Corona: Hat sich Europa zu früh entspannt?
Angesichts erneut steigender Covid-19-Zahlen in vielen Ländern wird auch die Kritik an Europas Pandemie-Management wieder lauter. Auf allen Ebenen lockerten Politiker in den letzten zwei Monaten die Eindämmungsmaßnahmen: Internationale Urlaubsreisen wurden ermöglicht, in einigen Staaten auch größere Tanzveranstaltungen. Kommentatoren fürchten nun die Quittung.
EU hat nichts gelernt
Ernüchtert registriert Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope, wie hilflos die EU-Kommission auf die steigenden Covid-19-Zahlen reagiert:
„Schon beim Anstieg der Zahlen in Deutschland, Luxemburg und Spanien hat sie geschwiegen. Nun, da die Krise sozusagen vor der Haustür in Brüssel zurückkehrt, hat die EU-Behörde keinen Plan. Nicht einmal eine EU-weite Testreihe wurde aufgelegt. Und was macht der deutsche EU-Vorsitz? Er tut so, als ginge ihn all das nichts an. Für Luxemburg wurde eine nationale Reisewarnung ausgesprochen, für Belgien bisher nicht, und EU-weit koordiniert ist das deutsche Vorgehen auch nicht. Gesundheitsminister Spahn denkt vor allem an deutsche Touristen aus 'Risikogebieten'. An Belgien und Luxemburg denkt er offenbar nicht. Auch eine Krisensitzung der EU-Gesundheitsminister hat er bisher noch nicht einberufen. All das lässt nichts Gutes für den Herbst ahnen.“
Partys gehören verboten
Bei einem mehrtägigen Party-Event in einem maltesischen Hotel haben sich am vergangenen Wochenende mehrere Menschen angesteckt. Dass derartige Events stattfinden durften, empört The Malta Independent:
„Unternehmen, die solche Veranstaltungen organisierten, sollten sich dafür schämen, weil sie ihre eigenen Interessen über die anderer Personen gestellt haben, die in Malta leben. Doch auch die Gesundheitsbehörden und die Regierung sind verantwortlich zu machen, weil sie ein derartiges Event überhaupt stattfinden ließen. ... Auf solchen Veranstaltungen trinken die Menschen, sie tanzen in unmittelbarer Nähe zu anderen und sind feuchtfröhlich. Sie kümmern sich nicht darum, einen Zwei-Meter-Abstand zwischen sich und der nächsten Person einzuhalten.“
Clubs zu schließen, wäre noch gefährlicher
In der Schweiz steht die Entscheidung, dass Clubs seit einigen Wochen für bis zu 300 Personen öffnen dürfen, in der Kritik. Der Tages-Anzeiger findet das nach wie vor richtig:
„Schaut man auf die Zahlen der tatsächlich in Clubs angesteckten Personen, dann erscheinen diese bisher weniger alarmierend als die Schlagzeilen, die sie generieren. ... Gut möglich, dass der Druck auf das Veranstaltungswesen so gross wird, dass man das Experiment bald beendet. Falls dem so wäre, wären das nicht nur katastrophale Neuigkeiten für die Eventbranche – eine Wiederöffnung bliebe wohl auf lange Sicht nicht opportun. Wo und unter welchen Schutzvorkehrungen sich die Jugend danach vergnügen und austauschen wird, will sich niemand ausmalen. Dass sie es tun wird, ist selbst in unsicheren Zeiten sicher.“
Mit Kanonen auf Spatzen
Belgien verschärft angesichts schnell steigender Infektionszahlen seine Gegenmaßnahmen. In Antwerpen gilt erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Ausgangssperre. Dass das Land so schweres Geschütz auffahren muss, hat es eigenen Versäumnissen zuzuschreiben, klagt De Tijd:
„Es wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Weil das feine Präzisionsinstrumentarium fehlt, um die Corona-Brandherde gezielt und effizient zu bekämpfen. Weil der Zustand schon zu weit aus dem Ruder gelaufen ist. Weil das System mit Tests und dem Nachverfolgen von Kontakten, die Waffen gegen eine zweite Infektions-Welle, nicht funktionieren. ... Aber nach der zweiten Welle kommen möglicherweise eine dritte und eine vierte. ... Wir kriegen also eine neue Chance. Lasst uns dann verdammt noch mal dafür sorgen, dass wir die Instrumente haben, um lokale Virusausbrüche schnell und gezielt zu bekämpfen.“
Wehe, wenn sie kommen
Wegen einer EU-Reisewarnung reisen bisher nur wenige Sommerurlauber in die Türkei. Wenn ab nächste Woche russische Touristen kommen dürfen, birgt das große Risiken, findet Kolumnist Emin Çölaşan in Sözcü:
