevant. Denn sollte Russland seine Aggression gegen das Nachbarland ausweiten, könnte die Ukraine den Gashahn zudrehen. Noch. Es ist das einzige Druckmittel, das die Ukraine gegenüber Russland besitzt.“
Verspätete US-Reaktion ist enttäuschend
Wieder einmal zeigt sich, wie weit die internationale Solidarität geht, meint Anders Aslund vom Atlantic Council in Nowoje Wremja:
„Estland, Lettland, Litauen und Polen - die besten Freunde der Ukraine in der Region - traten schnell mit einer scharfen Verurteilung der russischen Aggression auf. Die schnelle und analoge Erklärung der EU wurde ebenfalls zu einer angenehmen Überraschung, während die zurückhaltenderen Worte der Nato eher enttäuschten. ... Auffallender und besorgniserregender war, wie lange die USA brauchten, um gegen die russische Aggression zu protestieren. ... Der Kommentar des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, in dem er die russische Aggression als von beiden Seiten ausgehend bezeichnete, demonstriert seinen konstanten Unwillen, Putin und dessen Politik zu kritisieren.“
Ukraine hätte längst in die Nato gehört
Der Westen war in der Vergangenheit zu zögerlich und das rächt sich jetzt, schimpft der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Wenn die Nato 2008 nicht auf Drängen von Merkels Deutschland die Aufnahme der früheren Sowjetrepubliken wie der Republik Moldau, der Ukraine oder Georgien blockiert hätte, wäre die heutige Situation eine ganz andere. Es wäre eine Pufferzone zu Rumänien entstanden, die die osteuropäischen Demokratien beschützt hätte. Die durch die Annexion der Krim 2014 ausgelöste Krise, der Ausbruch eines Sezessionskrieges und ein neuer halb eingefrorener Konflikt in der Ostukraine hätten vermieden werden können. ... Doch Feigheit und eine westliche Versöhnungshaltung haben sich damals durchgesetzt.“
Der Herr im Kreml hat bekommen, was er wollte
Für Gazeta Polska Codziennie hat Russland den Konflikt bereits gewonnen:
„Die Blockade der Straße von Kertsch bedeutet, dass das Asowsche Meer zu einem Teil Russlands wird. Die dortigen ukrainischen Gebiete müssen absterben und fallen in die Hände Russlands. ... Der Herr im Kreml hat alles erreicht, was er bis dato wollte. Die Machtlosigkeit der Welt wurzelt im ethischen und intellektuellen Niedergang der europäischen Eliten und in der Entscheidung Deutschlands - des einzigen starken Landes Europas - für einen deutsch-russischen Gas-Deal. Bis dass der letzte Ukrainer stirbt.“
Trump muss klare Worte finden
Angesichts der Spannungen im Ukraine-Konflikt könnte Donald Trump ein Treffen mit Wladimir Putin beim G20-Gipfel platzen lassen. Für Hospodářské noviny wäre das ganz falsch:
„Trump sollte die angedachte Begegnung mit Putin in Buenos Aires nicht absagen. Er sollte im Gegenteil darauf bestehen. Und auch auf einer gemeinsamen Pressekonferenz. Hier sollte er endlich kraft seines Amtes seinen Widerpart Putin und dessen Politik beim Namen nennen. … Als Bedrohung, die nicht nur Russlands Nachbarn betrifft, sondern den Westen insgesamt untergräbt. Jede andere Reaktion wäre nur wieder ein Gewinn Putins auf Kosten Trumps.“
Diese Eskalation war beabsichtigt
Der Konflikt war vom ukrainischen Präsidenten bewusst provoziert, ist sich die Historikerin Nina Djulgerowa in Trud sicher:
„Russland hat schon früher ukrainische Schiffe daran gehindert, die Meerenge von Kertsch zu durchqueren. Erst im Juni, dann im September und nun zum dritten Mal. Während die ersten zwei Versuche ohne Konsequenzen blieben, sah Poroschenko diesmal - mit Blick auf die Wahlen im März 2019 und das schwindende Vertrauen des Westens in ihn - die Chance, durch extreme Provokationen seine gefallenen Umfragewerte zu verbessern. … Ich glaube, dass er sich diese Vorgehensweise von seinem türkischen Kollegen Erdoğan abgeschaut hat, der nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15./ 16. Juli 2016 das Kriegsrecht ausrief.“
Bitte nicht schon wieder Appeasement!