„Alle Hoffnungen ruhen nun auf den ausländischen Urlaubern. ... Doch wir sollten nicht vergessen, dass viele Länder, auch die Türkei, ihre Fallzahlen geheimhalten. Das führt dazu, dass niemand mehr die neuen Fall- und Opferzahlen glaubt, auch in Russland und der Ukraine. ... Ich will Ihnen erklären, was vor allem im August passieren wird, wenn die Ausländer beginnen, ins Land zu kommen. Die Epidemiekurve wird signifikant ansteigen. Egal, wie viele Maßnahmen Sie am Flughafen oder an den Eingangstüren der Tourismusanlagen ergreifen, das wird die Realität nicht ändern. Die Folgen werden wir erleben, den Preis werden wir zahlen.“
Lokale Hotspots sind nicht zu verhindern
Im österreichischen Urlaubsort St. Wolfgang haben sich in Hotels und Lokalen mehr als 60 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die Politik sollte dennoch Ruhe bewahren, findet Die Presse:
„[Z]u verhindern sind solche Cluster angesichts der hergestellten fragilen Balance zwischen dem Schutz der Gesundheit der Menschen und dem Schutz ihrer wirtschaftlichen Interessen ohnehin nicht. ... Als Reaktion auf die Infektionen in St. Wolfgang das Kind mit dem Bade auszuschütten und Hotels, Bars sowie Lokale zu schließen ... würde daher nicht nur dem heimischen Sommertourismus einen schweren Dämpfer versetzen, sondern auch das Herzstück der Containment-Strategie des Krisenstabs ad absurdum führen. ... Daher darf und wird es auch nicht so weit kommen. Vor allem, weil die Kontaktverfolgung und Isolierung der Betroffenen ab der ersten nachgewiesenen Infektion sehr gut funktioniert hat.“
Pflichttests sind zumutbar
Deutschland will Reiserückkehrer aus Corona-Risikogebieten künftig dazu verpflichten, sich auf das Virus testen zu lassen. Der Berliner Zeitung geht das noch nicht weit genug:
„Die Familie aus Cottbus, die sich mit Corona infiziert hat, kam aus Mallorca, kein Risikogebiet. Es hilft nichts: Die Tests müssen für alle Flugreisenden verpflichtend sein, damit die Gesamtbevölkerung geschützt wird. Bisher wurden Pflichttests mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass es sich um einen Eingriff in die Privatsphäre handele. Doch die Verbreitung eines Virus ist nicht privat, wenn jeder Einzelne Infektionsketten auslösen und zu einem Superspreader werden kann. Der Test ist eine kleine Einschränkung, die als zumutbar gelten darf. An die Sicherheitskontrollen nach den Anschlägen vom 11. September haben sich die Reisenden schließlich auch gewöhnt.“
Jetzt kein Alarmismus
Chefredakteur Fabio Pontiggia ärgert sich in Corriere del Ticino über die Panikmache einiger Experten:
„Die Erzeugung von Angst bei den Menschen ist nicht der beste Weg, mit dieser Phase der Pandemie umzugehen. Nicht jeder reagiert auf alarmierende Aussagen von Experten in der gleichen Weise. Ein Teil der Bevölkerung ist extrem sensibel. Unsinnige Vorhersagen, die im Folgenden von den realen Daten nicht bestätigt werden, schmälern auch die Glaubwürdigkeit derjenigen, die sie machen. ... Vermutlich beabsichtigen sie damit, die Politiker unter Druck zu setzen, die verantwortlich sind (und nur sie sind das), Entscheidungen zu fällen, die unser tägliches Leben und unsere Freiheiten betreffen und bedingen. Freiheiten, die im März, April und Mai so stark eingeschränkt wurden, und die wir nur mit Mühe wieder zurückerlangt haben.“
Falsche Zurückhaltung
Die Niederlande lehnen eine umfassende Maskenpflicht bisher ab, der Mund-Nasen-Schutz muss nur in öffentlichen Verkehrsmitteln getragen werden. Angesichts steigender Fallzahlen fordert De Telegraaf nun aber schnelles Handeln:
„Für Experten wie auch die Länder um uns herum gibt es ausreichend Beweise für die schützende Wirkung von Mundmasken. Dennoch wartet die Regierung weiter den Rat [ihres eigenen Expertengremiums] ab und weist den Bürger auf seine eigene Verantwortlichkeit hin. Dieser Ansatz sieht immer mehr aus wie eine Selbstbezogenheit, die dramatische Folgen haben kann, wenn sich das Virus weiter verbreitet. Wichtiges Argument unserer Nachbarländer für das strengere Eingreifen ist, dass man einen starken Anstieg von Infektionen im Herbst verhindern will. Wer dem zuvorkommen will, muss gerade jetzt besonders aufpassen.“