Der Westen darf Russlands Aggression nicht tatenlos zusehen, mahnt Sme unter Hinweis auf die Appeasement-Politik gegenüber Hitler-Deutschland während der Sudetenkrise:
„Die Verteidiger Putins sagen, die Ukraine trage selbst an allem Schuld. Sie solle aufhören, 'zu provozieren' und besser auf ihre territoriale Integrität verzichten. Das bedeutet, dass der Kreml machen kann, was er will. ... Diese Haltung folgt genau der beschämenden Logik des Münchener Abkommens von 1938, als London und Paris - um Zeit zu gewinnen - Hitler 'logische und legitime Ansprüche' in Mitteleuropa zubilligten. Sie schickten keine Panzer in die Tschechoslowakei, sie taten nichts. Bis heute stehen Daladier und Chamberlain als Symbol für alibistische Feigheit, politische Blindheit und Naivität mit tragischen Konsequenzen.“
Wir brauchen eine KSZE 2.0
Die Bemühungen um eine Lösung des Konflikts dürfen sich nicht auf die territorialen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine beschränken, rät Le Figaro:
„Kriege beginnen oft als territoriale Streitigkeiten, die den Kampfgegnern später unbedeutend erscheinen. Es muss daher dringend eine neue Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) einberufen werden, auf der sämtliche Streitthemen behandelt werden: die Erweiterung der Nato, Cyberkriege, die Einhaltung der Grenzen, Militärmanöver. Alle wissen, wie ein möglicher Deal aussehen könnte: Washington verzichtet auf die Nato-Erweiterung und Moskau auf seine langjährige Doktrin der 'Einflusssphäre'. Wann dieser Deal ausgehandelt wird und wie viele Opfer bis dahin nötig sein werden, ist jedoch nicht absehbar.“
Was Russland richtig wehtun würde
Die Frankfurter Rundschau schlägt eine Maßnahme vor, die Russland unter Druck setzt und Europa gleichzeitig nützt:
„Seit Jahren lockt Russland Spezialisten aller Art aus dem ehemaligen Sowjetgebiet zu sich, weil es selbst nicht genügend Fachkräfte hat. Das ärgert die ehemaligen Brüderländer. Was, wenn Europa diese Karte nun gegenüber Russland ausspielte? Es wäre was Neues, und es könnte sich lohnen: Ein Drittel aller jungen Russen möchte auswandern. Vielleicht könnte Europa also nicht nur die Kriegstreiber strafen, sondern auch jene, die in Frieden leben wollen und weltoffen sind, belohnen. Ganz abgesehen davon, dass Europa davon selbst profitieren würde.“
Ein Schiedsgericht könnte vermitteln
Der direkte Zusammenstoß russischer und ukrainischer Militärs in der Straße von Kertsch muss nicht in einen echten Krieg ausarten, konstatiert Wedomosti:
„Der aktuelle casus belli auf See ist nur die weitere Episode eines Konflikts, der im März 2014 begann - und es erstaunt, dass sie nicht früher geschah. Die Kaperung von Schiffen ohne menschliche Opfer sieht aber vorerst nicht nach dem Beginn eines vollumfänglichen Krieges aus, auch weil dies sogar für Poroschenko ein zu hoher Preis der Wiederwahl wäre. Wenn die ukrainischen Seeleute und Schiffe schnell wieder nach Hause zurückkehren, kann der Zwischenfall abgehakt werden, auch wenn die Möglichkeit weiterer ähnlicher Konfrontationen bleibt. Die Schaffung einer ad-hoc-Sondergruppe eines internationalen Schiedsgerichtes wäre die optimale Lösung, um das Problem auf friedlichem Weg zu lösen.“